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Alles für die Katz von Astrid Heuer

„Pantha Rhei ... alles fließt. Und trägt mich zu dir hin, wie Treibgut an den Strand."

Die Sirene

 

Ich bin kurz davor, von mir selbst in der dritten Person zu berichten. Dann hätte die ganze Geschichte mehr Klasse, mehr Niveau.

Heiner Maus öffnet die Tür, stellt die Tüten ab und verrammelt den Türspalt mit seinem Fuß, um zu verhindern, dass die fette, schwarze Katze entwischt. Obwohl Heiner Maus eigentlich nie damit rechnet, dass die Katze überhaupt nach draußen will. Es ist mit der Zeit einfach eine Art liebgewordenes und neckisches Spiel zwischen ihnen geworden. Ein Spiel, das Heiner Maus immer gewinnt. Die Katze nimmt ihre Niederlage wie ein Kater, streicht neugierig um die beiden Tüten herum und er schnurrt ihr zu: „Hab dir die Schlemmerlis mitgebracht, die Sorte, die du am liebsten magst.“ Die Katze maunzt einsichtig, schielt noch einmal zum Türspalt und trottet von dannen.

Ja, das hätte mehr Klasse, mehr Niveau.

 

„Wie lang müssen die Schlemmerlis noch mal kochen, bis sie gar sind?“, frage ich mich laut und kratze mich grübelnd am Kopf. Dann krame ich die Verpackung des Fertiggerichtes wieder aus dem Papiermüll hervor, um nachzusehen. Ich mag mir nämlich keine Zahlen merken, sie machen mir irgendwie Angst, sie haben so etwas Endgültiges, Unabdingbares an sich. Wenn Worte Bilder sind, dann sind Zahlen ein Bilderrahmen, die verändern sich nicht, die bleiben wie sie sind. Darum kann ich Zahlen nicht leiden.

Die Mikrowelle klingelt, ich drücke auf den Knopf, greife nach der Schale mit den dampfenden Schlemmerlis, rieche daran und kippe sie in den Napf der Katze. Nur, die Katze kommt nicht, das ist so eine Art Pawlowscher Reflex - aber umgekehrt. Man könnte ja erwarten, weil sie natürlich weiß, dass es jetzt gleich Essen gibt, kommt sie freudig angelaufen, aber „Nein!“. Sie liegt auf der Fensterbank, hat die Augen halb geschlossen und glotzt mich an, wie ich dumm da stehe mit dem Napf in der Hand, und das Zeug duftet schon, leicht nach Wein, nur nicht so stark und intensiv. Die Katze gähnt, das ist ein Zeichen von Sympathie, glaube ich. Einmal hab ich aus ihrem Napf gegessen, doch das ist schon ewig her, nur um zu sehen, was dann passiert und wie sie darauf reagiert. Hat allerdings auch nicht viel gebracht. Es ist halt nur eine Katze.

Ich stelle den gefüllten Napf sachte und behutsam auf den Boden, damit nichts verschüttet wird. Die Katze frisst nämlich erst, wenn ich wieder weg bin. Sie mag keine Gesellschaft beim Essen. Bevor ich zu meiner Arbeit zurückgehe, schaue ich verstohlen über meine Schulter, aber nicht auf den Boden, denn das mag sie ebenso wenig, ich schaue über meine Schulter auf die Uhr, die ein bisschen vorgeht, und ich weiß, es ist an der Zeit aufzubrechen. Ich könnte die Uhr natürlich pünktlich stellen, aber wozu? Die im Büro geht ja richtig und auf die Minute genau.

 

Wahrscheinlich wäre es jetzt besser, wenn ich während der Arbeit ein Er wäre und kein Ich. So neben mir stünde, und mir dabei zusähe, wie ich Zahlen anstarre und Sätze sage und Dinge tippe, immer die gleichen. Ich könnte neben mir stehen und mir in meinen Gedanken ausmalen, wie die Katze frisst, wie sie ihre Pfote hineintaucht oder vielleicht schlurft sie ja noch mal zurück?! Vom Napf weg, nimmt dann Anlauf und rast – ihr Bauch schleift über den Boden – rast auf den Napf zu und plumpst hinein, nimmt ein Bad im gefundenen Fressen. Und ich stehe daneben, falte die Hände und strahle wie ein Vater, dessen Kind die ersten Schritte versucht und jauchze: „Gut gemacht“ oder „Du bist die beste Katze auf der ganzen Welt“, bevor ich die Sauerei wegwische, aber das geht ja leicht, ist Parkett. Wahrscheinlich ist sie deshalb böse auf mich, Krallen und Parkett – da wäre ich auch böse.

Im Schlafzimmer liegt Teppich aus, aber da darf sie nicht hinein. Es muss schließlich auch Grenzen geben, ob sie es versteht oder nicht. Ich bin der Mensch und sie ist die Katze. Ich füttere und versorge sie, also habe ich das Sagen. In meinem Job ist das anders, da haben Zahlen und das Programm das Sagen! Und mein Job geht so: Ich hocke mich an den Rechner und das Programm verbindet mich. Unten auf dem Bildschirm jagen Zahlen durch, Telefonnummern, man wählt für mich, man verbindet mich und ich muss dann nur noch sprechen. Weil telefonische Ansagen nichts bringen. Wirklich nicht, die Leute legen auf, wenn sie so eine Computerstimme vom Band hören, dann wissen sie, jetzt ist was faul, da gibt es keine Hemmschwelle um aufzulegen, gar keine. Man kann die Gefühle einer Maschine nicht verletzen, das geht nicht, aber meine ...

Wenn ich jemanden anrufe und ihm sage, ich verkaufe Wein. Das hat Klasse und Niveau, natürlich sage ich nicht einfach „verkaufe“, ich muss erst mal eine Basis schaffen, sozusagen, aber ich bin da auch gerade und direkt, ich sage meinen Namen und die Firma, für die ich arbeite, da habe ich Anstand und eine gewisse Ethik.

Vielleicht sage ich die Namen nicht immer deutlich, vielleicht nuschle ich hier und da ein kleines bisschen und wenn sie fragen: „Wie bitte?“, dann sage ich vielleicht was anderes. Weil ich ja irgendwie das Gespräch anfangen muss, um eine Basis zu schaffen, eine Grundlage und wenn jemand einfach auflegt, weil er sofort kapiert, wer dran ist, wäre das schlecht fürs Geschäft, für die ganz Geschichte.

Also, mein Job geht so: Das Programm verbindet mich mit Menschen, ich rede mit ihnen für ein paar Minuten und notiere dann: Kein Interesse, Interesse, Bestellung.

Kein Interesse bedeutet: wir streichen die Angerufenen für ein halbes Jahr von der Liste. Also nicht „wir“, sondern „man“, das Programm. Bei Interesse rufen wir sie in regelmäßigen Abständen an und schicken ihnen einen Katalog und all solche Sachen und bei Bestellung, na ja, das macht alles das Programm. Ich muss nur ein paar Felder ausfüllen und die passenden Kästchen anklicken.

So also geht mein Job und er ist eine wahre Kunst, die Stimme ist wichtig, die Stimmebene, warm, weich und voll muss sie klingen, wie Schlemmerlis, wie schmeichelndes Katzenfell. Ich mache mir da auch keine großen Illusionen, ich bin ein Störfaktor, ein Störenfried. Deshalb die Ethik. Wenn im Hintergrund ein Kind brüllt, ein Baby schreit, dann lege ich auf. Sofort! Ich hab da mal von jemandem gehört, der so gut war, dass sie ihn „die Sirene“ nannten. Er hat Reisen verkauft, das ist natürlich einfacher.

„Die Sirene“ hat also mal, programmgesteuert, bei einer zufällig ausgewählten Kundin angerufen, einer jungen Frau, vielleicht zwanzig, einundzwanzig Jahre alt, gerade erst durch lustvollen Leichtsinn frischgebackene Mutter geworden, eben den Kopf selbst noch voller Zukunft gehabt und jetzt Windeln voller Babykacke und Nächte voller Geschrei. Und da fängt „die Sirene“ an zu säuseln, zu singen und erzählt von Palmenstränden und von der Sonne und von Treibgut und von Sand.

Das war die Spezialität der Sirene: Treibgut und Sand. Der helle Sand, der warme, von der Sonne aufgeheizt, mit den Zehen darin wühlen und dann ein Stück weiter runter, der dunkle Sand, den das Meer küsst und wieder verlässt, wie eine weiche, flauschige Decke. Ist natürlich was Sinnliches, was Sexuelles, was Treibendes, was Fließendes. Ebbe und Flut. Aber das hat „die Sirene“ nicht gesagt, nicht mit Worten, nur mit der Stimme.

„Die Sirene“ vernimmt also im Hintergrund ein Baby schreien, hat aber die Reise so gut wie verkauft, die Frau hört ihm verzaubert und verträumt zu, ist Treibgut in seiner Stimme und hat wahrscheinlich die Augen geschlossen, riecht Martinique, Jamaika oder die Dominikanische Republik, irgendwas, was sie mal in einen dieser seicht verklärten Bacardi-Werbungen gesehen hat, also „die Sirene“ hat natürlich nicht gewusst, dass das Kind vom Wickeltisch gefallen ist, Schädelfraktur.

Aber tja, also deshalb höre ich auf, wenn ich im Hintergrund ein Baby brüllen oder Kinder schreien höre. Ich bin allerdings auch nicht so gut wie „die Sirene“ damals war, aber er hatte es auch viel leichter. Hat ja Reisen verkauft und keinen Wein. Mit Wein ist es ungleich schwerer, wer weiß schon, wie herb schmeckt oder zart oder lieblich. Halb-trocken, wer möchte denn was Halbes haben? Oder nussig? Da denken die Leute gleich, ich soll zwanzig Euro für drei Flaschen bezahlen, die dann so schmecken wie die sechzig Cent Erdnuss-Dose vom Aldi. Nein, nein, nein.

Ich rede von Explosionen, von Küssen und Festen. Wein ist Poesie, in Flaschen gefüllt. Beim Wein muss die Zunge auf Stelzen gehen. Geschmacksknospen ist das beste Wort, ich danke Gott dafür. Sie explodieren, werden liebkost und geküsst. Der Wein fließt, entfaltet sich, die Sonne hat die Trauben aufgeladen bis zum Bersten, man weiß ja, wie gut die Sonne ist, und auch der Regen, man schmeckt ihn, die Blitze, ja, das kann man alles schmecken.

Und man muss dazu nichts tun, es ist nichts für Kenner, küssen doch auch nicht, jeder kann Wein trinken und es erleben. Will man wirklich sterben mit Geschmacksknospen, die noch nie explodiert sind? Wie eine vertrocknete Jungfrau ohne Gnaden? Wenn man dann irgendwann im Himmel steht an Petrus Tor, will man da wirklich sagen: Ach, Wein, den hab ich mir nie gegönnt. Der war mir immer zu erlesen, zu exquisit. Will man es wirklich am Tag des Jüngsten Gerichtes bereuen, nicht ein einziges Mal erlesen und exquisit gewesen zu sein, ein wenig egoistisch nur und dekadent. Genießen ist ja irgendwie auch Befriedigung und Macht, sich zu verwöhnen und zu belohnen. Wer genießen kann, trinkt schließlich keinen Wein mehr, sondern kostet Geheimnisse. Und wie günstig, fast geschenkt. Ist es das nicht wert, ein paar Stunden zu arbeiten für einen ganzen Abend voller Genüsse und Geheimnisse? Dabei steigt der Wein einem ins Gehirn, macht es sinnig, schlau und erfinderisch, voll von feurigen und schönen Bildern. Ich trinke übrigens selbst keinen Tropfen, wahrscheinlich bin ich deshalb nicht so gut wie „die Sirene“. Aber ich weiß nicht, ob „die Sirene“ gerne verreist ist.

 

Das Programm begrüßt mich, ich klicke auf „Okay“ und Zahlen jagen unten auf dem Bildschirm durch, Telefonnummern werden gewählt. Irgendjemand hebt ab. Es ist eine Frau. Und ich fange an zu reden, zu erzählen ...

Es gibt da eine Geschichte über mich, und wenn ich so gut wäre wie „die Sirene“, dann würde man sie erzählen, hinter vorgehaltener Hand. Man würde mir einen Spitznamen geben und bei den Schulungsseminaren über mich tuscheln. Da war so ein Typ, der konnte sich keine Zahlen merken, würden sie sagen. Dabei stimmt das gar nicht, ich kann mir Zahlen merken, ich mag sie nur nicht.

Ich weiß nicht, ob das ihm passiert ist oder mir. Er oder ich. Dem Typen mit der dicken, schwarzen Katze halt, der hat sich mal verliebt, am Telefon. Natürlich albern, in eine Stimme, die wie Katzenfell war, die explodierte, die Knospe. Er hat eine Stunde mit ihr geredet, einfach so, nicht über Wein, über alles und da hat er sich verliebt. Er weiß heute gar nicht mehr, über was er alles gesprochen hat. Wirklich nicht. Die Stunde, die er mit ihr gesprochen hat, ist jedes Mal anders, wenn er an sie zurückdenkt. Er hat in diese Stunde alle Themen gepackt, die es gibt. Im Nachhinein, oh ja, er hat diese Stunde tausendmal erlebt und immer war sie anders. Aber an was er dabei nicht mehr gedacht hat: Nach einer Stunde legt das Programm automatisch auf. Aus Kostengründen, weil wer nach einer Stunde noch keinen Wein bestellt hat, der bestellt ihn auch nach zweien nicht. Nach einer Stunde legt das Programm einfach auf. Ohne Warnung!

Er weiß nicht mehr, über was sie gesprochen haben, als das Programm aufgelegt hat. Wahrscheinlich nicht über Wein, schon lange nicht mehr, vielleicht über fließende Träume und Treibgut oder Meer und schwarzen Sand. Das Programm legt auf, gnadenlos, einfach so und die Zahlen blinken noch, die Telefonnummer, sie blinkt noch und er dreht sich um und sucht einen Stift und jetzt erzählen sie natürlich, die Katze hätte auf dem Stift gelegen, die fette, schwarze Katze, die er damals noch ins Büro mitnehmen durfte, hätte auf dem Stift gelegen und er wäre ganz panisch gewesen und völlig hektisch und er hätte geschwitzt und geweint und auf die Zahlen gestarrt und an der Katze gezerrt und hätte die Zahlen gebrüllt, um sie sich zu merken, aber das stimmt gar nicht, ich habe gar nichts gemacht, ich weiß gar nicht mehr, was ich gemacht habe, irgendwas hab ich bestimmt gemacht und die Katze hatte damit nichts zu tun. Gar nichts und ich kann mir Zahlen merken, ich mag sie nur nicht. Und eigentlich ist es gut so.

Jeden Tag denke ich, hoffe ich, das Programm wählt ihre Nummer wieder aus. Ich hab schon mit so vielen gesprochen, mit denen ich schon mal gesprochen habe. Also das wiederholt sich alles. Genauso wie der Ventilator in meinem Büro seine Runden zieht. Eine nach der anderen. Ein ewiger Kampf für die Kühlung. Bis er ausgeschaltet wird!

Müde schiele ich am Bildschirm vorbei, aus dem Fenster, auf den Fluss. „Pantha Rhei - alles fließt“, hat „die Sirene“ immer gesungen, wenn sie von Reisen sprach. Ja, alles fließt, keine Frage, deshalb gehen wir auch nie zweimal über den selben Fluss. Ich seufze. „Gleich hat der Arsch Kirmes“, hat mein Vater immer gesagt, und ich erinnere mich an die Worte des Poeten, der an der Kasse der „Raupe“ auf unserer Kirmes saß und verlauten ließ: „Die nächste Fahrt geht wieder rückwärts.“

Ich starre auf die unaufhaltbar vorwärts gehende Uhr, klicke wieder auf „Okay“ und Zahlen jagen unten auf dem Bildschirm durch, Telefonnummern werden gewählt. Irgendjemand hebt ab. Es ist eine Frau. Und ich fange an zu reden, zu erzählen. Denn um Wein zu verkaufen, das ist nicht wie mit Reisen, um Wein zu verkaufen, muss man auch immer ein bisschen melancholisch, ein bisschen wehmütig und niedergedrückt sein. Nur dann schwimmen die Worte wie Treibgut empor. Wirklich.

 

„Pantha Rhei - alles fließt ... und trägt mich mit sich fort. Und nicht einmal die Zeit kann sagen wohin.“

Die Sirene