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Ying und Yan von Andreas Renoldner

In drei Minuten fix und fertig, steht auf der Packung. Ich erkenne auf den ersten Blick, dass da gelogen wird. Drei Minuten werden längst verstrichen sein, da werde ich noch nicht einmal den Topf sauber gekriegt haben. Während ich versuche, den Topf unter dem anderen Geschirr herauszuziehen, was natürlich nicht geht, man kann einfach nicht aus einem Haufen aufeinander gestapelten Geschirrs ein Stück von ganz unten einfach so herausziehen, ist mir klar, dass der auf die Packung gedruckte Text, der die Angabe drei Minuten enthält, so etwas wie eine Science Fiction Kurzgeschichte sein muss. Nur wenn ich samt dem Topf durch ein Wurmloch krieche, um eine Krümmung des Raumes abzukürzen und damit gleichzeitig auch eine Reise zurück in die Vergangenheit anzutreten, sind vielleicht nur drei Minuten vergangen, bis das Essen fix und fertig ist. Auch dreißig Minuten werden vermutlich noch zu wenig sein, sehe ich, als ich den Drecksgeschirrhaufen abgebaut habe und mit dem von ganz unten heraufgearbeiteten Topf in meiner Hand dastehe, Nirosta mit aufgeschweißten Boden für Elektroherde, kein billiges, abgeschlagenes Email, aber trotzdem angebrannt. Ehrlich gesagt: Eine Schicht Kohle bedeckt den Boden des Topfes. Schmeckt vermutlich besonders ekelig, weil sie von Reis stammt.

Jetzt packt mich die Erinnerung und eine Zeitreise findet statt, die leider überhaupt nichts mit Science Fiction, sondern ausschließlich mit Lebenswirklichkeit zu tun hat, die leider ausschließlich meine Lebenswirklichkeit ist. Die Kohle stammt von diesem Reis, Charismati, oder wie der heißt, voller Ying und Yan und ein wenig Yasmin und vermutlich heilig wie eine ganze Kuh. Warum diese Buddhisten mit den Ypsilonen nur so um sich werfen, vor allem dieser Bayhrawandi, oder was weiß ich wie der heißt, der mit dem Ashram, das angeblich gerade der letzte Schrei ist. Keine Ahnung, was sie dort mit unseren Frauen machen, jedenfalls kommen sie vollkommen verändert zurück. Kochen nur mehr Charismatireis. Summen Mantras und räuchern ihre Zimmer aus. Binden sich rote Tücher um den Bauch. Haben nichts anderes mehr im Sinn als Chakren und deren Energie.

Das Vokabular samt der Ypsilone ist mir genau so geläufig wie die Märchen, die sie nach ihrer Rückkehr erzählt hat. Ich habe mir jeden Abend anhören müssen, dass Bayhrawandi am Morgen ins Freie tritt und sogar die Vögel kommen geflogen, wenn er predigt, oder was weiß ich, was der redet. Dass Bayhrawandi einmal einen goldenen Ring hat materialisieren lassen. Dass Bayhrawandi am Ufer des zugefrorenen Ganges sitzen kann, und obwohl er sich mit nassen Tüchern bedeckt, er wird nicht erfrieren. Dass Bayhrawandi seit Wochen nichts mehr gegessen hat, weil er sich in den himmlischen Energiefluss eingeklinkt hat wie ein O-Bus in die Oberleitung.

Außerdem heiße ich jetzt Inwananda, hat Angelika gesagt.

In der Heiratsurkunde steht aber Angelika, habe ich gesagt.

Du hast keinen Stein, sondern eine lebendige Frau geheiratet, hat Angelika gesagt.

Geistiges Fremdgehen ist auch Fremdgehen, habe ich gesagt, und damit hat der Anfang vom Ende seinen Lauf genommen. Vermutlich hat es ungefähr drei Minuten gedauert, bis Angelika aus der Küche gelaufen ist. Es hat teuflisch zu stinken begonnen, und ich habe anfangs tatsächlich gedacht, der Leibhaftige sei in Gestalt des Bayhrawandi durch die Küche gefahren, weshalb ich vermutlich weitere drei Minuten gebraucht habe, um den angekohlten Charismatireis als Stinker zu erkennen, doch da ist es bereits zu spät gewesen, um den Reis zu retten, weil in der wässrigen Reisstärkelösung haben sich kleine Vulkanröhren gebildet gehabt, in denen schwarzbraunes Reiskohlegas hochgeblubbert ist wie bei einem Schlammvulkan. So ungefähr muss auch die Lehre des Bayhrawandi im Gehirn meiner Frau Angelika verhängnisbringend geblubbert und die gesunden Gehirnteile verkohlt haben, habe ich gedacht und in den Topf gestarrt und viel zu lange habe ich darauf vergessen, den Topf vom rot leuchtenden Ceranfeld zu ziehen. Es werden wohl zum dritten Mal drei Minuten vergangen sein, als meine Frau schon mit einem Frühjahrsmantel bekleidet und mit einer vollgestopften Reisetasche in der Hand in die Küche gerast gekommen ist und den vulkanischen Reistopf vom rot leuchtenden Ceranfeld gezogen hat. Dann war sie draußen bei der Tür.

Damals habe ich Angelika für diese Leistung sogar noch bewundert. Wenn ich daran denke, wie lange es oft gedauert hat, bis wir für eine kleine Sonntagswanderung abmarschbereit gewesen sind. Schon das Wort abmarschbereit ist unerträglich, hat Angelika manchmal gesagt und noch länger gebraucht, hat vielleicht noch schnell die Wanderhose oder die Wanderbluse gebügelt, es ist einfach schrecklich gewesen mit ihrer unsinnigen Verzögerungstaktik aus purem Trotz gegen mich, und draußen hat sich der Blauhimmeltag schon wieder zu verziehen begonnen. Eigentlich ist es von Anfang an zum Davonrennen gewesen, habe ich gedacht, und neben mir hat der verkohlte Reis gestunken, und alles ist eine einzige Gemeinheit gewesen.

Die größte Gemeinheit am Davonrennen von Angelika Inwananda ist gewesen, dass ich schon lange habe davonrennen wollen. Statt mir ist sie davongerannt, und ich stehe jetzt hier wie ein Idiot mit dem verkohlten Reis neben mir.

Jetzt krieche ich wie ein Wurm durch das Loch zurück an den Heute genannten Punkt im Raumzeitgefüge und stehe mit dem am Boden von einer dicken Reiskohleschicht bedeckten Topf in der Hand da. In so einem Fall hilft vermutlich nur sprengen, muss ich denken, oder ein Schremmhammer mit Korundschneide. Und wo sie jetzt sein mag, weil mit einem sogenannten Frühjahrsmantel, einer Reisetasche und einem Rucksack, die Behältnisse haben tatsächlich alles grundlegend Nötige meiner Frau enthalten, Pass, Scheckkarte, Geburtsurkunde und alle anderen Dokumente, sogar den Meldezettel hat sie mitgenommen, kann sie doch nicht einfach nach Indien fliegen oder was weiß ich, wo dieses Ashram liegt. Für immer. Und dann hacke ich mit einem Buttermesser so lange auf den Reiskohlenkuchen ein, bis das Messer verbogen ist. Ich habe nicht gewusst, dass Reiskohle härter als Chromstahl ist. Hat vielleicht mit der heiligen Reisenergie zu tun. Oder es ist ein getarntes Messingmesser.

Am einfachsten wäre es, einen neuen Topf zu kaufen und den hier in den Mülleimer zu stecken oder in den nächsten Sammelbehälter für Altmetall vorne an der Ecke beim Park, wo sie nach ihrer Rückkehr von Bayhrawandi jeden Tag schon in der Morgenkühle irgendwelche Yogaübungen gemacht hat, weil die Konzentration zu Sonnenaufgang nur im Freien gelingen kann. Nur dort kann der Atem Gottes ungehindert in das Scheitelchakra eindringen, hat sie gesagt. Einmal ist sie während der Eindringungsphase auf einem Exkrement eines Stadthundes zu sitzen gekommen, was sie wegen der dicken Trainingshose erst im Badezimmer entdeckt hat. Ich schwöre, dass ich nicht gelacht habe, obwohl mir sehr zum Lachen gewesen ist.

Angeblich kann sich im Leben jedes Menschen ein sogenannter Punkt ergeben, von dem aus es nur mehr bergauf gehen kann. Du sitzt ganz schön tief in der Scheiße, hat Karl gesagt, zu dem ich damals gerast bin. Tiefer geht’s ja fast nicht mehr. Und dann hat er mir eine Flasche Bier geöffnet. Karl hat das Glück, dass er das mit dem Davonrennen schon hinter sich hat. Bei ihm hat zwar kein Bayhrawandi eine Rolle gespielt, Karl hat es ganz autonom und ohne buddhistische Energien geschafft, seine Hilde zu verjagen, letztlich aber ist auch sie davon und heute sagt Karl, dass das Wort Emanzipation für ihn nicht nur ein Reizwort geworden ist. Feminismus und Emanzipation sind für ihn Wortbomben, sagt Karl, und wenn diese Worte in ihn eindringen, würde er am liebsten wie eine ganz richtige Bombe hochgehen, am besten in einer Hausfrauenrunde in einem Kaffeehaus am Vormittag zum Beispiel. Gleichberechtigung ist nur dann schwer in Ordnung, wenn sie für alle gilt, sagt Karl. In Wirklichkeit aber hat bei ihm in der Wohnung ausschließlich Hilde bestimmt, wo es lang geht, und obwohl er am Sonntag sogar manchmal den Geschirrspüler ausgeräumt hat, wobei es sich bei der Hausarbeit schon alleine aus Tradition um reine Frauenarbeit handelt, hat Hilde bloß genörgelt. Nichts ist ihr recht gewesen. Jetzt lebt sie alleine. Das hat sie davon, hat Karl gesagt und gelacht, weil er wieder eine Freundin hat.

Weil seine Freundin nicht wie ein Topmodel aussieht, sondern eher wie ein Altbundeskanzler nach einer Wahlschlappe, kommt sie gar nicht auf die Idee, überzogene Ansprüche zu stellen, hat Karl gesagt und angefangen, mir gute Ratschläge bei der Auswahl von Frauen zu geben. Ich bin bald wieder zurück in die ehemals gemeinsame Wohnung gegangen, weil mir die Sache mit den Auswahlkriterien für Frauen mittleren Alters vollkommen gleichgültig gewesen ist. Da nehm ich doch lieber den Altbundeskanzler persönlich, habe ich zu Karl gesagt. Der hat wenigstens eine schöne Pension. Karl hat gelacht.

Angelika hat behauptet, dass ihr Davonrennen auch mit Karl und seinen Ratschlägen zu tun hat. Mann oder Weichei, hat er manchmal zu mir gesagt, wenn ich von einem Problem mit Angelika erzählt habe. Oft hat er mir auch die Frage gestellt: Warm - oder Kaltduscher? Die Schuld liegt nicht immer bei dir, auch wenn dir Angelika das immer einreden will. Manchmal müssen sich auch die anderen ein wenig bewegen, hat Karl gesagt. Auch in der kleinsten Gruppe muss ein wenig Führung her. Bei zwei Personen kann das immer nur einer sein.

Angelika hat Karl nicht ausstehen können, und weil einer, der mit so einem Menschen wie Karl befreundet ist, in seinem Inneren selber so ein Typ sein muss, sonst könnte er nicht mit so einem Menschen befreundet sein, ist ihr meine Freundschaft mit Karl von Anfang an zuwider gewesen. Ich bin mit Karl schon in der Sandkiste gesessen, und auch wenn ich gelegentlich nicht seiner Meinung bin, weiß ich doch, dass in ihm ein weicher Kern steckt. Aber das können sich Frauen einfach nicht vorstellen, wie so eine echte Männerfreundschaft funktioniert. Das hält wie Stahlbeton gegen alle Stürme des Lebens. Ein ganz deutliches Beispiel für eure Gemeinsamkeit, gegen das dir keine Ausrede helfen kann, ist euer Hobby, hat Angelika gesagt, siese verblödeten Science Fiction Hefte, die ihr immer tauscht. Blödsinnige Heldengeschichten aus dem All und Zeitreisen durch Wurmlöcher. Was für ein Schwachsinn!

Aber wir sind doch seit Jahrzehnten auf dem Laufenden, sagt Karl. Da kann man nicht einfach so aufhören damit.

Du redest wortwörtlich nach, was dein Karl sagt. Am besten, du ziehst für die vier Wochen zu ihm, hat Angelika vor ihrer ersten Abreise nach Indien gesagt. Mir scheint überhaupt, dass du und dein Karl in Wirklichkeit so etwas wie ein altes Ehepaar seid. Dann hat sie gelacht und ist nur mit dem Rucksack aus dem Haus gegangen, damit es mit dem Gewicht für Reisegepäck beim Flug keine Probleme gibt, und außerdem ist es in Indien immer sehr warm. Da genügt ein rotes Tuch um den Bauch.

Mein Blick fällt auf die Küchenuhr. Zuerst ist es drei vor drei gewesen. Jetzt ist es drei. Obwohl ich erst drei Minuten lang mit dem Buttermesser auf die Reiskohle einschlage, ist das Buttermesser verbogen und mein halbes Leben mit Angelika samt den wesentlichen Erlebnissen an mir vorbeizogen. Demnach hat sich zwischen uns nicht mehr ereignet, als in drei Minuten passt. Warum haben wir vor der Hochzeit nicht bemerkt, dass es zwangsläufig so kommen wird?

Alles, was ich hier in der Küche versuche, scheint schief zu laufen, fällt mir auf. Sollte ich nämlich den Topf tatsächlich sauber kriegen, muss ich Milch anwärmen und das Pulver mit einer Schneerute einrühren, aber ich habe ja keine Milch im Haus, bloß saure Milch in einer Tetrapackung, die sich vor lauter Gärgasen aufbläht und bald platzen wird. Es wir eine schreckliche Schweinerei im Kühlschrank sein. Jetzt höre ich mit dem Herumhacken auf und renne mit dem Topf und dem verbogenen Messer und der aufgeblähten Milchpackung in der Hand aus dem Haus. Das Davonrennen scheint sich in letzter Zeit als einzige Lösung für alles anzubieten. Einfach weg, weil das Vorhandene nicht lösbar ist, Reiskohle wie Angelika wie das ganze Leben ein unbezwingbarer Problemberg. Es gibt keine Erkenntnis und keinen Fortschritt. Auch Karl mit seinen praktischen Lösungen, wie er das nennt, nimm einfach irgendeine Frau, ganz egal, wie sie aussieht, weil es klappt ohnehin nicht, die haben alle einen Schaden, weshalb du sie nicht lange aushalten musst zum Glück, wird mir nicht weiterhelfen. Angelika wird nicht zurückkommen.

Irgendwie hat sie sogar Recht gehabt, als sie gesagt hat, ich dächte schon wie Karl, und am liebsten würde ich ihr das sagen, aber ich weiß ja nicht einmal, wo sie ist, und wo dieser Bayhrawandi wohnt, und was für eine Postleitzahl sein Ashram hat, und eigentlich habe ich auch nie etwas gegen den heiligen Reis gehabt, Reis ist schon in Ordnung, und von mir aus auch das Ying und der Yan, von mir aus, mir wäre wirklich alles egal, von mir aus würde ich sie sogar mit Inwananda ansprechen.

Am liebsten würde ich jetzt selber in den Alteisensammelbehälter hineinspringen und wie mein Kochtopf und das verbogene Buttermesser krachend aufschlagen. Einfach weg durch ein Wurmloch, ob in die Zukunft oder in die Vergangenheit ist mir vollkommen egal. Das ganze gekrümmte Raumzeitkontinuum ist mir vollkommen egal und Hunger habe ich auch noch immer, weil sonst überhaupt nichts Essbares im Haus ist, weil seit Tagen niemand mehr etwas eingekauft hat. Ich werde ich noch das blöde Kartoffelpürreepulver löffeln und husten und daran ersticken und irgendwie ist alles Scheiße.

Alles.