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Belohnung und Strafe von Ivonne Keller

Es ist herrlich und schrecklich zugleich, wenn man erschöpft und schweißgebadet ins Bett sinkt und die Augen zugleiten wie eine automatische Tür. Dann ist der erlösende Schlaf die Belohnung für das Vollbrachte; doch der Traum ist die Strafe. Denn gerade wenn die Erschöpfung und die Müdigkeit des Körpers einen förmlich in die Matratze hineinziehen, dann haben die Gedanken alle Möglichkeiten für ihre wilden Irrfahrten.

 

"Ich setze einen Fuß vor den anderen, strecke meine schlanken Fußspitzen gen Boden, konzentriere mich auf den exakten Abstand meiner Füße zueinander und spüre, wie ich langsam in den weichen Moosboden unter meinen Füßen einsinke. Zuerst die Knöchel, schließlich die Fesseln, das Schienbein, die Wade, bis zum Knie sinke ich ein und irgendwann fühlt es sich ein bisschen an wie Morast, aber angenehm warm; vielleicht fließt Wasser aus einer warmen Quelle hinein. Schließlich folgt auch der Rest meines wendigen Körpers und ich gleite wie ein schimmernder Fisch in die Tiefe. Wenn das Wasser an der glatten Haut entlang rauscht und man ein Gefühl der Schwerelosigkeit erfährt, das ist wie Tanzen.

Ich schwebe weiter und schwinge meine Arme, sie heben mich in die Lüfte, der Sonne entgegen, die mich auf ihren warmen Strahlen auf eine Wiese begleitet, auf der ich wie eine Feder niedersinke.  Der erdige Boden ist noch ein bisschen feucht, wahrscheinlich vom Tau, aber es kann auch sein, dass ich selbst es bin, die vor Nässe tropft. An meinen nackten Waden kleben die Grashalme, pressen ihr Muster hinein wie ein urzeitliches Fossil. Ich hebe den Kopf, neige meinen Blick der Wade entgegen und entdecke sogar das feine Muster eines niedergefallenen Blattes; die Verzweigungen der Blattmitte zeichnen sich überdeutlich auf der glatten Haut ab.

Die Vögel über mir zwitschern, ich lege meinen Kopf wieder auf der feuchtwarmen Wiese ab und starre in den blauen Himmel, so lange, bis meine Augen zu brennen beginnen und ich sie schmerzhaft schließen muss. Die Vögel zwitschern voller Lebenslust, so wie sie es nur im Frühling tun. Im Sommer zwitschern Vögel eigentlich gar nicht, glaube ich.

Während ich noch den Vögeln lausche, vernehme mit einem Mal ein fernes Rauschen, einen Zug vielleicht, der heranrast. Der Gesang der Vögel verwandelt sich urplötzlich in ein ohrenbetäubendes Getöse und ich will fliehen, ich habe Angst, will schreien - aber im Traum höre ich mich an wie Darth Vader, nicht menschlich. Und weil ich schließlich begreife, dass es nur ein Traum ist, der sein Spiel mit mir treibt, versuche ich, die Augen zu öffnen, bevor das Schreckliche bei mir ankommt. Aber sie wollen nicht. Das Grollen und Rauschen wird lauter, ich befinde mich mitten drin im Zentrum des Bösen.

„Mach‘ endlich die Augen auf!“, grollt Darth Vader in mir, doch kein Laut entweicht meinen Lippen."

 

Meine Augen denken nicht daran, meinem Befehl zu gehorchen, sie öffnen sich keinen Millimeter, so sehr ich es auch versuche, und auch der Rest meines Körpers verweigert jede Regung. Endlich, nach Minuten der Autosuggestion und Überredungskünste, kommt mein schwerfälliger Arm wie ein Fremdkörper unter der Bettdecke hervor, greift mit letzter Kraft zur Wand und meine  Finger tasten fieberhaft nach dem Schalter, während das Monster in meinem Zimmer nach diesem schlappen Arm schnappen will.

Nur das Licht der Lampe vertreibt den Schrecken; erst die Konturen der Möbel und die Sicht auf meine Aufzeichnungen beruhigen mein aufgebrachtes Herz. Wenige Sekunden später gleite ich wieder hinab in die fremden Welten und ich kann nur hoffen, dass das Licht die Geister fern hält.

 

Wenn ich dann morgens aufwache, so wie heute - das Nachtlicht brennt noch - ist meine Zunge wie ausgetrocknet. Sie liegt wie ein pelziger Fremdkörper in meinem Mund und ich schmatze, versuche ein wenig Speichel aus den Mundwinkeln zu erhaschen, doch es ist nur Trockenheit vorhanden. Die Lippen sind runzlig wie zerknittertes Papier, die Zunge klebt am Gaumen und lässt sich nur mit einem schnalzenden Geräusch lösen. Ich lechze nach einem Schluck Wasser, doch obwohl die Flasche Sprudel griffbereit neben dem Bett steht, bin ich unfähig, danach zu greifen.

Meist dreht sich kurz nach dem Erwachen der Schlüssel zu meiner Kammer und die Stein brüllt: „Aufstehen, Frau Kerner!“

Dann kommt sie herein, diese dürre Person, die ich mir um den kleinen Finger wickeln könnte. Ihr blondes Haar ist fast weiß, und so dünn wie das eines Kindes. Ihre Stimme aber ist die eines SS Mannes. Wenn ich mich nach ihrem Befehl nicht gleich rühre, zieht sie mir die Decke von den Beinen und rüttelt an meiner Schulter. So geht es zu, hier in meinem Gefängnis, Tag für Tag und Nacht für Nacht. Sie nennen es untereinander ‚Geschlossene‘, aber das ist mir kein Begriff.

Heute dreht sich der Schlüssel nicht und ich werfe einen kurzsichtigen Blick auf meine Armbanduhr. Meine Sicht ist verschwommen, ich greife nach meiner Brille und vergewissere mich, dass ich mich nicht verguckt habe. Es ist tatsächlich schon fünf Minuten über die Zeit, das gab es noch nie.

Vielleicht ist sie krank, die Stein, denke ich, wälze mich zur Seite und lange endlich nach der Wasserflasche, nehme den ersten erlösenden Schluck, den mein Mund jedoch noch nicht als Flüssigkeit wahrnehmen kann. Das Wasser perlt von meinen vertrockneten Schleimhäuten ab, als seien sie aus dem gleichen Stoff wie meine geblümte wasserabweisende Stofftischdecke, die ich früher auf meinem Balkontisch hatte. Das Wasser rinnt also in meine Kehle und der Mund brennt, die Schleimhäute schreien nach mehr, aber man muss schon ordentlich viel Wasser nachgießen, bis so eine Tischdecke schließlich aufgibt und sich ein dunkler Fleck abzeichnet. Selbst wenn ich eine ganze Flasche hinunterstürze, ist der Durst lange nicht gelöscht, aber ich kenne das schon, erst wenn ich eine Tasse Kaffee bekomme, vergeht das pelzige Gefühl. Kaffee mit viel Zucker und Milch, dazu ein oder zwei Croissants mit Butter und Marmelade und anschließend noch die Reste meiner Tischnachbarn, wenn keiner hinsieht. Einige der anderen hier halten nicht viel vom Essen, sie sind in einer Art Hungerstreik oder wie man es nennen mag. Diese Probleme teile ich nicht.

Mein trockner Mund macht mich langsam verrückt, Leute. Ich kratze mit den Fingernägeln an meiner Zunge, betrachte mir den Belag, der mich malträtiert und wische ihn dann an meiner Bettdecke ab. Vielleicht würde für den Moment auch heißes Wasser genügen, dann könnte ich damit den Mund ausspülen, aber das gibt es in meiner Kammer nicht, ‚Verletzungsgefahr‘, heißt es. Zum Duschen muss ich in eine andere Abteilung, in der Regel direkt nach dem Frühstück, man achtet sehr auf die Hygiene.

Ich stelle die Wasserflasche ab und richte mich auf. Dass die Stein nicht kommt, könnte mich freuen, hat sie mich doch gestern Abend am Anfertigen meiner Notizen auf der Wand hindern wollen, meinte, ich solle mich an die Regeln halten, dann könnten wir beide hier ein zufriedenes Leben haben. Wir beide! Sie hat es sich zur ‚lieben Angewohnheit‘ gemacht, mich abends noch einmal aufzusuchen, kurz vor Dienstschluss, um die Wand nach meinen Notizen abzusuchen, und seien sie auch noch so klein, und um mich auszuhorchen über die Aktivitäten meiner Verbündeten. Manchmal bringt sie mir eine süße Belohnung, ein Betthupferl, wie sie es nennt, wenn ich noch einen Moment mit ihr plaudere. Meist tue ich ihr den Gefallen, doch ich verstricke mich nicht in Wahrheiten. Natürlich plant immer irgendeiner einen Ausbruch oder was man so nennt, bei keinem hat es bisher geklappt, ich versuche es erst gar nicht. Meine Strafe ist vermutlich bald abgesessen und ich werde die Zeit einfach weiter mit meinen Aufzeichnungen verbringen. Außerdem ist das Essen schmackhaft, es gibt oft Hühnerfrikassee oder Kartoffelsuppe, manchmal auch ein Wiener Schnitzel, das über den Teller quillt. Nachtisch gibt es täglich - aber sie haben mich auf Diät gesetzt, auch ‚zum eigenen Besten‘. Ich erhalte nie mehr als zwei Portionen, und die auch nur, weil ich meine Lieferanten habe. Ich bin zu Unrecht hier, das ganz nebenbei, aber bevor ich mich noch einmal darüber beschwere und etwas zu Bruch geht, habe ich beschlossen, zu resignieren.

„Wenn man nicht mehr um Verbesserung kämpft, ist das Ergebnis die Resignation.“

Schlau gesagt, was? Bernhard fand es gar nicht schlau, er hat mich wie Abschaum betrachtet, als ich ihm das auf sein „Du bist so unglaublich fett geworden!“ gegen den Kopf schleuderte. Er meinte, ich hätte wohl ‚einen an der Klatsche‘, und wenn ich so weiter machte, dann würde er eben gehen.

Und er ging, der Hänfling.

 

Als ich mich vom Bett erhebe, beginnen die Dinge interessant zu werden. Ich trete auf etwas Weiches und ein erschrecktes Keuchen entweicht meinen Lippen, die noch immer pergamentartig aneinander reiben. Ich denke an eine Matratze oder ein großes Stück Fleisch, auf das ich getreten bin, mein Bein will  zurückweichen, muss aber zunächst der begonnenen Bewegung folgen – ich war schon mal schlanker.

Der Schreck setzt mein Herz aus. Ich komme ins Wanken und kralle mich an den Bettpfosten, überlege fieberhaft, was mir im Weg liegen könnte. Meine Brille ist nicht die beste, sie hat einen Sprung, aber die Blödmänner hier wollen sie mir nicht ersetzen, weil es heißt, ich brächte sie ohnehin wieder zu Bruch. Zögernd werfe ich über meinen Busen hinweg einen Blick auf die Sache unter mir und ich frage mich mit einem Mal, was die Stein da unten zu suchen hat. Normalerweise schläft sie nicht in meiner Kammer, schon gar nicht zu meinen Füßen, genauso wenig wie Bernhard, damals in unserer Wohnung. Wieso sie ihn da in der Küche vor dem Kühlschrank abgelegt hatten, das fragte ich mich monatelang, bis mir klar wurde, dass es Verdunklungstaktik war. Das haben mir meine Informanten erzählt, von denen darf keiner was wissen, aber selbst die Stein schnallt das nicht. Ich schätze, sie kann auch Hypnose, wahrscheinlich hat sie sich deshalb hier so entspannt hin drapiert. Liegt da, wie ein kleiner gepresster Schmetterling. Ihr feines langes Haar ist ganz wirr und knotig, als habe sie es tagelang nicht gekämmt. Nun ja, es ist ihre Sache, wie sie sich den Menschen präsentiert. Im Schlaf zeigt jeder sein wahres Gesicht.

Ich will noch eine Weile an meinen Aufzeichnungen arbeiten, dazu steige ich bedächtig über ihren dürren Körper hinweg, und greife auf meinem klapprigen Schreibtisch nach dem fast stumpfen Bleistift - das ist alles, was sie mir hier in die Finger geben, die Ignoranten.

 

Meine Güte, ich bemerke eben eine riesen Sauerei.

Meine Aufzeichnungen an der Wand sind zur Hälfte zerstört, mindestens! Fieberhaft fahnde ich mit dem Blick nach dem Übeltäter und plötzlich wird mir klar, wo er ist. Die Stein hält ihn in der Hand, oder besser gesagt, er liegt unter ihrer Hand, wie herausgefallen liegt der Radiergummi dort und wartet darauf, wieder von ihr missbraucht zu werden. Eine Sekunde lang kämpfe ich mit mir, überlege, ob ich mir die Mühe machen soll, ihn aufzuheben – doch ich entscheide mich aus logistischen Gründen dagegen.

Schnell wende ich mich meinen restlichen Aufzeichnungen zu, presse mein Ohr an die Wand, um meiner Kammernachbarin zu lauschen, die den nächsten Coup plant und schreibe panisch alles mit. Noch heute bin ich dankbar für den Kursus in Stenografie, den ich in den Achtzigern besuchen durfte. Die Stein hat mich informiert, dass diese Technik nicht mehr angewendet wird und ich schlug ihr hämisch vor, einen Spezialisten aufzusuchen, der ihr meine Aufzeichnungen übersetzt. Dazu hätte sie sie aber an der Wand lassen müssen und das wollte sie nicht.

Noch einmal schaue ich nach ihr, werde langsam ungeduldig, und frage mich, ob das vielleicht wieder eine neue Verdunklungstaktik ist von denen - da kommt mir eine ganz gute Idee.

Wenn die Stein hier am Boden liegt und schläft, was ist dann mit der Tür? Ich könnte mir glatt selbst einen Kaffee holen, ich weiß, wo die Küche ist. Vorsichtig nähere ich mich der Tür und  -  sie ist offen! Ich kann mein Glück kaum fassen, beeile mich, soweit es geht, schiebe meinen Körper hinaus und vernehme plötzlich Stimmen, die nicht aus meinem Kopf kommen. Eine Unterhaltung schwebt durch die Flure, so leise, als wollte sie sich vor mir verbergen. Ich lege den Kopf schräg, wie ein Reptil, das Beute ins Auge fasst. Eine Art Versammlung scheint abgehalten zu werden, jemand sagt: „Das hat sie aber noch nie gemacht, sie würde uns doch informieren.“

Das scheint mir eine interessante Truppe zu sein, die da zusammensteht. Wenn es um Informationen geht, werde ich hellhörig. Im Leben wird man über verschiedene Dinge informiert. Die Welt ist voller Informationen und damit sind meistens schlechte Neuigkeiten gemeint. Auch über Bernhards Tod hat man mich informiert, er sei erstickt, hieß es.

„Man könnte auch sagen, er ist erdrückt worden“, sagte die Stein und glotzte vielsagend, das feine Haar pendelte um ihren Kopf, die zarten Finger trommelten auf den Tisch zwischen uns. Dann hob sie den Zeigefinger. „Wenn ich Sie wäre, würde ich einmal darüber nachdenken, Frau Kerner.“

Wenn sie ich wäre, würde sie nicht hier vor meinem Bett liegen.

Man wird auch darüber informiert, dass es keine Schuhe in dieser Größe gibt, erst recht keine Hosen, aber ein Kleid ist ohnehin am Komfortabelsten, vor allem, wenn man zur Toilette muss. Man wird ebenfalls darüber informiert, dass man die Wohnung bis zum nächsten ersten zu verlassen hat, wie viele Kalorien zwei Zigeunerschnitzel mit Kroketten haben und darüber, dass sie die Tür abschließen, ‚zur eigenen Sicherheit‘.

Heute ist sie offen. Ich fühle mich unendlich frei, setze einen Fuß vor den anderen, gebe mir Mühe, nicht zu straucheln, konzentriere mich auf den exakten Abstand meiner nackten Fußspitze zur Ferse und begebe mich auf den Weg in die Küche.

 

Es wird Zeit, dass ich etwas in den Magen bekomme.