Home       Locations       Events       Unternehmen       Lesungen       Kontakt       Impressum       English      

Geschichten von der Kiste von Sara Grohning

Dienstagabend in einer Kneipe. Cooler Typ, groß, schlank und gutaussehend, quatscht sie kurz an und will kaum fünf Minuten später mit ihr knutschen. Leicht irritiert bemerkt sie das Fehlen von Konversa­tion, ziemlich erfrischend dagegen findet sie seine Spontanität. Erst denkt sie einige Minuten darüber nach, dann lässt sie es einfach sein und geht drauf ein. Sie denkt sich „wow, das fühlt sich gut an“, er sagt „wow, du küsst verdammt gut.“ Das Ende steht von Anfang an fest: Sie werden in der Kiste landen. Bis dahin gilt die Devise, die Zeit möglichst kurzweilig zu verbringen. Das Spiel ist eröffnet, sie wird es ihm nicht zu leicht machen. Jedenfalls kommt sie nicht sofort mit, als er sie zu sich nach Hause einlädt. Er lacht, weil sie ablehnt, und signalisiert ihr damit, das Spiel anzunehmen.

Irgendwie ist er neugierig, was sich unter dem Deckmantel dieser Frau verbirgt. Sie steckt voller Widersprüche, ist deutlich älter als sie aussieht, intelligenter als auf den ersten Blick zu vermuten und gibt sich zu allem Überfluss auch noch ziemlich unabhängig. Leider will sie keine Antwort zu den harten Faktengeben , wie Beruf, Familienstand und Kreise, in denen sie verkehrt; diese Fragen findet sie langweilig, wie sie sagt. Immerhin fragt er noch nach ihrer Telefonnummer und meldet sich prompt in derselben Nacht per Kurznachricht. Vielleicht gibt das ja zur Abwechslung mal eine positive Überraschung. Er wird also seine Karten bestmöglich aus­spielen und sie wird versuchen, ihn mit ihren kleinen Störfeuern aus sei­nem perfektionierten Konzept zu bringen. Ob er das öfter macht, oder war der Abend einfach nur von gegenseitiger Anziehung geprägt? Letztlich muss sie beim Spiel mit dem Feuer Acht geben, sich die Flügel nicht zu verbrennen und eine Bruchlandung hinzulegen.

Bis es soweit ist, wird er sich natürlich mehr als einmal die Frage stellen, ob er sich von ihr so unver­schämt herausfordern lassen muss, schließlich ist das mit einem gewissen Aufwand verbunden und wäre womöglich an anderer Stelle einfacher zu haben. Wieso eigentlich nimmt er am darauffolgenden Freitag nicht einfach die Schnecke mit aus der Bar gegenüber? Muss er ihr wirklich wochenlang nachlaufen? Muss er sich Gedanken machen, wie er sie beeindrucken könnte, welcher Spruch unverbindlich genug wirkt und doch Eindruck macht, und wie viel Zeit er verstreichen lässt, bis er sich wieder bei ihr melden kann? Ist sie das tatsächlich wert? Sein Dilemma liegt klar darin, dass er sie kaum kennt. Der ganze Aufwand also nur, um sie dann endlich rumzubekommen? Mehr als einmal denkt er darüber nach, dass er auch einfach zur After-Work-Party in die einschlägigen Lokale gehen und die nächste gut aussehende Beute abschleppen könnte, die sich willig zeigt. Monatelang hatte er Erfolg damit.

Seit er sie getroffen hat, lässt er es, eine Andere mitzunehmen. Seit diesem verdammten Spiel kreisen seine Gedanke sowieso nur noch um sie - immer dann wenn er eine freie Minute zum Nachdenken hat, auf dem Weg zur oder von der Arbeit oder heim von einer Party. Er muss seinem Jagd-Instinkt folgen, so steht‘ s geschrieben. Bereits verfangen in dem dichten Spinnen­netz, das sie heimlich ausgelegt hat, will er Erfolg sehen und ihn dann schön langsam auskosten. Bei so viel Einsatz gleich gern auch gleich mehr als nur einziges Mal, das wiederum entspräche exakt ihren Vorstellungen. Sie sagt ihm nämlich mit einem breiten Grinsen im Gesicht beim allerersten Abend in der Kneipe, „ich steh‘ nicht auf One-Night-Stands, das macht mir keinen Spaß. Und glaub‘ mir, dir dann ziemlich sicher auch nicht!“ Sie meint es so, wie sie es sagt. Da fielen ihm zum ersten Mal ihre Sommersprossen auf, eine neben der anderen, dicht an dicht.

Sie hat gar keinen Masterplan. Sie weiß weder, worauf es am Ende hinaus laufen soll - vielleicht wird eine heiße Affäre daraus, vielleicht hat er auch mehr Potential - noch weiß sie, wie sie ihn dazu bringen soll. Ohne Plan zu sein, verunsichert sie nicht. Im Gegenteil, es macht für sie den ganz besonderen Reiz dieser Geschichte aus. Ausgang vorhersehbar, der Weg dorthin voller span­nender Verwicklungen. Klingt nach klassischer Dramen-Vorlage aus der Antike. Genau sowas schwebt ihr vor. Jeden seiner schlau eingefädel­ten Züge hat sie sich vorgenommen zu durchkreuzen, sobald sie seine Taktik erkannt hat. So dass er damit in einer Sackgasse landet. Zumindest wäre das ein guter Test in punkto Phantasie und Flexibilität, aber auch für seine Fähigkeiten, sich immer wieder auf das Wesent­liche zu konzentrieren, rein spielerisch versteht sich. Was will er eigentlich bei ihr erreichen? - Das dürfte sich gern zwischenzeitlich nochmals ändern – womit ihm tatsächlich ein Konter ungeahnten Ausmaßes gelänge.

Sie ahnt nicht, dass er sich längst fragt, wie sie wohl reagiert, wenn er ihr statt dem Ausblick ei­ner Beziehung seine Freundschaft anbietet. Er plant sie vorzuführen, und dann gnadenlos den Moment zu nutzen, um abzuräumen. Er tut einfach so, als käme er nicht in die Puschen. Er greift ihren Ball nicht auf, als sie vermeintlich zielstrebig meint, er könnte ja für ein Treffen einen Vorschlag machen, den sie nicht ablehnen kann. Situationskomik muss er ihr als Plus zugestehen, wenngleich auf seine Kosten. Das würde er schon abhaben können. Dabei will sie ihn bloß sehen, will ihn kennenlernen, greif­barer machen als mit diesen elenden Kurznachrichten. Sie will sehen, wie er mit ihr und der inzwischen doch recht skurrilen Situation überhaupt umgeht. Und sie will ihn dabei ansehen. Es fällt ihm ziemlich schwer, den Wink mit dem Zaunpfahl zu übergehen, beschließt aber, an seiner Strategie festhalten. In Folge kommunizieren sie eine Weile nicht. Sende­pause. Die anfängliche Neugierde auf den Andern ist dahin, man hätte das Momentum angestachelt durch die Spontanaktion und das unglaublich gute Küs­sen nutzen sollen. Schadet findet sie, er eigentlich auch.

Tatsächlich hat er sie richtig eingeschätzt: Nach ein paar Tagen – leider hat das länger gedauert, als ihm lieb war - eröffnet sie wieder aus dem Nichts, stellt sich neu auf. Sie kann nämlich nicht verstehen, warum es dieser Typ nicht wissen will. Diesmal muss es langsamer und tief­gründiger laufen, um überhaupt noch als zweite Chance durchzugehen. Sie gibt sich Mühe, ihn mit „small talk“ wieder einzufangen. Das soll ihm zeigen, Harmonie bedürftig wie sie ihn einschätzt, dass sie keineswegs zickig ist und ihn außerdem als Mensch, nicht nur als Mann wahrnimmt. Natürlich tut sie das. Sie hasst die Ober­fläch­lichkeit; dagegen fand sie es schon immer interessant, auf neue Menschen zu treffen, denen man sich öffnen kann bzw. die vor ihr das Tor zum Innern aufmachen. Egal ob kurz oder lang, Dauer unerheblich. Insgeheim schaut sie einfach wahnsinnig gern hinter die Fassaden. Das hat er schon richtig an ihr eingeschätzt. Ob er sie lassen soll? Er darf sich nicht selbst verwundbarer zu machen, als er sich zu dem Zeitpunkt leisten kann. Noch während er darüber nach­denkt, macht sie für ihn den Anfang. Sie lehnt sich aus dem Fenster und läuft dabei Gefahr, abge­wiesen zu werden. Ihr egal, wenig­sten sollte sie es nochmal versucht haben. Es wird eine Gratwanderung zwischen Interesse wecken und zu viel Preis geben.

Ganz gemach versucht sie, ihn auf den hundertsechzig Zeichen, die eine Kurznachricht am Mobiltelefon zu bieten hat, an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Sie erzählt ihm in kurzen Episoden, was sie macht, wie sie im Alltag Hoch um Tief erleidet, und dass sie angekommen ist in ihrem Leben, in dem nichts fehlt. Er hat ihr nämlich einmal zu oft gesagt, dass er sehr beschäftigt ist und leider nicht mehr Zeit für sie aufbringen kann. – Den Unter­titel inter­pretiert sie als: gerade kein Interesse oder er steht doch auf Blond (von Natur aus ist sie brünett). So hat er das bewusst gespielt. Sie bemüht sich, seinen Ton zu spiegeln, ihm liegt an kleinen Nettigkeiten. Außerdem scheint er Kurznachrichten zu mögen. Ihren Vorschlag zum Telefonieren hat er nicht aufgegriffen. Mit den Geschichten aus ihrem Alltag schleicht sich dann auch sie in seinen Alltag ein. Irgendwie möchte er sie darin nicht mehr missen. Auf sein „bis bald“ – obwohl sie sich gefühlt schon ewig nicht mehr gesehen haben, und sie sich kaum mehr vorstellen kann, wie er aussieht – antwortet sie frech „klar, bis bald“.

Allerdings nutzt sie seine versteckten Andeutungen und beginnt, wieder mit ihm zu flirten, kurzum: er hat sie da, wo er sie haben wollte. Sie werden ge­wiss in der Kiste landen, so viel steht fest. Bloß ob ihm das dann auch reicht? Damit ist sie wieder ange­kommen, wo sie hinwollte: Ausgang völlig offen. Unterschwellig merkt er natürlich selber, was mit ihm geschieht und wie er sich von Tag zu Tag mehr an sie verliert. Er muss da durch, Rückzug ausgeschlossen. Nahziel, er kriegt sie. Aller­dings wird er das Gefühl nicht los, sie streiten sich beide heimlich um die Regie. Irgendwie erhöht das die Spannung, vielleicht weil er es so noch nicht erlebt hat. Er gibt sonst die Richtung vor. Er hat immer nur gemacht, was er wollte, sein Leben lang. Schließlich geht er doch auf ihre Flirtbereitschaft ein und signalisiert sein Interesse, das im Grunde doch nie weg war. Er geht fest davon aus, dass sie zusagen wird, wenn er sie jetzt zum Essen einlädt. Sie hatten sich darüber unterhalten, dass sie es gut findet, wenn Männer für sie kochen. Das Jamie-Oliver-Rezept liegt bereit, den passenden Wein hat er schon gekauft.

Doch vorher soll sie noch eine Runde zappeln, weil das erfahrungsgemäß hilft, die weibliche Bereitschaft zu erhöhen. Psychologie für Anfänger. Er lässt sie warten, bloß sie zappelt nicht. Völlig unerwartet  muss er es fest­stellen, als sie sich zufällig auf einer Party über den Weg laufen. Er sieht sie gleich, als sie zur Tür reinkommt. Sie kommt mit einem Typ rein, begrüßt ihn zwar recht freundlich, aber nicht überschwänglich und beachtet ihn für den Rest des Abends kaum. Klar, sie muss sich ja um den Typ kümmern. Mit seiner Sicherheit ist es dahin, und er fragt sich, ob seine Taktik jemals aufge­hen konnte. Vielleicht hätte er von Anfang an einfach mehr Tempo machen sollen. Auf einmal sieht er überall Gefahren und Fallstricke. Warum muss diese schrullige Frau auch anders sein, als all die anderen? Normalerweise konzentriert sich eine Frau doch auf genau einen Mann, er dachte, das wäre er. Fehleinschätzung?

Die Frage, die sich schnell herauskristallisiert: Selbst wenn er sie noch rumkriegt - und da ist er sich schon nicht mehr sicher - hat er überhaupt noch eine Chance, auf dem Weg in die Kiste ihre Anerkennung zu gewinnen? Männer sind da manchmal ziemlich dünnhäutig, wenn sie sich verlieren sehen. So ein Scheißspiel. Wenn er sie beobachtet, wirkt sie so witzig und sprudelnd vor Energie, intelligent und nie gelangweilt. Spaß kann man auch noch mit ihr haben, da braucht er sich nur den Typ neben ihr anzu­sehen. Als ob der sie nicht auch gern abschleppen würde. Immerhin kann er davon ausgehen, dass sie es dem nicht leicht machen wird, hat er ja selbst schon erlebt. Konkurrent zunächst abgehakt. – Andererseits: Kann er denn mit ihr mithalten? Nur wenn er sich ihr als annähernd ebenbürtig sieht, wird er sich auf das einlassen, was auf die Kistengeschichte folgt. - Was folgen soll, das weiß allerdings noch keiner so genau.

Doch zunächst einmal müssen sie in der Kiste landen. Da wäre es übrigens ein kluger Zug von ihr, kurz vor Schluss noch schnell ihren jüngsten Vorteil von der Party aufzugeben, um ihn gewinnen zu lassen. Sie schenkt sich ihm dann gewissermaßen als Trophäe. Funktioniert allerdings nur, wenn er es nicht mitbekommt; sonst gibt’s als Retour­kutsche nur den altbekannten One-Night-Stand als Schönheits­kitt am Ego; den will sie ja grad vermeiden. Also muss sie geschickt taktieren und ihm das Gefühl geben, den Sieg hart errungen und gewissermaßen ehrlich verdient zu haben. Und es muss bald passieren, sonst zieht der passende Moment am Ende ganz vorbei. Sie haben schon zu viel Zeit verloren in den vergangenen Wochen. Tief im Innern kennt sie all das zur Genüge. Sie improvisiert leidlich gut, kann auch an und ab mal Bälle zuspielen, letztlich muss sich nur noch den Ruck geben.

Bevor sie also allein die Party verlässt, verabschiedet sie sich von ihm. Sie sagt, sie findet es schade, dass es keine richtige Gelegenheit gab, sich länger zu unterhalten. Er wittert seine Chance und bietet an, sie heimzubringen. Sie lacht und er schaut wieder einmal auf ihre Sommer­sprossen. Er hat ein déjà vu, denkt an den Kneipenabend und er glaubt, dass es nicht leicht wird, sie zu überreden. Gemeinsam nehmen sie ein Taxi und eigentlich weiß sie sehr wohl, dass sie ihn nicht die Treppen in das kleine Dachstudio mit hochnehmen dürfte. Im Grunde kennt sie ihn kaum besser als an jenem Dienstagabend vor einigen Wochen, als sie sich kennengelernt hatten. Sie ziert sich vor der Haus­tür ein wenig, spielt ihre Rolle gut, und hat sich längst entschieden. Sie gehen gemeinsam hoch. Irgendwann wird es nicht mehr um den Kick fürs Ego oder ums Gewinnen gehen. Es geht dann darum, wem man die vermeintlichen Schwächen sehen lässt, ohne sich dafür zu schämen. Blöße darf man sich dann erlauben, wenn wichtig wird, vor wem man sich nackig zeigt.