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Gewohnheitstieropfer von Bettina Gärtner

Mir ist mein Name entfallen, vorübergehend, wie ich hoffe.

 

Ich erinnere mich aber genau, wie unendlich ich mich gefühlt habe, als ich den Urlaub noch Ferien nannte.

 

Jetzt ahne ich das Ende schon beim Auspacken, da hilft es nichts mehr, wenn alle: wie Sie benannt worden sind, heben Sie später oder früher ab, zu mir sagen, oder: Sie werden sehen, Ihre Zeit wird schon noch kommen.

 

Mich wundert auch längst nicht mehr, wie die Zwischenzeit ohne Hinweis auf die mir in Aussicht gestellte so ungehindert vergehen kann. Weil ja der Hinterhalt Wesen des Wunders ist, wird es beim Zähneputzen zuschlagen oder im Schlaf oder schlimmer, sage ich mir.

Bis dahin werde ich meinen einst fürs erste ergriffenen Beruf ausüben. Klumpt sich die mir nicht gehörende, vom Beruf aber verdunkelte Zwischenzeit zum Jahresurlaub zusammen, machen meine Hoffnungen sich mit mir aus dem Staub auf in eine Gegend namens Ferienregion, wo auf der Strecke zwischen vorläufig und eigentlich der See liegt, an dem ich das immer selbe Zimmer in einer Hotelpension mit Seeblick miete, theoretisch, praktisch die Sicht auf eine eben fertig gestellte Umfahrungsstraße auch deswegen nicht übel finde, weil mir der Autolärm Meeresrauschen ist und jenseits davon immer schon die Bergkette auszumachen war, deren Spitzen wie Fangzähne schimmern.

Ordne ich das letzte sommerliche Kleidungsstück dann in die Kommode, deren oberste Schublade seit ich herkomme klemmt, schließe ich einen Wechsel von Reiseziel oder Beruf aber wieder aus, das Wunder soll nicht suchen müssen, falls es mich doch noch überfallen will. Wenn ich den leeren Koffer auf den ländlichen Schrank bugsiere, bilde ich mir − einen Moment nur − ein, die Rückstände verdunsteter Empfindungen rieseln heraus, gerade so, als wäre ich schon wieder zuhause.

 

In der ersten Nacht schlafe ich nie gut. Putenwurst, Gouda und eine Schmelzkäseecke, eine Hotelportion mit der Aufschrift Streichgenuss und eine, auf der Erdbeermarmelade steht, ergänzen auf der Frühstücksterrasse Brot und Semmeln. Der See liegt mir wie jedes Jahr zu Füßen, auch Tee und Kakao wären zu haben, aber ich bleibe beim Kaffee und lasse mich von der Wirtin Gewohnheitstier nennen.

 

Mit dem Abzählen weißer Dinge fange ich gleich nach dem Aufwachen an, Bettzeug/Handtücher/Bergspitzen und die Autos auf dem Parkplatz vor dem Fenster, dann Stühle und Tische, Tischtücher und Servietten, Blusen und Schürzen der Frühstückskellnerinnen auf der Terrasse.

Eins/zwei/dreistöckig steht der mit Holzbalkonen versehene Hotelbau auf dem in den See mündenden Wiesenhang. An in die Erde gerammten Wäschespinnen hängen/wehen/flattern auch sonntags Laken und Handtücher, und von den angrenzenden Weiden recken Kühe die mit Glocken an bestickten Bändern belasteten Hälse über die filigranen Elektrozäune.

 

Nach dem Frühstück kann ich der Wirtin keinen Grund mehr nennen, meine Seesachen nicht zu holen. Vom Zimmer mit meiner Glücksnummer durch das Treppenhaus und den Hochzeiten/Taufen/Leichenschmäusen vorbehaltenen Saal führt mich der Weg wieder auf die Frühstücksterrasse, wo ich, das Badetuch im Nacken, zwischen den noch nicht abgeräumten Tischen am Übergang von Waschbeton zu Wiese wegen des Grasgefühls unter den Füßen die Sandalen abstreife, schlendernd die weißen Wäschestücke und am Ufer aufgespannten Sonnenschirme zähle und auf diese Weise von den Kühen bestarrt den See erreiche.

Dort dann der Steg, ein paar Bäume und Schilfreste, hinter Büschen ein Baustellenklo und die zimmernummerierten Liegestühle in einem Bootshäuschen, in dem es modrig riecht und überall Spinnweben hängen, aber wenn durch die Bretterfugen Sonne kommt und die klebrigen Netze unbezahlbar aussehen, wünsche ich mir mehr davon. Dann schaut auch das Wasser um das vertäute Ruderboot aus wie nicht von dieser Welt in seiner bodenlosen Türkisigkeit, und das Klatschen enthält wohl eine Nachricht an seine Bewohner, weshalb sonst umstehen die fettesten Fische den Bootsrumpf wie gebannt.

Hier bin ich gern, trage meinen Glücksliegestuhl samt Sonnenschirm oft erst ins Freie, wenn jemand kommt. Kein großer See, aber so klein auch nicht, dass im Strandbad auf der anderen Seite mehr als das Flirren von Pünktchen zu erkennen wäre, wobei die auf dem Wasser tanzenden Bojen so gut wie Bademützen sein können, ja, auch wenn nur noch Sportschwimmer und Damen Bademützen tragen, ist Bojenhaftes beim Heranrudern oft eine Bademütze gewesen, Rudern, genau, Ausfahren mit dem Boot, drüben im Seerestaurant habe ich im Lauf der Jahre Eis von Dänemark über Hawaii bis Split gegessen, und doch bleibt mir das flache Gebäude von hier aus ein fremder Quader.

 

Ich habe den Schirm in den Betonfuß gefädelt, den Liegestuhl aufgefaltet und mein Badetuch aufgebreitet, Sonnenmilch ins Gras gestellt und daneben ein Getränk, das Schwimmen auf den Nachmittag und das Rudern auf unbestimmte Zeit verschoben, den Schirm aufgespannt und mich hingelegt. In der Hotelpension wohnen auch Hunde. Die drei weißen wuseln verbissen zwischen den Liegestühlen, ausgerechnet der kleinste muss dazu noch auf einen Namen wie Tiger hören.

Der vierte ist groß/dunkel/schweigsam. Morgens schwebt seine schmale Schnauze über dem Frühstückstisch, die Wirtin hat einmal versehentlich für ihn aufgedeckt und dann gesagt, sie würde halt alt, worauf ich in etwa: ich bitte Sie, zu ihr gesagt haben werde, sie mich an diesem Vormittag jedenfalls zum zweiten Mal Gewohnheitstier genannt hat und ich sie um ein Haar nach meinem Namen gefragt hätte.

 

So viele Urlaubstage sind schon vorüber, dass ich, bei auf den Brustkorb gesunkenem bis ins Gras geglittenem Lesestoff, längst wieder rätsele, wieso meine Sehnsucht nach absoluter Ruhe vor der ewigen in die jährliche Unruhe umschlägt, und wie ich je zum Ersehnten gelangen soll, wenn ich meinem Sehnen nicht trauen kann.

Mein Glas ist von der Sonne heiß. Ich lasse es fallen und addiere durstig das weiße Ruderboot, das im Schilf hinter dem Bootshäuschen verschwindet, während der Saft zwischen die Halme sickert. Der große, dunkle Hund steht im See und trinkt. Zuweilen kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen ihm und den kleinen weißen, heute stören mich nur Insekten beim Überlegen, wie ich den Liegestuhl um der Sonne zu entgehen neu ausrichte oder das vor aller Augen Baustellenklo Entern aufschiebe. Ich winke denen, die mir winken, grüße die, die mich grüßen.

Der Tourismus verlangt Konzepte, sagte die Wirtin zu mir, als die ersten Hunde kamen. Das klang nach einer Entschuldigung, dennoch hielt sich in der Saison der Gedanke länger, mich doch zu verändern, aber wohin, ich bleibe also, wo es kläfft und Leinen sich verheddern und beobachte das Hochschleudern von Happen und das Schnappen danach.

 

Zwar ist der Tag so grünblau wie die anderen, lässt, für mein Gefühl, aber schon erste Kälte durch. Nicht buchstäblich, mehr als Vorbotin ihrer selbst, versuche ich den anderen Gästen klar zu machen, habe ihnen auch heute die Tücke solcher Tage über die Liegestühle hinweg erläutern wollen, aber weil seit dem Frühstück ein weißer Hund abgängig ist, interessieren sie sich dafür nicht.

Das Wimmern seiner Besitzerin mischt sich in die Strandbadklänge. Nachmittags trägt ihr Ehemann dann einen Matsch aus ehemals hellem Fell und Innereien in schwarze Folie eingeschlagen auf steifen Armen auf die Frühstücksterrasse. Landpolizisten befragen uns, ein Notarztwagen bringt die Besitzerin in die Klinik.

 

Der nächste Tag fordert den nächsten Hund. Das über dem See auf die Sommergeräusche treffende Klagen seiner Halterin prägt die Zeit bis zum Eintreffen ihres Ehemannes und der Landpolizisten, und zum zweiten mal in vierundzwanzig Stunden versammeln sich alle Gäste auf der Terrasse. Nach dem Abtransport der Frau durchsuchen die Landpolizisten auch das Bootshäuschen. Sie mahnen alle, besonders aber die Herrin des letzten weißen Hundes, zur Achtsamkeit, dennoch läuft sie früh am nächsten Morgen suchend über den Wiesenhang und murmelt wie eine Betende seinen lächerlichen Namen.

Mitten in meine Überlegungen, ob ich eine Wolke als Ding ansehen und addieren soll, werden seine Überreste gebracht. Die erste in Wochen, bauschig im Kern, an den Rändern schleierhaft und mittelgroß, was aber heißt das von hier unten, erst recht über eine Wolke. Die meisten Gäste sind schon wieder auf der Terrasse, als die Frau ihren Hund ein letztes Mal so gellend ruft, dass sich sogar drüben im Strandbad alle Köpfe zu heben scheinen.

 

Die langsamen Gäste, unter ihnen ich, knüpfen eben ihre Badetücher um die Leiber, als ich das lassen und über den See deuten muss, sprachlos, weil ich im Strandbad Vorgänge beobachte, dazu das Ausbleiben von Vorgängen, die Folgen der zu beobachtenden hätten sein müssen, aber die anderen Nachzügler sehen mich und einander nur verständnislos an und hasten, die weißen Röcke mit den Händen sichernd, auf die Terrasse.

Ich kann auch mit den Achseln zucken, erst recht mein Badetuch wieder aufknoten. Schneemannunterkörper oder sonst eine vergessene Winterdekoration, auf dem Restaurantdach hat sich schon immer dieses Gebilde befunden. Jedenfalls leblos, da war ich mir sicher, regt es sich jetzt wie von dem Schrei erweckt. Ein Eindruck, den ich wohl der Sonne oder sonst einer Einstrahlung verdanke, die Ozonschicht wird hier auch löchriger sein, als Tourismusverantwortliche zugeben. Ich breite mein Badetuch von neuem auf und nehme mir vor, die Wirtin nach den Löchern zu fragen, blicke prüfend in den Himmel und erblinde, vorübergehend, wie ich hoffe.

Als mir das Gras wieder grün ist, hat das Gebilde sich zu etwas Tigerförmigem gesteigert, das vor meinen schmerzenden Augen ins Strandbadkonfetti springt und in pumpenden Schüben zu wachsen scheint wie sonst nur Hüpfburgen. Seine Iris wirkt wie der Himmel hinter Gucklöchern, und das Weiße an ihm, was außer ein paar schwarzen Streifen alles Restliche ist, sieht nicht nach Plastik oder Fell oder sonst etwas Greifbarem aus.

 

Der Schatten des Bootshäuschens ist länger, das Gras kühl unter meinen Füßen geworden, aber noch immer ist an keinem Ufer jemand auf der Flucht vor einem weißen Tiger oder springt vor Freude über eine Hüpfburg in die Luft. Ohne den Blick vom Wasser zu nehmen fasse ich, wohl nach Halt auf der Suche, unter den Sonnenschirm. Mir kommen Zweifel am See, der plötzlich daliegt wie gefroren und von einem geheimen Eissturm mit Ästen bestreut, die sich zum Körperkäfig eines Tigergebildes formieren, das sich auf die Hinterbeine stellt.

Die Wasseroberfläche erzählt von Tatzenschwüngen, dann, dass es von der Wolke ablässt, die es nicht fassen kann. Es reißt sein Maul weit auf, berichtet der See, aber hören kann selbst ich es nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich es addieren soll und schließe ratlos den Schirm. Als es die Pranke nach mir ausfährt, reagiert wieder kein Mensch, bloß ich, ich werfe mich flunderflach auf meinen Liegestuhl.

Die Krallenschatten nähren meine Zweifel an mir, da naht vom Wiesenhang her ein Hecheln und ich bekomme zweifellos noch mehr Angst, als mich kein Wunder, sondern der dunkle Hund umrundet. Einmal, dann prescht er ans Ufer und bellt in den See, bis das Tigergebilde schrumpelt wie ein Ballon. Der Hund verstummt so pünktlich, als wäre das Kleinschüchtern sein Befehl gewesen. Wüsste ich seinen Namen, würde ich ihn zu mir rufen. Aber so, wie er am Bootshäuschen scharrt, hat er längst etwas anderes in der Nase.

Der See ist wieder touristenblau, allerdings dehnen und strecken im Strandbad drüben die Überreste meines Eingebildes, das wohl zerschrumpft wäre, rückstandsfrei und komplett vollkommen, hätte der Hund nur länger gebellt. So ersteht es, ohne sich darum zu scheren, ob es überhaupt vorhanden ist, von neuem auf.

Es erhebt sich, da kann ich mir die Augen noch so oft reiben, fällt in einen Trott, der in ein Laufen mündet und in länger werdende Sprünge, bis es abzuheben scheint und, ohne unterwegs ein Schaf zu reißen beziehungsweise eine Ente aus der Luft zu fangen, am Seeufer entlang auf mich zuhält.

Ich würde an seiner Stelle nichts anders machen, mich auch von denen ernähren, die an mich glauben. Ich kralle alle Zehen in den Untergrund und setze mich aufrecht hin, will es kommen sehen und auch sonst nichts mehr versäumen. Das Gras wird spürbar kälter und mein Eingebilde laufend größer, scheint hinter den Bäumen zwar wie zerstückelt, bloß unsichtbar nicht mehr.

Der dunkle Hund kratzt am Bootshäuschen. Von den anderen Gästen, die mit ihren sonnenroten Rücken und weißen Badetuchröcken das Geschehen auf der Terrasse abschirmen, trennt mich der Wiesenhang. Er liegt schon ganz im Schatten der Hotelpension, da blähen sich an den Wäschespinnen jäh alle Laken wie auf Kommando, zugleich schlägt eine Kuhglocke an. Der blaue Blick meines Eingebildes gewinnt an Bannkraft, und Körperkäfig und Flankenspiel sind deutlich zu unterscheiden.

 

Das sagt mir, dass meine Zeit im Fleischgefängnis abläuft … Aber ich wollte doch, das ginge noch, immer auf einem Halm blasen können!

 

Ich kann den grünsten auch noch ausrupfen, als die Kuhglocke von neuem klingt. Ich blicke geblendet in den Himmel, dann umwirbeln mich Fleischfetzen und Reste der Welt, und ich tue hineinschleudern … hinaufschweben … in ein weißes, ein wolkiges, im Grunde schönes Gefühl … und sage mir: ja, so könntest du weiterleben.

 

Was nicht von Dauer ist. Wie alle mich umringen, bin jetzt ich der Matsch, Wirtin und Landpolizisten und Gäste. Matsch mit Händen, die ein Badetuch tastend erkennen und einen Liegestuhl, an dessen Fußende der dunkle Hund aus noch dunkleren Augen auf mich blickt.

Im von der Abendsonne beschienenen Strandbad flirren noch immer die Pünktchen, die Sicht aufs Restaurantgebäude ist mir von der mich begaffenden Meute verstellt. Mir bleiben nur mein Badetuch und das Bedürfnis, es unter mir hervorzuziehen. Ich beginne mich zu winden, erblicke durch ein geschwungenes Schienbeinpaar jene eins/zwei/drei Frauen, die in der Klinik sein sollten, stattdessen aber über die von frisch gewaschenen Laken übersäte Wiese huschen. Sie verschwinden von den anderen unbemerkt im Bootshäuschen. Nur der dunkle Hund dreht den Kopf, während das weiße Ruderboot hinter ihm durchs Wasser pflügt.

 

Ich decke mich notdürftig zu. Dass es kühl wird, sagt einer.
Kühl wird es, sagen alle, kühl. Die Wirtin will wissen, ob ich friere. Was die Polizisten von mir wollen, sagen sie nicht. Meinen Namen scheinen sie zu kennen.