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Johann und der Butterkuchen von Morné Mirastelle

Johann zittert. Ein bisschen nur. Ganz leicht. Allerdings muss er sich keine Gedanken machen, dass sein Zittern auffallen könnte: hier, im Raucherzimmer der Geschlossenen Station der Psychiatrischen Klinik in D. zittern sie alle. Zittern und schweigen. Johann schaut nach links: da sitzt die 23-jährige Magersüchtige, die vor kurzem ihre Trotzphase entdeckt und sie dann über´s Essen – respektive Nicht-Essen – ausgelebt hat. Sie hat Schatten unter den Augen und starrt verbittert ins Nirgendwo. (Johann weiss auch wieso. Heute ist Wiege-Tag.)

Johann schaut nach rechts: da sitzt der ewige Mauler und Motzer, der seit seinem Schlaganfall im Rollstuhl sitzt, sich über alles und jeden beschwert und jedem, der ihm vor die Räder läuft, unter die Nase reibt, dass er nicht immer ein Krüppel war und jetzt nimmer leben will. Seine Hand greift nach der Tasse lauwarmen, ungesüßten Pfefferminztees, den hier alle in so grossen Massen von den Schwestern nachgeschmissen kriegen, dass man meinen könnte, er sei ein Allheilmittel gegen sämtliche psychische Krankheiten. Etwas anderes Trinkbares gibt es hier nicht, das müssten die Patienten sich selber besorgen, was sich aber natürlich sehr schwierig gestaltet, wenn sie nicht raus dürfen. Also sind sie auf Besuch angewiesen, der ihnen was mitbringt. (Allerdings keine alkohol-, koffein- und zuckerhaltigen Getränke, wegen der aufputschenden Wirkung.) Die Besuchszeit: mittwochs, 16 bis 17 Uhr. Es kommt aber kaum einer.

Der Krüppel hebt die Tasse an, führt sie zum Mund, trinkt, schluckt, schluckt, schluckt. Er sabbert. Angeekelt wendet Johann sich ab. An der anderen Tischseite – alle haben, wohl aus Angst vor eventuell möglichen Versuchen der Kontaktaufnahme, die Stühle so weit wie möglich vom Tisch weggerückt, denn wer irre ist, muss sich ja nicht mehr als nötig mit noch mehr Irresein um- und abgeben – sitzt der fast kahlköpfige Zigarettendreher mit den Adleraugen. Momentan starrt er irgendwo hin, auf seine Füsse oder unter den Tisch, so wie alle andern, aber Johann hat ihn schon mal reden hören, mit den Schwestern. Der Zigarettendreher hat einen langen, langen Vortrag gehalten über Gott. Bis dann der Krüppel vorbeigefahren kam und dem Endlos-Monolog doch noch ein Ende gemacht hat indem er fragte, ob man denn Kannibale sei, wenn man Christstollen esse, und den perfiden Kommentar gen Zigarettendreher schmiss, dass er gegen Christen im Allgemeinen und Besonderen ja nichts habe, aber immer noch nicht verstehe, warum diese ihren Mitgläubigen ein Abendmahl vorsetzen, das weder schmeckt noch satt macht. Das hat den Kahlkopf sehr getroffen. Einen Moment lang herrschte entsetztes Schweigen. Und dann hat der Zigarettendreher versucht, den Rollstuhl mitsamt Menschenmaterialinhalt umzukippen. (Der Zigarettendreher leidet nämlich an religiösem Wahn.) Die Schwestern versuchten ihn daran zu hindern, scheiterten und holten den diensthabenden Arzt, aber die noch Minuten später anhaltende geschriene Predigt des Tobenden über die nicht zu fassende Ungläubigkeit in einem ja schliesslich christlichen Hospital hat Johann noch lange in den Gehörgängen nachgehallt. Seitdem nimmt sich Johann sehr in Acht vor dem leicht Erregbaren.

Johann verabscheut Gewalt. Wenn er sie mitkriegt. Er mag so was eigentlich gar nicht sehen. Er mag so was eigentlich gar nicht hören. Johann mag Gewalt am liebsten, wenn sie ganz schleichend ist und leise und von ihm ausgeht. Das mag Johann. Aber das darf niemand wissen.

Jetzt steht er auf, nimmt seine Zigarettenschachtel an sich – vor einer Woche erst hat er damit angefangen, seine Mutter wäre sicherlich sehr enttäuscht von ihm, würde sie es erfahren -, streicht ein paar imaginäre Falten auf seinem tadellos gebügelten Hemd glatt und verlässt den Raum. Er sucht sein Zimmer – Nummer 5 – auf, bemerkt wohlwollend, dass sein Zimmergenosse im Augenblick nicht da ist – denn Johann hasst es, beobachtet zu werden, dann macht er alle Sachen immer falsch – und setzt sich auf die Bettkante, um ein wenig nachzudenken. Bis auf die Schreie des Stationsgespenstes ist es still. Das Stationsgespenst hat seit gestern einen Namen: es heisst Frau Degenkolb. Das Stationsgespenst namens Degenkolb widert Johann an. Es schreit nämlich den ganzen Tag: immer die selben herausgepressten, monotonen, emotionslosen Schreie. Das macht Johann ganz verrückt. Er ist nämlich ein sehr harmoniebedürftiger, stilleliebender Mensch, eigentlich. Aber das Stationsgespenst namens Degenkolb schreit den ganzen Tag. Und die ganze Nacht. Und es liegt im Zimmer neben ihm. Das ist wohl das Schlimmste für Johann: dass sie neben ihm liegt, diese unermüdliche, ihre Arbeit nie unterbrechende Maschine. Johann mag keine Schreie. Gar nicht. Überhaupt nicht. Und schon gar nicht, wenn sie aus dem Zimmer neben ihm kommen und er nichts tun kann.

Johann grübelt, denkt nach, strengt sich sehr an, kommt aber zu keinem ordentlichen Ergebnis. Die Frage die ihn quält, ist die, warum er überhaupt hier ist.

Zwar ähnelt das Hospital eher einem Altersheim – es ist, von den Schreien des Stationsgespenstes namens Degenkolb abgesehen, sehr ruhig, es gibt so etwas wie einen geregelten Tagesablauf, vier Mahlzeiten am Tag und nette Schwestern, die Patienten schleichen langsam und schlurfend über den bis auf ein paar Patientenbilder kahlen Flur, aber Johann weiss doch sehr genau, wo er hier gelandet ist: im Irrenhaus. Nur was er hier zu suchen hat, das weiss er nicht.

Fast noch mehr als diese ihn marternde Unwissenheit allerdings quält ihn die Abwesenheit seiner Mutter. Die fehlt ihm sehr. Nicht einmal besuchen darf sie ihn. Und so traurig gemacht hat er sie, dass sie geweint hat, als sie ihn von Zuhause – dem vernachlässigten kleinen Bauernhaus seiner Mutter – abgeholt haben. Bestimmt ist sie sehr enttäuscht von ihm. Bestimmt hat er ihr Schande gemacht. Nur womit: auch das ahnt Johann nicht. Johann ist sich keiner Schuld bewusst.

Aber er gibt sein Bestes, alles wieder gut zu machen, seine Schuld zu tilgen, seine Mutter wieder stolz auf ihn zu machen: jeden Morgen schüttelt er sein Bett selbst auf. Er zieht jeden Tag ein frisches Hemd aus dem Schrank. Er folgt den Anweisungen des Klinikpersonals. Er lässt nichts auf dem Teller übrig. Er geht früh zu Bett und verhält sich ansonsten lieb, nett und ruhig: so wie das ein ordentlicher Junge eben tut. Nur das mit dem Rauchen, das darf sie nicht erfahren. Aber da kann er ja auch nichts für. Er ist nur Opfer. Er wollte ja gar nicht damit angefangen. Nur hat sein Zimmergenosse ihm die Schachtel geschenkt. Und Johann kann doch nicht Nein sagen. (Vielleicht versteht seine Mutter das sogar. Zu ihr durfte er schliesslich auch nie Nein sagen.)

Auch an das Gespräch mit dem Stationsarzt Dr. Rammlig muss Johann jetzt wieder denken. Der Stationsarzt, ein grosser, dicker, stark behaarter Mann, hat Johann auch gefragt, ob er denn weiss, warum er hier ist. Nein, hat Johann geantwortet, aber ich bemühe mich sehr, das herauszufinden und keinen Ärger zu machen. Scheinbar ist das ein Missverständnis. Es gab doch gar keinen Grund, mich meiner Mutter wegzunehmen. Und dabei hat er die ganze Zeit gedacht: Rammlig, wie kann man nur Rammlig heissen. Das klingt so nach den sich paarenden Kaninchen bei uns hinten im Garten. Schmutzig klingt das. Unanständig. Wie kann man nur Rammlig heissen.

Sie werden wohl noch eine Weile hier bleiben müssen, hat der Arzt gesagt, und Johann hat nichts weiter entgegnen können als: Wie Sie meinen, Herr Doktor. Autoritäten widerspricht man nämlich nicht. Hat Johann gelernt. Und da die Nummer Eins der Ich-hab-hier-was-zu-sagen-Hierarchie, seine Mutter, nicht hier ist, muss er eben tun, was Autorität Nummer Zwei sagt.

Peinlich ist ihm das, dass er Angst hat vor dem Doktor. Aber wenigstens ist das ein ihm vertrautes Gefühl, Angst. Die kennt er gut. Ja, Johann kennt sogar drei verschiedene Ängste: Die Angst vor Menschen, die ihm Böses wollen – die erinnert ihn an seinen Vater. Die Angst vor Menschen, die ihm Gutes wollen – die erinnert ihn an seine Mutter. Und die Angst davor, ertappt zu werden – die erinnert ihn an all die gruselig-schönen , widerwärtig-faszinierenden Nachmittage im Schuppen neben dem Haus, wenn er heimlich mit den Kaninchen seine Spiele gespielt hat, zuletzt auch mit seiner Cousine.

Aber für welche Angst soll er sich bei dem Doktor entscheiden? Er schwankt zwischen der ersten und der zweiten, aber die dritte Angst, die fällt definitiv weg. Nein, nichts haben die Gespräche mit dem Doktor gemein mit den verbotenen Stunden, die er heimlich und fernab von der Welt im Schuppen verbracht hat. Ob der Arzt ihm Gutes will, vermag Johann nicht zu sagen. Er weiss aber, dass seine Mutter das könnte, nur ist die nicht hier, darf ihn nicht mal besuchen. Heute Morgen hat ihm die Psychologin die Antwort auf die Frage, warum er seine Mutter nicht sehen darf, verweigert. Folglich vermutet Johann, dass diese Menschen ihm nichts Gutes wollen, denn Menschen, die ihn von seiner Mutter trennen, können nur schlecht sein, schlecht und böse. Eingebläut hat seine Mutter ihm das, und zwar gründlich; er durfte nie mit der Klasse mitfahren in irgendwelche Jugendherbergen, geschweige denn in suspekte Ferienlager. Nicht mal mehr in Urlaub sind sie gefahren seit Vater´s Tod – vor 18 Jahren war das, und nicht nur seine Mutter fühlte sich zu diesem Zeitpunkt seltsam erleichtert. Ein halbes Jahr später fing die Sache mit den Kaninchen an. Aber deswegen, grübelt Johann, kann er doch nicht hier sei, deswegen doch nicht. Nein, das hat er gelernt, das nur die Sachen schlimm sind, bei denen man erwischt wird – aber erwischt hat ihn niemand.

Für Johann ist es ausserordentlich logisch, dass man alles tun darf, ohne schuldig zu sein – nur sehen oder hören darf es keiner. Von seinem Vater hat er das gelernt, ganz jung war er da noch, als das begann mit den verhaltenen Schreien im elterlichen Schlafzimmer, und wenn es vorbei war, wenn es plötzlich ruhig war drüben, mit einem Schlag, dann ging stets das Licht auf dem Flur an, dann patschten die blossen Füsse des Vaters auf dem uralten Bauernhausholzfussboden, und seine riesigen Pranken drückten die Türklinke immer ganz leise herunter, widerlich leise, so leise, weil niemand etwas davon bemerken sollte, auch Johann nicht.

Aber das geschah immer nur nachts, wurde somit alptraumhaft und unreal, und das macht Johann ja so eine Angst vor den Schreien hier, in der Klinik, dass sie keinen Unterschied machen zwischen Dunkel und Hell, zwischen Sonne und tiefschwarzer Finsternis, zwischen den Zeiten in denen man schreien darf vor Schmerz, weil so oder so keiner kommt, der den, der einem so weh tut, erwischt, und Zeiten, in denen man die Zähne nicht zusamenbeissen muss – weil gar nichts Schlimmes passiert. Und letzteres traf immer nur am helllichten Tage zu.

Am Kaffeetisch, zum Beispiel, er erinnert sich noch ganz genau, die Tage waren nie böse, die Nächte nur, die Tage selbst waren, zumindest, wenn seine Erinnerung ihn nicht trügt, erfüllt von Sonne, Toben, dem tröstlich weichen, süssen Butterkuchen, den seine Mutter ein Mal in der Woche zu backen pflegte – und von den einsamen Erkundungstouren durch die verlassene Gegend rund um das alte Bauernhaus – auf einer solchen Tour hat er auch entdeckt, wie viel Spass es macht, Schmetterlinge zu fangen und ihnen die Flügel aus zu reissen oder Mäusenester auszugraben und den jungen, nackten neugeborenen die winzig kleine kurzen Schwänzchen mit einem Streichholz anzuzünden.

Als der Vater dann doch endlich tot und somit einfach weg war, verschwunden aus dem Leben seiner Mutter und auch aus seinem, da hat Johann dann nicht mehr die Felder und die öden Brachen in der Nähe des Hauses erkunden müssen: da stand der Kaninchenstall für ihn bereit, für noch aufregendere, anziehendere Dinge, zu jeder Jahreszeit, jedoch: nicht zu jeder Tageszeit, denn Johann hat ja gemerkt, dass es für alle Dinge Zeiten gibt, die ihr Ende bedeuten, Zeiten, in denen man erwischt werden könnte. Und wer erwischt wird, ist schlecht und böse. Nachts wäre es seiner Mutter sicherlich aufgefallen, hätte er sich aus dem Haus geschlichen, aber nachmittags kam sie nie in den Schuppen um nach zu sehen was ihr Sohn so trieb.

Wäre diese Katastrophe auch nur ein Mal eingetreten, Johann hätte ganz bestimmt nie mehr in das Bett seiner Mutter gedurft, abends, und das wäre für ihn schlimmer gewesen, tausend Mal schlimmer als die nächtlichen unwirklichen Besuche seines Vaters. Auch jetzt vermisst Johann des nachts die kuschelige Wärme seiner Mutter, und es kommt ihm vor, als würden Krankenhausbetten nie richtig warm. Vielleicht liegt das an den Bezügen, die sie aufziehen?

Es klopft an der Tür. Johann sieht auf und versucht seinem Gesicht einen Ausdruck von Aufmerksamkeit und Interesse zu verleihen, als die Schwester eintritt, und weil sie sagt, dass es jetzt Brotzeit gibt, folgt er ihr gehorsam und zieht fast geräuschlos die Tür hinter sich zu. Johanns Überraschung ist gross, als er in den viel zu weiten Speisesaal der Station tritt, denn da liegt, auf jedem Teller eines jeden Platzes – ein Stück Butterkuchen. Er schnüffelt probeweise. Der Kuchen riecht anders, auch sieht er anders aus – die satte goldgelbe Farbe ist einem laschen Gelbgrauhauch gewichen -, aber er weiss, dass so oder so keine Mutter auf der grossen grossen Erde so einen vortrefflichen Butterkuchen zaubern kann wie die seine, und das erfüllt ihn mit Triumph und Stolz, denn das hat er ja schon immer gewusst. Aber Butterkuchen bleibt für Johann insofern Butterkuchen, als das er stets gegen schlechte Gefühle hilft, sogar den Schmerz der blauen Flecke – hervorgegangen aus den letzten Nächten und seltsames Relikt nicht vorgefallener Dinge auf einem anderen Planeten – seinem Kinderzimmer – half er bisher immer zu vergessen.

Und Johann will sein Stück Butterkuchen ja auch nicht essen. Da wäre er ja schön blöd – denn wenn er ihn mit in sein Zimmer nimmt, kann er ihn ansehen, so oft er will, und dann hat er doch mehr davon – mehr Trost. Heimlich trägt Johann seinen Anteil am heiligen Butterkuchen in sein Zimmer und legt ihn in das Nachttischschränkchen neben seinem Bett. Heute Nacht, das weiss er, wird es so sein, als sei seine Mutter bei ihm, wenigstens ein bisschen, als sei da ein wenig Trost, ein wenig Wärme. Heute Nacht wird Johann keine Angst haben müssen vor den Schritten auf dem Flur und vor dem Licht, das zwischen Tür und Boden in das Zimmer dringt. Heute Nacht wird sein Bett nicht kalt sein, und morgen wird er sich nicht mehr von den Gesprächen mit den Psychologen und Ärzten fürchten müssen: er ist ja nicht erwischt worden, ergo auch nicht schuld.

Mit grossen leuchtenden Augen starrt Johann selbstvergessen auf das krümelige blassgelbe Stück gebackenen bröckligen Teiges vor ihm. Die markerschütternden Schreie des Stationsgespenstes mit dem Namen Degenkolb hört er bereits nicht mehr.