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Unter einem Dach von Sigrid Eyb-Green

Der Tag, an dem Pauls Katze verschwand, war zunächst ohne besondere Vorkommnisse verlaufen. Christoph kam diesmal schon am frühen Abend von der Arbeit nach Hause; er hatte auf dem Heimweg bei Hofer eine Biskuitroulade gekauft, eilte jetzt in die Küche, küsste Klara und riss die dünne Cellophanhülle von der Roulade. Mit einem Buttermesser schnitt er drei dicke Scheiben ab; das Messer war so stumpf, dass die Roulade dabei auf die Hälfte ihres Volumens zusammengedrückt wurde und die Marmeladefüllung über seine Finger rann. Christoph schleckte die Finger ab und biss die Hälfte des ersten Stückes ab. Erst nachdem er diesen hastigen Bissen hinuntergeschluckt hatte, schien er angekommen zu sein. Er seufzte und setzte sich, Staubzucker auf dem Kinn, klebrige Finger, an den Küchentisch.

Bevor er das dritte Stück Roulade in den Mund schieben konnte, kam Paul in die Küche gelaufen. Christoph schob rasch den Teller mit dem Kuchenstück von sich, als fühle er sich ertappt, aber Paul bemerkte den Kuchen gar nicht, sondern verkündete, er habe etwas Großartiges gemacht im Kinderzimmer, Klara komm schnell und schau es dir an (Christoph: kann er nicht Mama sagen, nennen Kinder ihre Mütter nicht Mama, Mutti meinetwegen, ich habe immer Mama gesagt). Klara, die mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt war, antwortete, Christoph kann es ja einmal anschauen, ich komm dann gleich.

Auf dem Boden des Kinderzimmers hatte Paul eine Stadt angelegt, oder genauer: das Straßensystem einer Stadt, Kreuzungen, Hauptplatz, Sackgassen, Stadtumfahrungen mit Isolierband aufgeklebt, sehr bunt, viele Autos.

Christoph war einen Moment lang sprachlos, dann sagte er leise, "was ist denn das, was soll denn das sein."

"Eine Stadt", sagte Paul, der die Frage, nicht aber den Tonfall verstanden hatte, "Straßen für meine Autos."

"Mit was hast du das gemacht, mit meinem Isolierband?"

Nun enging Paul der drohende Unterton nicht mehr.

"Nein, das habe ich selbst gekauft."

"Selbst gekauft?"

"Von meinem Taschengeld."

Christoph drehte an der Türschwelle um und ging in den Keller, übersprang dabei zwei Stufen. Fand sein Isolierband nicht, alle sechzehn Rollen, die ganze Packung weg. Klebte am Boden im Kinderzimmer.

"Du lügst", schrie Christoph, auf der Kellertreppe, dann noch einmal im Gang, außer Atem, "du lügst!"

"Wenn ich sie doch selbst gekauft habe", wiederholte Paul.

"Selbst gekauft", brüllte Christoph jetzt los, "selbst gekauft, und von wem hat denn der Herr sein Taschengeld, von wem denn, und weißt du überhaupt, wie viel so etwas kostet, sechzehn Isolierbänder, ich reiß mir den Arsch auf, für dein verdammtes Taschengeld und Schuhe und Schultasche, wer zahlt denn das alles, glaubst du, du mit deinem Taschengeld vielleicht, und dann nimmst du auch noch meine Sachen, aus meiner Werkzeugkiste, die ich von meinem Geld kaufe, und du verklebst das halbe Haus damit, und ich kann hackeln bis zum Umfallen, damit der feine Herr seinen Spaß hat, du mit deinem stinkreichen Großvater, dem die halbe Stadt gehört, der reichen Sau, und ich reiß mir da den Arsch auf, und kann nicht einmal die verdammte Autoreparatur zahlen, und dein Großvater fährt zwei fettes Mercedes, und lässt seinen Herrn Sohn, deinen Vater, in Wien studieren, der dich noch nicht einmal besucht hat, der Herr Student, ein Feigling ist der, wie du, das hast du von ihm, lügst mich ja auch dauernd an, wie dieser Student, dieser Hosenscheißer, umsonst studiert der und hat ein schönes Leben, und ich blech das alles, sein Studium, alles, ich hackle und zahl Steuern und er studiert, der obergescheite Sack und fickt herum und ich krieg dann die Rechnung, ich hab ja nie was gehabt immer schon nicht und jetzt kann ich nicht einmal das Scheißauto zahlen und von dem Geld das dein reicher Opa der alte Geldscheißer an die Klara zahlt, kann ich ja nicht einmal dein Essen kaufen oder deine verdammten Schuhe kaufen, die du dauernd kaputt machst und die Schultasche, die auch schon halb kaputt ist, machst ja alles kaputt, und ich darf dann blechen, ja? Und hundert Kilometer Isolierband gleich dazu und die schicken Schuhe von deiner Mutter", schrie Christoph, und während er schrie, zog er das bunte Isolierband vom Boden ab, "lass es", flehte Paul, "lass meine Stadt", das Abziehen machte ein leises, böses Geräusch, ein heiseres Flüstern, die Autos wurden durcheinander geworfen; wenn er ein Isolierband hochzog, riss er dabei die anderen Isolierbänder, die es kreuzten, mit, so dass ein Gewirr von verdrehten, verklebten bunten Streifen entstand, "das war für meine Autos", heulte Paul, "dass sie wissen, wo sie fahren können", aber Christoph riss weiter an den bunten Bändern und knüllte sie dabei zu einem großen klebrigen Ball zusammen, "so hör doch auf", schrie jetzt Klara, "hör sofort auf und lass ihn in Frieden, ich kaufe neue Isolierbänder". "Von welchem Geld denn ?", lachte Christoph, "von dem, was der reiche Papa von dem Ficker dir schickt, oder was?"

"Pass auf, was du sagst", Klara drehte sich um und ging in die Küche, "geh doch", schrie Christoph ihr nach, "geh doch zu deinem reichenLiebhaber", da unterbrach ihn aus der Küche das Geräusch von zerberstendem Glas. Klara hatte die große Glasschüssel, die blaue, ein Hochzeitsgeschenk, sie wurde nicht oft verwendet, denn Klara war die einzige, die gerne Salat aß, sie hatte die Glasschüssel mit beiden Händen hochgehoben und auf den Boden krachen lassen, die Glasscherben sprangen weit über die Küchenfliesen. Dann hörte man sie auf den Gang gehen, kurz war es still, wahrscheinlich zog sie jetzt ihre Schuhe an, die Wohnungstür ging auf und fiel wieder zu.

 

Christoph stand noch immer in der Türe des Kinderzimmers, den unförmigen klebrigen Klumpen aus zusammengeknüllten Isolierbändern in der einen Hand, hob dann den Arm und warf ihn mit einer müden Bewegung an die Wand, wo er einen Augenblick kleben blieb und dann kraftlos zu Boden fiel. Die Glasschüssel zahl ich dann wohl auch noch, sagte Christoph. Der Satz traf nicht mehr Paul, sondern nur noch die Wand hinter ihm, prallte ab und fiel ebenso erschöpft auf den Boden wie das Knäuel aus Isolierbändern, die einmal eine ganze Stadt gewesen waren. Christoph ging und schloss die Türe hinter sich. Danach blieb es eine Weile still.

Das Weinen nahm Paul erst allmählich durch die geschlossene Türe wahr. Er dachte, die Kleine weint, weil Klara weggegangen ist. Paul hatte sich auf die Bettkante gesetzt, vor dem Fenster leuchteten schon die Straßenlaternen auf, die Dämmerung schob sich über der Gasse zusammen, in den Nachbarhäusern gingen die ersten Lichter in den Fenstern an, die hellen Rechtecke kein Trost. Irgendwo da draußen ging Klara, oder lief fast, mit den neuen Sportschuhen, sie leuchteten im Halbdunkel, das Licht der Straßenlaternen reflektierend. 

Christoph saß in seinem Arbeitszimmer vor dem Computer, dessen bläulicher Schein auf seinem Gesicht lag, das Licht hatte er nicht angedreht. Die Figuren auf dem Bildschirm waren eingefroren und warteten bewegungslos auf neue Befehle, zu lange hatte er nicht in das Spiel eingegriffen. Ein Auto fuhr die Straße entlang, die Scheinwerfer schon eingeschaltet, und blieb zwei Häuser weiter stehen, das vertraute Motorengeräusch unterbrach nur kurz die Stille, eine Autotüre wurde zugeworfen, der gedämpfte Knall ein Beistrich nach einem kurzen unbedeutendem Nebensatz. Als das Auto geparkt war und die Stille sich wieder wie Staub, der aufgewirbelt worden war, langsam auf Schreibtischlampe, Bett und Bücherregal gelegt hatte, bemerkte Paul, dass das Weinen in der Küche nicht verstummt war, er hörte es dumpf durch zwei geschlossene Türen. Er schlich hinaus auf den Gang, jetzt hörte er es deutlich, öffnete die Küchentüre, im Halbdunkel stand Marie vor ihm, die Hände weit von sich gestreckt, und weinte laut, erst nach einer Weile sah er es, dunkles Blut tropfte von ihren Händen, rann ihre Beine hinab. Paul regte sich nicht, Marie verblutet, Marie stirbt, ich habe das Klebeband gestohlen und jetzt stirbt sie, bewegte sich immer noch nicht, Maries Weinen steigerte sich zu spitzen Schreien, Paul starrte bewegungslos auf ihr verzerrtes Gesicht, ein verschwommener heller Fleck vor einem undeutlich dunklen Hintergrund. Endlich drehte er sich um, rannte zu Christophs Zimmer, die Türe war versperrt, er trommelte dagegen, brüllte Marie verblutet, da riss Christoph die Türe auf, stieß Paul zur Seite, rannte in die Küche und drehte das Licht auf, stieg über Glasscherben, hob Marie hoch. Ihr Schreien schwoll an, das scharfe Glas hatte sich in ihre Fußsohlen gebohrt, blaue Splitter steckten in Knien und Schienbeinen und Handflächen, Christoph hielt sie hoch, weit von sich gestreckt, um die Splitter nicht zu berühren und tiefer in die Wunden zu drücken.

 

Marie war während dem Streit unter die Bank gekrochen. Die blau glänzenden Scherben hatten ihr gefallen, und so war sie, nachdem Klara das Haus verlassen hatte, unter der Bank hervorgekrochen, um mit den glitzernden Dingen zu spielen. Die Schnitte spürte sie nicht gleich, erst als sich beim Krabbeln über den Boden ein großer Glasscherben ins Knie bohrte, stand sie auf, sah mit Entsetzen Blut ihr Schienbein hinab rinnen, da weinte sie, spürte nun stechende Schmerzen in den Fußsohlen, mit jeder Bewegung wurden sie schlimmer, sie weinte lauter und ließ die Scherben, die sie gesammelt hatte, fallen, sah die Schnitte in den Handflächen, und schrie und schrie.         

            Das Blaulicht der Rettung warf ein schweigendes panisches Flattern an die dunkle Wand in Pauls Zimmer, die Reflexion tanzte in den Fenstern des Hauses schräg gegenüber, und eine seltsame Erregung erfasste Paul bei der Erinnerung an das Blut und Maries Schreie und bei dem Anblick der zuckenden Lichter.

"Was ist passiert?"

"Das Kind war einen Moment unbeobachtet, hat die Schüssel hinuntergeworfen und sich geschnitten."

"Wo ist die Mutter?"

"War gerade zur Nachbarin unterwegs, Milch ausborgen, muss jeden Augenblick wiederkommen."

Paul war fassungslos: Christoph log!

Marie wurde auf einer Bahre in die Rettung getragen, Christoph ging hinterher; bevor er die Türe hinter sich schloss, drehte er sich kurz um, warte da auf die Mama und erzähle ihr was passiert ist. Also durfte Paul nicht mitfahren in der Rettung. Jetzt, als sie losfuhr, setzte die Sirene ein; mit atemberaubender Geschwindigkeit ging es rückwärts die Gasse hinunter, an deren Ende der Wagen in die Schnellstraße einbog und rasch verschwunden war.

Als Klara wenig später nach Hause kam, die Sohlen der Laufschuhe rollten lautlos am Vorzimmerboden ab, ihr Gesicht war vom raschen Gehen an der schon kühlen Luft gerötet, als sie dann die Küchentüre öffnete, das Licht war noch an, und die Scherben und das Blut sah, übergab sie sich.

Paul saß an einem Ende des Bettes, Klara am anderen. Im Zimmer war es dunkel, nur ein Lichtstreifen fiel durch die Tür vom Gang herein. Paul starrte auf den schmalen hellen Strich, bis er sich in seine Netzhaut brannte. Seine Mutter kauerte nach vorne geneigt, den Kopf in die Hände gestützt. Er roch die säuerliche Ausdünstung von Erbrochenem, obwohl sie sich Hände und Gesicht gewaschen und den Mund mehrmals ausgespült hatte, und Paul wurde übel von dem Geruch oder von der wirren Mischung aus zärtlicher Sorge, Abscheu und Angst. Endlich stand sie mit einem Seufzer auf und ging, schwerfälliger als das weit fortgeschrittene Stadium ihrer Schwangerschaft es nötig gemacht hätte, zurück in die Küche. Paul hörte, wie sie dort hantierte, Wasser in einen Kübel füllte, hörte das knirschende Geräusch, als sie die Glasscherben zusammenkehrte, es klirrte, als sie alles in den Mistkübel kippte, dann wischte sie auf, Wasser plätscherte, wenn sie den Fetzen in den Kübel tauchte und wieder herauszog, rann und tropfte, wenn sie den Fetzen ausdrückte.

Paul lag schon im Bett, als Christoph und Marie nach Hause kamen. Er hörte ihre Stimmen im Vorzimmer, Maries aufgeregtes Geplapper, Fragen Antworten. Als er später über den Gang aufs Klo schlich, sah er die drei durch die geöffnete Türe in der Küche. Marie saß, mit weiß bandagierten Händen und Füßen wie eine Katze mit weißen Pfoten, harmlos sah das aus, auf Klaras Schoß und schleckte das Eis, das ihr Christoph, weit vornüber geneigt, entgegenhielt, während Klara ihr ununterbrochen über den Kopf strich. Christoph wurde nicht müde zu erzählen, wie tapfer sie gewesen war und kaum geweint hatte, als ihr, Splitter für Splitter, die Scherben herausgezogen worden waren. Auf dem Tisch lag ein Säckchen Gummibären, das ihr eine nette Schwester zugesteckt hatte, und ein Strauß orangefarbiger Krankenhausblumen, noch in Papier verpackt, niemand dachte daran, sie in eine Vase zu stellen, und so sollten sie am nächsten Morgen, als Paul in die Küche tappte, halb verwelkt an derselben Stelle liegen, Christoph hatte sie für Klara gekauft.

 

Später, Marie war schon zu Bett gebracht worden und schlief, lag Paul immer noch wach und hörte durch die mittlerweile wieder geschlossene Küchentüre erregte Stimmen, hervorgestoßene kurze und längere, durch Einwürfe unterbrochene Sätze, manche lösten sich in gepresstes Schluchzen auf. Die einzelnen Worte verstand er nicht, aber immer wieder fiel sein Name. Wer würde diesmal gehen.

 

Sein Großvater war also ein reicher Mann, dem die halbe Stadt gehörte (auch Ampeln, die Kanalgitter, die Zebrastreifen?) und er, Paul, war ein Feigling, weil sein Vater ein Feigling war, und weil er gelogen hatte, wäre Marie fast verblutet, und weil er das teure Klebeband verschwendet hat, kann Klara jetzt nichts mehr zum Essen kaufen, auch keine Salat mehr, weil ja die Schüssel zerbrochen ist und Gott sei Dank ist Marie nicht an den Scherben veblutet, aber fast, aber wenn wir nichts mehr zum Essen haben, wird sie verhungern, ich auch, wir alle werden verhungern, während der stinkreiche Großvater mit zwei fetten Autos durch die Stadt fährt, die zur Hälfte ihm gehört und während sein Sohn, also mein Vater, studiert, was das ist studieren, etwas fantastisches sicherlich, sonst müsste Christoph ja nicht so viel bezahlen, warum sagt er blechen, warum muss Christoph eigentlich fürs Studieren von dem Vater, also meinem bezahlen, und warum muss der Großvater Geld für mich bezahlen, werde ich verkauft oder muss Klara dafür bezahlt werden, dass sie meine Mutter ist, ist sie gar nicht meine Mutter, Christoph ist ja auch nciht mein Vater und wer wird diesmal gehen?"

 

 

Die Küchentüre wurde geöffnet und wieder geschlossen, das Weinen war schon vor einiger Zeit verebbt, die heftigen Sätze zahm geworden, zärtliche Worte wurden im Gang gemurmelt: wie wohnte doch unter diesem Dach eine riesige glückliche Katze und schnurrte.

Wo war eigentlich Elsa? Sie war nicht, wie sonst, am Abend hereingekommen, meist schlief sie am Fußende von Pauls Bett, da war sie nicht, auch nicht in der Küche. Klara schaute noch einmal ins Kinderzimmer, der schmale Lichtstreif am Boden öffnete sich lautlos wie ein Fächer, dann klappte er zusammen und verschwand ohne eine Spur am Boden zu hinterlassen. Diesmal würde es Paul sein der ging. Hier in diesem Haus neben einer verliebten Monsterkatze, einer heiligen Familie wurde es ihm zu eng.

Als Paul am nächsten Morgen am Küchentisch saß, bemerkte er, dass Elsas Futterschüssel unberührt in der Ecke stand. Sie war also nicht wieder gekommen.