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Grillenzirpen von Mark Leeberg

Ich trinke Wein in der Küche. Zwei volle Gläser habe ich fürs Kochen gebraucht, der Rest ist für mich, die Köchin. Wenn Reiner da ist, mache ich noch ein Fläschchen auf. Ich brauche einen gewissen Vorlauf, denn er wird wie immer alles sehr schnell in sich reinschaufeln und den Wein stürzen, so dass ich zusehen muss, wie ich zu meinem Anteil komme.

 

Etwas zirpt. Erst denke ich, dass das Geräusch von der Straße kommt, doch es ist nichts von draußen, es ist die lavendelblaue Grille, die wir Greta nennen. Sie hängt im Türrahmen des Gästebads. Ich verschlucke mich und huste Weißweintropfen auf die totenblassen, italienischen Steingutfliesen, so dass es aussieht, als hätte ein Schwarm Fruchtfliegen in die Küche uriniert. Hastig, bevor sie eintrocknen, verwische ich die Flecken mit meinem schwarzbestrumpften Fuß. Die Sohle ist sofort kühl von der Nässe. Ein Gefühl greift mich. Ich bekomme Gänsehaut, nicht nur im Nacken und an den Armen, sondern an Stellen, an denen ich noch nie Gänsehaut hatte.

 

Irgendwer ist im Haus, sonst hätte Greta nicht gezirpt. Als ich sie in unserem letzten Südfrankreichurlaub kaufte, fragte Reiner, ob wir nicht schon genug Firlefanz hätten. Haben wir. Aber die Grille ist kein Firlefanz. Am Lac de Sainte Croix ist sie ein Nationaltier. Man findet sie überall und in jeder Form: als Kuchenblech, Seife, Honigflasche, Puppe und als Keramikfigur, die man an die Wand hängt. Geht man an ihr vorbei, fängt sie an zu zirpen, wobei es sich nicht so anhört, als hätte man eine Grille eingefangen. Wohl eher so, wie sich die chinesische Herstellerfirma ein Grillenzirpen vorstellt. Vielleicht tue ich den Chinesen Unrecht. Ich weiß nicht, wie Grillen in Asien klingen, ich war nie dort. Die am Lac de Sainte Croix jedenfalls zirpen anders, viel sanfter, nicht so herrisch.

 

Die halbvolle Flasche in der Hand tippele ich auf Zehenspitzen in den Flur. Irgendetwas tropft. Habe ich den Wasserhahn nicht richtig zugedreht? Nein, ich bin sicher. Es kommt nicht aus der Küche. Greta hat nicht zufällig angeschlagen. Jemand ist hier irgendwo zugange. Ein Schluck Wein bringt nicht die erhoffte Beruhigung. War es der Kater? Pieselt er heimlich, wenn er sich unbeobachtet fühlt, auf das alte Parkett in der Diele? Aber warum sollte er? Sein Katzenklo war hundeteuer. Zudem war das Plätschern zu laut.

 

Ich linse um die Ecke im Flur und sehe durch die geöffnete Gästebadtür einen Mann, der im Stehen pinkelt und dabei mit den Hüften hin und her schwenkt. Das ist sonderbar. Mein Interesse besiegt die aufsteigende Panik. Warum schwenkt er seine Hüften? Ist das was Anatomisches? Ich schleiche mich auf den Treppenabsatz, so dass er mich nicht sehen kann. Meinen Puls kann ich deutlich hören. Er schlägt wie ein Diskobass. Hört der Unbekannte ihn auch?

Ein Reißverschlussgeräusch, dann die Spülung – Immerhin! -, dann Gretas chinesisches Zirpen. Der Unbekannte tritt in den Flur. Mir bleibt nicht viel Zeit. Ich springe von der Treppe ab, so hoch ich kann, hole mit dem rechten Arm aus und schlage die Weinflasche auf seinen Hinterkopf.

Er sackt zusammen, kippt nach vorne, seine Stirn schlägt auf das Parkett, ich höre etwas knacken und vermute, dass seine Nase gebrochen ist. Im Fallen reißt er den Schirmständer um, den wir vorletztes Jahr auf dem Flohmarkt gekauft haben. Der Unbekannte liegt regungslos da. Ich warte, dass irgendetwas passiert. Durst habe ich plötzlich, meine Zunge fühlt sich verbraucht an. Nichts. Kein Blut auf dem Parkett. Die Nase oder der Kopf kann nicht gebrochen sein. Ich empfinde Unbehagen bei der Vorstellung, dass er sich nicht ernsthaft verletzt haben könnte, das wäre kaum gerecht. Wenn man mich so schlüge und ich so stürzte, spritzte mein Blut.

 

Er atmet flach - ich kauere mich neben ihn. Falls er aufwacht, bekommt er die Weinflasche erneut zu spüren, wenn er nochmals aufwacht wieder und so weiter und so weiter, bis Reiner nach Hause kommt, der sich hoffentlich um den ganzen Behördenkram kümmert. Er ist verbeamtet, nein, das hört er nicht gerne, er ist Richter und kümmert sich um die Eintragungen von irgendwelchen Firmen in das Handelsregister des hiesigen Amtsgerichts. Das sei wichtig und nur die besten Juristen kommen auf so einen Posten. Sagt er. Ich glaube ihm das natürlich. Für mich ist er dennoch verbeamtet. Ich habe ihm anlässlich seiner Ernennung Ärmelschoner gekauft, solche, die die Buchhalter in den alten Filmen tragen. Er nutzt sie nicht, er hat nicht meinen Humor. Er konnte auch nicht lachen, als ich den Kater von der Straße auflas. Dabei sieht der Kater genau so aus, wie Reiner in Berufstracht: schwarzes Fell und ein weißer Fleck auf der Brust.

 

Die Flasche ist leer. Der Wein verdunstet auf den Dielenbrettern. Schaden droht, wenn ich das nicht bald wegwische. Mit dem Strumpf? Ach, was solls. Jetzt habe ich einen nassen Fuß. Fein. Einen Fuselfuß.

 

Der Eindringling bewegt sich und jagt mir einen Schrecken ein. Ich schlage nochmals zu, denn ich will uns beiden weiteren Ärger ersparen. Robust scheint er ja zu sein. Er ist unrasiert, fast zwei Meter groß und wiegt mehr, als ich und Reiner zusammen. Wacht er auf, wer weiß, was er alles mit mir anstellt. Er hat grobschlächtige, behaarte Hände, die gewiss deftig zupacken und sich zusammenziehen, wie ein Schraubstock. Ich muss an den Seewolf denken, wie er eine rohe Kartoffel zerdrückt. Als kleines Mädchen hatte ich nächtelange Albträume, in denen mich Kapitän Wolf Larsen gewürgt hat. Ich würde nicht wollen, dass er mich so drückt und über mich herfällt, mich auf die Dielen wirft, mich wie ein Stück Fleisch behandelt, da wäre nichts von Zärtlichkeit, es wäre roh, wie frisch gehacktes Halbundhalb. Wie naiv muss man sein, um sich beim Wasserlassen erschlagen zu lassen. Hätte er die Tür hinter sich zugemacht, wie es sich für zivilisierte Menschen gehört, wäre nichts passiert, denn dann hätte ich Greta in der Küche nicht hören können. Wir sind hier nicht auf der Ghost. Und ich bin nicht Humphrey van Weyden, dieser dürre Literat, für den Reiner wohl Sympathien hegte, würde er ihn kennen.

 

Kapitän Larsen bewegt seine Pranken. Mit diesen könnte er meine Kehle umfassen und mich einfach so zerquetschen. Ich berühre kurz seine Hand. Mir ist, als bekäme ich einen elektrischen Schlag. Es steckt so viel Energie in diesem Mann. Ich setze mich rücklings auf seinen Oberkörper, nur, um zu beweisen, dass ich ihn besiegt habe. Er ruht wie ein gefällter Lindenbaum, ein großer, alter Lindenbaum. Meine Schenkel muss ich bis zur Schmerzgrenze spreizen, um ihn in Gänze einzuschließen. Ich schaukele auf ihm, wie ein überglückliches Mädchen auf einem Pony. Na los, Brauner, lass uns übers Land fliegen! Galopp! Und hopp! Über den Koppelzaum! Spürst du die Sporen?

 

Er riecht merkwürdig. Nicht unangenehm, nur merkwürdig. Hat er getrunken? Ich beschnuppere ihn wie eine Katze, die einen toten Vogel im Garten gefunden hat. Nein, es ist kein Alkohol. Er riecht wie frisch poliertes Messing.

Jetzt blutet er doch. Das enttäuscht mich. Er schien so unverwundbar. Männer. Ich hole aus dem Gästebad Toilettenpapier und tupfe ihm die Kopfwunde ab. Das Papier färbt sich dunkelrot und saugt die Flüssigkeit auf wie ein Löschblatt. Der Fleck formt sich zur Insel Rügen. Dann variiert er und wird zu Australien. Jetzt hat er die Größe von Afrika erreicht. Es reicht. Eklig ist das.

 

Larsen hat gelockte, dichte, schwarze Haare. Man sieht die Verletzung kaum. Sein rechter Arm greift plötzlich nach hinten. Mein Schlag mit der Weinflasche verursacht ein Geräusch, als teste man eine Melone auf ihre Reife. Unreife Melonen klingen metallisch, reife vibrieren und singen. Sein Kopf singt. Meiner vibriert.

 

Er soll einfach liegenbleiben bis Reiner da ist. Wo bleibt der bloß? Ich warte hier und … das Essen! Ich renne zum Herd.

 

Alles ruiniert. Dafür hätte der Fisch nicht sterben müssen. Ein prima Leben hätte er haben können in der Ostsee. Jetzt ist er nicht mal für die Katz zu gebrauchen. Und zwei Gläser Wein sind ebenso vertan. Ich schalte den Herd ab und drehe die Abzugshaube auf volle Leistung, damit der Gestank verschwindet, dann flink zurück zu meinem Capitano.

 

Er schläft. Einen Pilotenkoffer hat er mitgebracht und im Gästebad abgestellt. Ich dachte immer, Diebe benutzen Rucksäcke oder schäbige Hängetaschen, aber nein, meiner hier ist offenbar einer der besseren Sorte. Aber wahrscheinlich hat er auch den Koffer irgendwo geklaut. Die vergoldeten Schlösser klicken beim Öffnen. Drinnen hat er Schmuck von mir verstaut: die grüne Brosche meiner toten Schwiegermutter, zwei Ringe mit Diamanten, darunter meinen Ehering, einige Goldketten und die Perlenohrringe, die mir Reiner zum zehnten Hochzeitstag geschenkt hat. Er muss die Sachen aus dem Schlafzimmer in der zweiten Etage genommen haben. Was, wenn ich im Bett gewesen wäre. Was, wenn er die Gunst der Stunde genutzt hätte, eine Frau in den besten Jahren zu … Ich will gar nicht daran denken. Ich ziehe sein rechtes Lid hoch, um sicherzustellen, dass es ihm gut geht. Die Pupille ist leicht nach oben verdreht, aber man kann sehen, dass er kastanienbraune Augen hat. Etwas Speichel läuft ihm aus dem Mund und ich wische ihn ab.

Ganz sauber ist er jetzt und riecht frisch. Ich habe ein mit Kamillenextrakt getränktes Klopapierstück verwendet.

Ich küsse ihn auf den Mund. Was ist nur in mich gefahren? Ich drehe mich nach allen Seiten um, als könne mich jemand beobachten und presse dann schnell meine Hand an seiner Hüfte entlang auf die Unterseite seines Körpers, ich erreiche seinen Schritt und finde heraus, wie er gebaut ist. Nur kurz, ich streife ihn allenfalls. Herrgott, ist der gut gebaut! Ich ziehe die Hand zurück, die von seinem Gewicht fast erdrückt wird und einzuschlafen droht. Ich spüre, dass ich erröte. Ob es die Anstrengung ist oder die Scham oder der Wein – ich kann es nicht sagen. Es wird von jedem etwas sein. Ich fahre mit seiner rauen Hand über mein Gesicht. Es ist, als nähme man einen Bimsstein und riebe ihn über die Wange. Meine Haut ist erhitzt von seinen Schmirgelpapierfingern.

 

Ich hole das Telefon und versuche, Reiner zu erreichen. Seine Mailbox teilt mir mit, wie sehr er sich über den Anruf freut und dass er unverzüglich zurückruft, sofern ich meine Nummer hinterlasse. Ich rufe bei Gericht an. Frau Kannegießer von der Geschäftsstelle teilt mir mit, dass Reiner nicht da ist, dann beendet sie das Gespräch. Sie ist scharf auf Reiner, dass höre ich bei jedem Anruf. Sie hat nicht mal abgewartet, was ich eigentlich will. Hat einfach aufgelegt. Dieses Miststück.

Ich schwanke, ob ich die Polizei rufen soll. Aber wozu. Larsen kann mir nichts tun. Wut steigt in mir auf. Man wird ihn verhaften und er wird irgendwann wieder in einem Haus stehen, das ihm nicht gehört.

 

Ich muss austreten und gehe ins Gästebad. Greta begrüßt mich wohlgelaunt. Die Klobrille ist hochgeklappt. Er hat überall kleine gelbe Spritzer auf der weißen Keramik hinterlassen. Das sieht aus wie die Weinflecken in der Küche. Aber es riecht nicht so gut. Hier will ich nicht austreten, es widerstrebt mir, es ist wie eine öffentliche Toilette, fehlt nur eine übergewichtige Klofrau mit Schürze und dem Teller, auf den ich fünfzig Cent werfen soll.

 

Ich suche im Schrank unter dem Handwaschbecken nach einem Reinigungstuch. Nichts. Nur ein alter Rasierapparat von Reiner liegt in der Schublade. Was macht ein Rasierer im Gästebad? Ich stecke das Gerät gedankenverloren ein und gehe zurück in den Flur. Der Gutbestückte liegt noch immer reglos da. Ich wende ihn mühsam wie einen zu großen Braten in einer zu kleinen Kasserolle. Jetzt ruht er mit dem Gesicht nach oben. Schön ist er nicht. Aber was ist schon schön. Der Wegwerfrasierer drückt in meiner Hosentasche. Ich nehme ihn heraus und weiß mit einem Male, wie ich mich für den ungebetenen Besuch bedanken kann. Und für die schlaflosen Nächte als kleines Mädchen. Und für all das, was er Humphrey van Weyden angetan hat.

 

Seine Augenbrauen entferne ich zuerst. Das ist gar nicht so einfach. Man muss aufpassen, dass die Augen heil bleiben, zittrige Hände sind da von Nachteil. Dann rasiere ich ihm den Schädel. Alles wirkt unregelmäßig und räudig, wie bei einer Hyäne. Schabt man in Querlinien, kann man Muster erkennen.

Die Haare scheinen wie ein Teppich geknüpft zu sein. Das hier ist offenkundig Billigware aus dem Baumarkt, nichts teures. Zum Schluss überwinde ich mich, knöpfe seine Hose auf und beseitige seine Schamhaare. Gut bestückt. Aber das wusste ich bereits. Ich empfinde gar nichts dabei. Es ist wie das Entfernen von Fusseln auf einem Seidenkleid. Dennoch: die Gewissheit, dass er bald Gänsehaut da unten haben wird, zumindest, wenn es kalt ist, befriedigt mich. Aus dem Flurschrank hole ich den Staubsauger und fahre auf und ab, bis alle Haare weg sind. Ich überrolle ihn wie einen verschmutzten Abtreter im Herbst. Als ich ihm mit dem Sauger über die Augen fahre, schnieft er kurz. Hab wohl die Nase erwischt.

 

Ich verlasse das Haus. Die Tür bleibt offen. In einem Cafe warte ich zwei Stunden, trinke drei Latte Macchiato und gehe dann zurück. Die Haustür steht offen. Er ist verschwunden. Ebenso mein Auto. Die Schlüssel lagen auf der Kommode im Flur. Reiner wird mir ein neues kaufen. Ich habe den Renault nie gemocht. Ich will ein weißes Saab-Cabrio.

 

Der Spiegel im Flur ist zertrümmert. Kapitän Larsen hat sich wohl gesehen. Greta liegt kopflos inmitten der Glassplitter, ihre Flügel sind abgebrochen. Ich hoffe, sie hat ihren chinesischen Schrei ausgestoßen, als er sie in den Spiegel warf. Wir fahren im nächsten Sommer wieder zum Lac de Sainte Croix und ich werde eine neue Grille kaufen, eine in kastanienbraun.