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 Löcher in der Seele von Christine Giegerich

Wenn es Nacht wird, tanzen die Schatten. Hunderte, Tausende. Wohin das Auge reicht, Dinge und Gegenstände, die der Teufel nicht braucht, der Mülltonne knapp entronnen. Billy ist da ja unermüdlich, sie nimmt, was sie kriegen kann, und sie speichert das Zeug, wie ein Eichhörnchen die Nüsse. Sie parkt und liebt und hätschelt es. Tag um Tag. Mehr und mehr. Blickloses Ungetüm. Hungrigen Krokodilen gleich, lungernd an den Ufern der Sehnsucht. Wer näher tritt, kann gar den fauligen Atem riechen.
Sie hausen in den Regalen, in Schränken und Kommoden, und der Fernseher ist auch dicht besiedelt. Sogar der Boden quillt über von ihren Existenzen, die das stumpfe, herbstliche Rot des alten Perserteppichs unter ihrer Leibesmacht begraben.
„He, Billy“, rufen sie. „Heute schon gelebt?“
Wie sie die Schandmäuler hasst! Und doch nichts und Niemanden auf der Welt schmerzlicher liebt!  Sind sie nicht da, nur für Billy da? Vierundzwanzig Stunden, rund um die Uhr. Wie Eltern für ihr hilfloses Baby. Das wiegt die Ironie und den Jammer des Daseins mit Gold auf.
Billy erhebt sich. Kaum einen Fuß rühren kann sie. Kein Platz, kein Raum. Jeder Winkel voll gestopft mit ihren kalten Seelen. Blechdosen in Reih und Glied wie die Zinnsoldaten. Bücher. Einmachgläser. Rotweinflaschen. Weißweinflaschen. Rostige Nägel. Ein Zeitungsständer voller Zahnpastatuben. Und darauf, darunter und dazwischen ein paar Kilo Unrat, in dem sich die Staubläuse tummeln.
Billy starrt ins Gewühl. Etwas Übung braucht es schon, der Gang zum Badezimmer ist nicht so einfach zu finden. Irgendwo, neben dem Elektroschrott unterhalb vom Vertiko, beginnt er. Er zieht sich vorbei an der Blumensäule mit der Kappe aus Yoghurtbechern, und am neu erstandenen und noch verpackten Katzenfutter. Und endet in Couchnähe. Ein schmaler Pfad durch den Beutedschungel. EIN Gang von zweien, wie im Maulwurfsbau.
Billy grunzt zufrieden. Der rechte Fuß fischt einen Hausschuh. Sie dehnt sich, streckt sich, rülpst, geht los, aufs Klo, ehe der dünne Wurm des Fluchtwegs sich mit den Farben der Umgebung vermischt, zurück schlüpft ins bunte Grau der Möbel, Stoffe, Objekte und Substanzen- und Billy sich noch kurz vor dem Ziel in die Hosen pisst.
Fuß um Fuß setzt sie, achtsam wie ein Käfer, der die Fühler im Misthaufen reckt. Flankiert von Leipziger Allerlei im Glas und Stapeln von Unterhosen. Ja die Scheiße nicht berühren! Ja die Ordnung nicht zerstören!
Billy nennt es Ordnung. Die Tussi vom Amt sagt dazu Messie-Syndrom.
Billy schlurft ins Bad, ein Fuß kalt wie Eis, der andere umschmiegt von weichem, warmem, löchrigen Plüsch. Die Invasion der verletzten Gefühle, der Hunger nach Liebe, der nie gestillt werden kann, sie haben diesen Raum längst erobert. Klopapierrollen verdunkeln das Fenster, daneben eine  Sammlung Papiertaschentücher, für alle Fälle. Der Allibertschrank starrt nicht nur vor Dreck, er birst vor Badeschäumen, Seifenresten, leeren Deorollern, Zahnseide gebraucht und neu, Gurgellösung, Hornhautraspeln, Haftcreme, Bürsten und Kämmen, mit Fläumen aus Staub und Haaren.
Der Klodeckel steht offen. Ein schwacher Duft von Ammoniak weht in Billys Nase, wie in der ersten Physikstunde. Sie lächelt, obwohl es zum Heulen ist. Irgendwie schafft sie es nicht, mal durchzuwischen. Irgendwie sind ihr die Hände gebunden. Wann fing das eigentlich an? Früher, da war es ein Sammeln und Horten, und ein gnadenloses Ordnen, und diese Ordnung, die Billy stets mit Stolz erfüllte, beginnt sie allmählich zu fliehen.
In letzter Zeit bemerkt Billy, wie ihr die Pläne entgleiten. Wie sie Fünfe gerade sein lässt, und schon mal die Schuhcreme neben dem Brotkorb platziert, wenn dort nur ein freier Millimeter ist. Wie sie sich zunehmend gehen lässt, und nicht nur an den Wochenenden, wo sie ohnehin keiner zu Gesicht kriegt.
Sie strullert, bei offener Tür. Wen kümmert’s? Von draußen dringen Kinderstimmen ins Zimmer.

Ipse dipse Silbernixe,
Ipse dipse- weg!

Wann war Billy das letzte Mal so fröhlich? War sie es je gewesen? Ein ernstes, ein sich gekehrtes Mädchen taucht vor ihr auf. Die Mutter krank, der Vater Säufer und so gut wie nie daheim. Zum Glück. Wenn er mal da ist, bekommt Billy auch nicht gerade Zuckerbrot.
Den Einkauf hat Billy schon erledigt. Spagetti und gleich drei Gläser Ketchup. Nicht alle für heute, aber falls mal eins ausgeht. Ein paar Beutel Gummibärchen. Und Katzenfutter. Damit sie etwas daheim hat, wenn es erst soweit ist. Sie wünscht sich so sehr eine Katze. Die kann man streicheln und lieb haben.
Sie kocht, nur für sich. Mama kriegt Nahrung über den Tropf.
Später spült Billy das Geschirr und saugt die Teppiche- während die halbe 6d im Schwimmbad liegt.
‚Alle Tage ist kein Sonnenschein‘, singt sie.


Billy schließt das Fenster. Sie spürt noch das Lied auf den bitteren Lippen. Kalt ist die Hand, die ihre Kehle packt. Gedanken, die nie mehr gedacht sein wollten. Greifbar nah. Gedanken an früher und Gedanken an heute, und wie es sein könnte, wenn Billy so wäre wie all die anderen.
Ja, wenn!
Die Lust auf Spagetti wird unterschwellig wach. Irgendwo in den Irrgärten der Küche vergraben, müssen noch welche sein. Aber es ist schon zu spät, sie zu finden. Morgen. Morgen wird Billy sich neue holen, bei Edeka, gleich nach Feierabend.
Sie spült das Produkt des Bierchens fort und zieht die Pyjamahose auf. Aus dem Spiegel glotzt ein fremdes Gesicht. Wild und furchig, wie ein vor dem Säen verlassener Acker. Das trostlose Grau der Augen tief im Gestrüpp der Brauen, die Lippen mit an Geiz grenzender Schweigsamkeit, schmal wie der Schlitz von Billys alter Spardose.
Auf ihrer Wange klebt Nutella. Süße Liebe aus dem Glas. Die frisst Billy pur, mit den Fingern. Dumm, dass sie nicht satt macht.
Zurück durchs Gangsystem, und in die Federn.
Billy teilt das Bett, mit Kuscheltier, alt wie sie selbst. Teddy, früh ergraut und tot geliebt. Little Princess, die Klappaugenpuppe. Billy hat ihr ein Auge eingedrückt, vor drei Jahrzehnten. Quicklebendiges gibt’s auch in der Schlafstatt. Seit neuem. Ein Floh. Mit besten Grüßen von Oskar, Nachbars rot Getigertem. Als Dank für Whiskas’ Thunfisch, Leber, Hühnchenragout und andere Schmankerl, die so Billys Einkaufskörbe füllen.
Sie gähnt zum Steinerweichen.
Nacht. Welcher Traum wird Billy finden? Hin und wieder träumt Billy von der Freiheit. Von einem Zimmer voller Leere. Das Zimmer macht Angst und birgt Folterqual. Wie ein herrlicher Apfelbaum, mitten in der Wüste- doch die Früchte hoch, der Arm zu kurz.
Wie gut, dass Träume nur Schäume sind.
Ihr Blick schweift umher. Durchs Museum der Weltflucht. Sie spürt Ruhe in ihr Herz ziehen. Betrachtet bewundernd die schönen Formen, runde, zylinder- und kegelartige, kugelige, eckige, kleine, große, dicke, dünne, hohe, kurze. Bunte und klare. Und gleichzeitig spürt sie, wie hungrig sie ist. Nach mehr von ihnen. Die Löcher in der Seele stopfen.


Um sechs Uhr ist die Nacht zu Ende. Ein Mondstrahl hat Durchschlupf gefunden, durch eine Fensterscheibe, deren staubige Bräune keinen menschlichen Blick mehr eindringen lässt. Unter Lidern wie Blei hervor sieht Billy den stillen Silbertanz. Ein Tanz auf der Couchlehne, auf einem Klamottenstapel.
Billy sollte jetzt aufstehen.
Der Schweiß bricht ihr aus, beim bloßen Gedanken. Es ist ja dasselbe, tagein, tagaus. Das Leben geprägt vom Suchen. Wie ein Spürhund, FINDEN, den Weg durch die Sammlung, frische Kleidung, Zahnbürste. Da gehen schon mal zwei Stündchen ins Land, morgens, wenn die Arbeit ruft. Manchmal steht Billy da, einfach nur so da, starrt die Luft an. Da ist’s, als ob man schreien will, doch die Kehle zugeschnürt. Gelähmt ist man. Wie die Maus im Auge der Katz.
Es klopft an die Tür. Mit Riesensätzen ergreift der Floh die Flucht.
Billy muss bleiben. Es gibt kein Entrinnen.
„Ich weiß, dass Sie da drinnen sind“, ruft Kantner, der Hausherr, grimmig.
Billys Herz erstarrt zu Eis. Was will er, um diese Zeit? Schnüffeln? Die Nase in den Dreck stecken, wie das Schwein die seine in die Trüffel.
„Ich- bin nicht angezogen!“
Dieselbe Ausrede. Zum hundertsten Mal.
„Soso. Na dann!“, sagt Kantner. „Ich komm noch mal wieder! Vierzehn Uhr?“
Erwartet er Widerspruch? Der fiese Sack kennt ihre Zeiten ganz genau. Weiß doch, wann sie kommt, wann sie geht!  Lauert ihr auf, nach der Arbeit, wie die Schlange dem Mäuschen. Steht stocksteif im Hausflur, auf irgendwas wartend, und sei’s die Wohnungskündigung, die er von Billy nie kriegen wird. Lippen, für den Tratsch wie geschaffen. Augen, die auf Busen starren, und in Billys Einkaufstasche. Was ist wohl drinnen? Ein alter Fisch? Ein Schrumpfkopf? Was treibt Billy da oben, wieso stinkt’s aus der Mansarde?
Er will ihr was anhängen. Will sie loswerden. Bestimmt war er wieder unerlaubt in der Wohnung. Hat Frau Quälgeist vom Amt informiert. Und die Zwangsräumung empfohlen. Was wollen die Ignoranten, Billy kommt sehr gut zurecht! Macht sie nicht ihren Job? Zahlt sie nicht pünktlich die Miete?
Weiß auch nicht genau, woher der Gestank auf einmal kommt. Könnten’s Wanzen sein?
Als ob’s bei Kantner nicht stänke! Nach Gift und nach Galle. Dagegen ist der beste Kammerjäger machtlos, der kann nur die harmlosen Plagegeister…
Im Flur hört Billy den Alten noch quengeln, von wegen Sodom und Gomorrha und so, eine Schande wär’s und man sollt’s nicht glauben…


Der letzte Schuh an den Fuß und fertig. Zeit, zu gehen. Es schließt sich die Tür zum Raum des Lebens. Billys Herz ruft durchs kalte Holz, wie das einer Mutter, die ihr schreiendes Kind im Hort zurücklässt. Doch es ruft nur noch leise. Mit der Zeit stumpft man ab und lernt, damit umzugehen. Billy MUSS gehen. Geld verdienen. Um das jammernde Kind zu nähren.
Achtzehn Stufen Gewalt führen aus der zweiten Etage ins Nichts. Die Straße empfängt die Furcht im Auge. Ein Atmer. Ein Straffen der Schultern. Dann wird Routine in Billy wach.
Achthundertachtundachtzig. Im Hirn reihen sich die Zahlen wie die Perlen auf einer Kette. Billy tut es jeden Morgen. Da ist die Ordnung noch präsent. Sie zählt die Schritte. Meist mit exakt demselben Ergebnis. Es hat so was von Beruhigung. Es hilft so schön beim Ankommen. Weil anderes Denken dabei verblasst, und die Angst, zu versagen, da draußen im Dschungel der Stadt.
Sie will gar nicht sehen, was um sie her geschieht. All diese Menschen auf den Straßen und Gassen. All jenes leere Lächeln. Billy braucht das nicht mehr. Hat sich entschieden, für HABEN statt SEIN.
Die Eingangstür steht offen. Mal wieder typisch, die lernen das nie!
Billy taucht ins Uferlose. Betritt das Klassenzimmer. Eine Welle der Begrüßung schwappt über ihr zusammen.
„Guten Morgen, Frau Rosen!“
Es klingt wie ein magischer Spruch. Doch er kommt nicht recht an, findet den Zauberer nicht, der ihm Leben einhaucht.
Ergeben schaut Billy über den Rand ihrer Brille. Zählt rasch durch. Alle sind gekommen. Um zu lernen, was fürs Leben- ausgerechnet, von Billy!
Der muntere Haufen hat beste Laune, zu so früher Stunde. Kunststück, wenn Mama die Klamotten hinlegt!
Billy zwingt sich zu lächeln, grüßt und fängt an, zu belehren. Hefte aufschlagen. Hausaufgaben raus.
Für einen Moment noch verharrt sie im Schutz des Pultes, die Hände auf dem Rücken versteckt. Sie wirft einen gestrengen Morgenblick in die Runde, der wie stets bei Lars Krüger Halt macht.
Was für ein schreckliches Kind! Wie sieht er nur wieder aus! Hat er einen Kamm gesehen heute früh, den Waschlappen?
Billy setzt sich in Bewegung. Macht die Runde durch die Gänge. Hält bei Lars, und deutet mit spitzem Finger auf den Schreibtisch.
„Was soll das da sein? Ein Heft etwa?“
Lars starrt sie an. Seine braunen Augen sprechen Bände. Wieso hat er nicht besser aufgepasst? Eselsohren, im Matheheft, ausgerechnet! Wo doch jeder weiß, wie fanatisch die Rosen ist, wenn es um Sorgfalt geht! Bei der zu Hause, sagt Mama, muss es blinken wie im Spiegelkabinett.
Weswegen soll Billy ihn nun bestrafen? Wegen der Schlamperei? Oder, um ihn zu lehren, was Vorurteile sind?
Lars sagt keinen Ton. Billy grinst und sagt hölzern: „Okay. Eine Seite Aufsatz: Über den Wert der Disziplin!“
Innerlich piekt sie ein kleiner Wicht und stiehlt ihr das Grinsen. Hat eigentlich schon mal einer in ihren Schreibtisch geschaut?
Kleiner Lars, wenn du nur wüsstest! Wenn sie alle wüssten! Wer viel vom Geld spricht, hat meist keins! Das Chaos sitzt in der Seele, und es kehrt sich nach außen. Kantner spürt das schon richtig. Manchmal kann Billy den Alten sogar verstehen. Aber, wenn er sie rausschmeißt, was soll dann werden? Sie mag sich nicht trennen. Sich trennen heißt Sterben.


Die Stunde zieht sich wie Leim. Nach der großen Pause Lehrerkonferenz. Notenschluss. Billy ist mit den Zeugnissen längst durch. So kennt man sie, pflichtbewusst bis aufs Knopfloch.
Frank Grohmann, Sport und Bio, hat Geburtstag. Er lädt zum geselligen Abend.
„Tut mir echt Leid“, sagt Billy. „Ein wichtiger Termin.“
Sie hat noch viel vor, heute. Einkaufen. Spagetti, Nutella und Konsorten, was halt so anfällt. Zwei, drei Dosen Katzenfutter. Schön will sie es haben, am Abend. Vielleicht ein paar Blumen? Eine neue Vase, in Blau für den Tisch. Wird sich gut machen neben der gelben. Und Schokolade, schwarze, für Kantner. Hat sich noch immer bewährt.
Die Schuluhr schellt.
Billys Herz füllt sich mit Freude. Sie will nur nach Hause. Man erwartet sie schon.