Home       Locations       Events       Unternehmen       Lesungen       Kontakt       Impressum       English      

Für einen tapferen Seemann, der erst das Leben nicht essen wollte und sich dann daran verschluckt hat von Christine Hahn

Für einen tapferen Seemann, der erst das Leben nicht essen wollte und sich dann daran verschluckt hat von Christine Hahn

Zuerst hab ich gedacht, wir kriegen Eschek nie satt. Wie hat Erd das nur ausgehalten? Erd hört halt nur, was er hören will. Ich hab Hunger! Das war der einzige Satz, den ich Eschek hab sagen hören. Die ganze Zeit, während ich renoviert hab. Immerhin, Bier hat auch Kalorien. Eschek, hab ich gesagt, kannst du mal den Fernseher leise machen? Und um ihn herum die Wände gestrichen. Ich hab Hunger! Ich hab versucht ihn zu füttern, mit allem, was ich hatte. Keine Steckrüben wegen dem Arbeitslager. Leberwurstbrot und Rosinenkuchen hat er auch nicht gemocht. Auch kein Kotelett oder Omelett. Keine Trauben, keine Pflaumen. Irgendwann war ich es leid. Erd, hab ich gesagt, ich zahl dir Miete und im Vertrag steht nichts von einem hungrigen halbnackten Säufer, der von morgens bis abends in meiner Wohnung fern sieht. Nein, sagt Erd, aber der Fernseher gehört Eschek. Erd und Eschek. Sie haben sich aneinander gewöhnt. Sie arbeiteten zusammen, sie tranken zusammen, sie machten ihre Schießübungen zusammen. Jetzt, wo Escheks Tochter verheiratet ist, hat er keinen Grund mehr zu arbeiten. Erd sagt, er ist in Rente. Aber muss das in meinem Wohnzimmer sein?

Das Haus von Erd verneigt sich vor der Sonne. Alles läuft Richtung Süden. Ich hab eine Woche Gegenstände gen Süden rutschen und rollen lassen, um die Wohnung auszuloten. Manchmal neigt sich das Haus südöstlich, manchmal südwestlich. Ich sag zu Erd: mir läuft beim Schlafen das Blut in den Kopf – oder in die Füße. Dann schlaf doch bei mir, sagt Erd, ich hab Keile fürs Bett, ein Paar für jede Richtung. Aber das mache ich nur sonntags. Nach einem Sonntag voll stiller Momente halte ich Erds Dröhnen aus. Montags, mittwochs und freitags schlafe ich mit dem Kopf nach Süden, dienstags, donnerstags und samstags mit den Füßen. Vielleicht kann Erd mir auch Keile fürs Bett machen.

Erd und ich trafen uns beim Jagen. Er jagt Wildschweine und ich stille Momente. Wenn man mit Erd im selben Wald jagt, zieht man den Kürzeren. Er ist ein Baum von einem Mann. Manchmal wühlen die Schweine zu seinen Füßen und suchen Trüffel zwischen
den Zehen. Wenn sie das tun, lässt er sie in Ruhe. Bäume jagen keine Schweine. Falsche Tatsachen vorzutäuschen ist nicht sein Stil. So einer ist er nicht. Es gibt also eine Chance - für die Schweine und für mich. Wenn Erd ein Baum ist, kann ich Glück haben und einen stillen Moment fangen. Wenn Erd ein Jäger ist, dann pfeif ich auf stille Momente und raschele und krispele im Unterholz, bis die Schweine weg sind. So fand Erd mich, raschelnd und krispelnd im Unterholz. Er zog mich am Kragen aus den Büschen und die Brombeerranken malten mir Muster auf die Arme. Was haben wir denn hier, brummte er, einen Frischling? Mein Karl war mit, benahm sich normal, krächzte und plusterte sich auf. Schließlich konnte Erd nicht böse mit uns sein und lud uns ein auf ein Bier. In seinem Gartenhäuschen auf dem Transporter aßen wir gekochte Eier, säbelten Schinkenscheiben von der Keule und ich legte ein paar Wacholderbeeren dazu. So kam ich zu Erd. Was jagst du, fragte Erd und ich sagte: stille Momente. Davon wird man nicht satt, dröhnte Erd und ich sagte: doch, schon, wenn mans richtig anstellt. In meiner Nähe wirst du keine stillen Momente finden, sagte Erd. Das macht nichts, sagte ich, ich kann ja gehen und Erd lachte, dass seine Stimme die Sommerluft zum flirren brachte. Dass sich stille Momente fangen lassen, wenn er ein Baum ist, ließ ich lieber unerwähnt.

Das schräge Sonnenhaus von Erd ist eines. Dass mir das Blut in den Kopf läuft oder in die Füße nehme ich in Kauf. Eschek in meinem Wohnzimmer – das ist was ganz anderes. Ich hab Hunger, ich hab Hunger, ich hab Hunger! Das ist lauter, als der Fernseher und das will was heißen. Auch wenn Erd ein Jäger ist, ein Baum von einem Mann, so hat er doch ein zu weiches Herz. Erd sagt, er liebe Eschek, wie einen Vater. Was geht’s mich an? Auf Erd kann ich nicht zählen. Da habe ich mir Karl zu Hilfe geholt. Er tauschte den Birnbaum im Hof nur gegen: Brötchen, Fleischbrocken, Haferflocken mit Quark. Vorratsklumpen versteckt er für härtere Zeiten in jeder Nische der Wohnung. Auch wenn es schmierig ist mit einer Krähe - seit er bei mir wohnt hat Eschek es schwer. Er sitzt auf der Couch mit Regenschirm und fuchtelt wild und flucht. Hat Angst, Karl würde ihn zwicken und hacken. Nie würde Karl das tun und wenn nur aus Freundschaft. Karl freut sich über das lustige Spiel und Regenschirme mochte er immer schon leiden. Als Eschek merkt, das fuchteln nichts bringt, sitzt er ganz still. So still, dass Karl seine Klümpchen von Quark und Fleisch und Brötchen in Escheks Mulden stopfen kann. Erst in die Ohren und zwischen die Zehen und dann in den Nabel. Und da hält Eschek endlich den Mund.

Das Problem mit Eschek ist nun halbwegs gelöst. In meinem Wohnzimmer hockt er nun nicht mehr. Als er zugekleistert unter dem Schirm erstarrte, hat Erd sich seiner erbarmt. Er wohnt jetzt auf meinem Balkon. Erd hat ihn von seiner Kruste befreit. Gegen Sonne und Regen hat er ein Segel angebracht. Ein Kompromiss, sagt Erd. Sonnen könnte ich mich auch im Garten. Bier und Fernseher hat Eschek mitgenommen. Er muss nie groß, weil er nichts isst und pinkeln tut er über die Reeling. Für alle Fälle hat Erd ihm eine Strickleiter dran gehängt. Durch meine Wohnung will Eschek nicht mehr. Er sagt, da liegen überall schwarze Unterhosen. Aber eigentlich hat er Angst vor Karl, der ihn niemals gezwickt, nur gefüttert hat. Eschek sagt Krähen bringen Unglück, genau wie Frauen. Unsinn, sage ich, Krähen bringen Chaos. Das ist dasselbe, sagt Eschek. Hunger hat er immer noch.

Stille Momente sind gut und schön. Mich an Erds Quadratmeter große Brust zu kuscheln hat auch was. Erd, ich habe Hunger, sag ich, aber ich bin nicht Eschek und sage noch: auf Liebe und auf Ochsenzunge. Gut, sagt Erd, ich hole eine Zunge vom Schlachter und während sie kocht machen wir Liebe.

Sie arbeiteten zusammen, sie tranken zusammen, sie machten ihre Schießübungen zusammen. Solange, bis Escheks Tochter verheiratet war und er in Rente ging. Woher sollte ich wissen, dass Eschek sich an Erds Brust gewärmt, seine dürren Beinchen zwischen Erds Waden warm gehalten hatte?
Ich sag zu Erd, Eschek hat Hunger nach Wärme. Nach Wärme von Menschenhaut, nicht nach Suppe und Brot. Das ist normal, sagt Erd. Aber ich bin ein Mann. Wenn ein Mann die Wahl hat eine Frau zu wärmen oder einen Mann, den er liebt wie seinen Vater, was denkst du, wird er tun? Du hast Recht, sage ich, denn es ist Sonntag und ich liege warm und balanciert in seinem Bett. Eschek braucht eine Frau. Erds Brust kann nicht für immer Escheks sein.

Dass Erd Eschek immer noch liebt, wie einen Vater hat er bewiesen. Er konnte nicht mit ansehen, wie Eschek tags und nachts in Wind und Wetter saß und brauner und gegerbter wurde wie ein Seemann und bei Sturm mit dem Segel um die Wette schlotterte. Da hat Erd mit dem Stapler das Gartenhäuschen vom Transporter gehoben und auf den Balkon gesetzt. Ein Kompromiss, sagt Erd, jagen gehen kann ich auch ohne meine Hütte. Ich konnte Eschek und den Fernseher gerade noch durch die Tür ziehen in meine Höhle voll schwarzer kleiner Unterhosen. Eschek hat sich nicht gewehrt und er wiegt ja auch nicht mehr wie ein Buchenblatt. Karl tat still, als sei er nicht da.

Nun schlottert Eschek nicht mehr. Essen tut er weiter nichts. Worauf hast du Hunger? Auf das Leben? Dann musst du aus dem Häuschen kommen, sag ich fast schon laut, aber Eschek spricht nicht mehr. Er schreit nicht mehr: ich hab Hunger. Schon ganz durchsichtig ist er. Das warme Nest an Erds Brust ist meins, sagt seine Durchsichtigkeit. 
Eschek, worauf hast du Hunger, fragt Erd, obwohl er die Antwort weiß. Alle fragen ihn. Sogar Karl bringt ihm weiter Brocken von Aas und alten Brötchen.
Irgendwann erträgt Erd Escheks Schweigen nicht mehr und antwortet an seiner statt: Auf die dicke Käthe und Blutwurst und Kamillentee. Aber die dicke Käthe kann nicht  die Strickleiter hoch, sag ich. Warum schickst du ihn nicht zu ihr? Weil ich ihm nicht das Herz brechen werde, sagt Erd und schweißt eine Treppe an den Balkon.
Lass uns ins Dorf fahren und die dicke Käthe holen, sagt Erd. Ihr Haus ist voll Wolle und Flachs, Knoblauch und Schnaps und Käthe steht laut singend im Regefass und wäscht sich die Achseln. Halt dem Mädchen die Augen zu, Erd, sonst wird sie neidisch, sagt Käthe und lupft einen Busen. Hast du Lust einen verkühlten dürren Seemann aufzuwärmen, fragt Erd. Käthe hat Grübchen an vielen Stellen des Körpers und sie alle lachen. Ist Eschek launisch, weil du ein Mädchen hast? Du würdest mir besser gefallen! Hackst du mir Brennholz, wenn ich dein Seemännlein wärme und wieder zum Leben erwecke? Ja, sagt Erd, ja! Das für diesen, den nächsten und den übernächsten Winter! Er liebt Eschek halt wie einen Vater. Käthe flicht sich Kamille ins Haar. Ich sehe, was ich tun kann! und packt einen Korb mit Blutwurst, Schnaps und Kuchen. 
Und so bringen wir sie zum Sonnenhaus. Feierlich steigt sie die sonnenbe-schienene Treppe empor, die laut unter ihr ächzt. Kamillenblüten regnen herunter. Kaum passt sie in das Gartenhäuschen. Ein bisschen von Käthe quillt aus dem Fenster heraus. Erd und ich setzen uns hin und lauschen. Es vergehen Tage und Nächte und nichts ist zu hören. Wir sitzen da und starren hinauf zum Balkon. Langsam bin ich es leid. Erd, sag ich, lass uns gehen, aber er gibt nicht auf. Karl fliegt ab und an hoch, schaut durch die Tür und zwinkert mir zu. Ein weiterer Tag zieht ins Land, bis wir ein Geräusch vernehmen. Hör mal, ich glaube er lacht, sagt Erd. Und noch eine Nacht müssen wir warten, dann kommt die Bewegung. Erst langsam und wiegend. Dann immer schneller. Auf und ab, hoch und nieder. Der Balkon beginnt zu schwanken, wie ein Schiff, wird zum Schiff und mit jeder von Käthes Wellen scheint der alte Seemann an Fahrt aufzunehmen. Es schwankt und juchzt, dass es eine wahre Freude ist. Wellen branden, Gischt regnet auf uns hinab. Eschek lebt, Eschek lebt, singt Erd und Erd und ich tanzen einen Freudentanz im Garten. Kamillenblüten regnen herunter. Eschek ist erlöst, wir sind erlöst, Käthes Zauber hat gewirkt. Karl zwickt mir zärtlich ins Ohr.

Und dann hören wir es rieseln und knacken. Erst leise, dann laut. Es knarzt und kracht, das alte Schiff, ist dem Wellengang nicht gewachsen. Und dann geht plötzlich alles ganz schnell. Holz splittert, fliegt durch die Luft. Schnell, Erd schnell, rufe ich noch und Erd läuft mit Siebenmeilenschritten zum Balkenstapel und versucht eins zwei drei Balken unter das schwankende Schiff zu staken ...  . Doch es ist zu spät. Das Schiff ist dem Untergang geweiht und zerreibt sich in selbstgemachten Wellen. Dröhnend stürzt es schließlich in sich zusammen.

Erd heult seit Tagen, wie ein Baby. Mein Eschek ist tot, mein Eschek ist tot, erst hab ich ihn verhungern lassen, dann auf die raue See hinaus geschickt. Was hab ich nur getan? Durch nichts ist er zu trösten. Nicht mal jagen will er. Kein Häuschen mehr, kein Eschek mehr. Ich weine nicht um den starrsinnigen Esel. Wir alle haben unseren Hunger. Nicht nur einer kann gestillt sein. Wir haben unser Bestes getan. Ich weine um Erds Schmerz, um einen den er liebte, wie einen Vater und ich weine um jeden blauen Fleck an Käthes warmen Körper, um jedes traurige Grübchen. Jeden Tag wringe ich Erds tränennasse Taschentücher aus und hänge sie aus dem Fenster in die Sonne, dort wo nun ein erschrockenes Loch klafft. Jeden Tag gehe ich ins Dorf, ins Haus voll Wolle und Flachs und lege Umschläge auf Käthes Körper. Ich lupfe ihren Busen und wasche ihre Achseln und kenne jede ihrer Nischen und Buchten und streue Kamille über sie, damit sie bald wieder Wellen machen kann.

Heute sind Erds Augen trocken und Käthes Körper wechselt von blau zu grün. Bald wird sie gelb sein, bald milchweiß, wie eh und je. Wir stehen auf dem Hügel hinter der Kirche im Wind und Karl krächzt ein heiseres Lied von den alten Linden. Erd hat ein Kreuz für Eschek geschnitzt: für einen tapferen Seemann, der erst das Leben nicht essen wollte und sich dann daran verschluckt hat. Käthe sagt, sie hatte ihn liebgewonnen, als er erst mal warm geworden war. Aber so wäre das mit Manchen, von einem Extrem ins andere, finden nie die Mitte. Er ruhe in Frieden, sag ich, Erd schluchzt, Karl krächzt. Und dann trinken wir Schnaps.

Erd kann nicht lange traurig sein. Er ist nun wieder fröhlich. Nur hin und wieder flüstert er, ach Eschek, mein alter Eschek, jetzt hätten wir Spaß. Und wischt sich über die Augen. Jagen war er schon länger nicht mehr. Erd sagt, er vermisst seine Hütte.
Wie eh und je verneigt sich das Haus vor der Sonne. Karl hat sich eine Krähin gesucht und füttert sie mit Brocken von Aas und alten Brötchen, klaut ihr schimmernden Tand und singt ihr heisere Lieder. Die dicke Käthe spinnt wieder Wolle und Flachs, isst Knoblauch, brennt Schnaps und füttert mich mit Blutwurst und Kuchen. Bald hast du so schöne Grübchen, wie ich, sagt sie und drückt mich an ihren Busen. Jeden Tag der Woche liege ich nun an Erds Brust, ausbalanciert und warm und brauche keine eigenen Keile mehr. Ich halte seine Pranken und sage, Erd, sei ein Baum, nur hin und wieder, dann kann ich bleiben. Und sonntags jage ich stille Momente.