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Gute Hähne von Heinrich Beindorf

Als sich Ergang neben mir auf den Hocker hebt, habe ich den Eindruck, dass es ihn anstrengt. Hauchfeiner Schweiß überzieht seine fahlen Poren.
"Und?" frage ich.
"Enchiladas", gibt er zurück. "Mit einer Lehrerin. Im Ran- chero. Aber nix."
Wir nicken schweigend, lassen die Bedeutung einsinken, während sein Pils kommt. Abgunst und Mitleid mischen sich mit Häme und brennender Neugier. Man möchte nicht in seiner Haut stecken. Wüsste aber trotzdem gern, wie es ist – die gerechte Strafe, nach seinen Worten. Zumindest will man mehr hören. Möglichst viel davon. Alles, eigentlich. 
Aber helfen kann man Ergang nicht. Er muss diesen Weg allein gehen. 
Scheiben von Seehechtfilet an Limettenschaum. Mit einer Anwältin. Aber nix.
Schnitzel vom Büffel italienische Art, danach Farfalle con Ficci. Mit einer Psychologin. 
Iskender Kebab, mit einer Schauspielerin, die auch ge-modelt hat. 
Cordon bleu, mit einer Kreativdirektorin.
Pincho moruno con pimientos de padrón, mit einer Abteilungsleiterin im Hauptzollamt.
Im blauen Anzug oder im grauen oder im schwarzen oder in dem Sakko, das gerade nicht in der Reinigung ist. Gestern und vor vier Tagen und Sonntag und am Freitag davor. Siebzehntausend Kalorien, dreihundert Kilometer gefahren und ein vierstelliges Sümmchen weg vom Kartenkonto, dafür ein Meer von Vornamen und Einwegzahnbürsten und Blicken von fremden Balkonen.
"Ist kein Leben mehr", meint er. 
   
Die Wahrheit ist, dass Ergang einen Fehler gemacht hat, für den er  büßen muss – besser gesagt, zwei. Er war sechsundvierzig, als er die Nummer mit seiner Sprechstundenhilfe brachte und Verena keinerlei Verständnis zeigte. Sie behielt die Häuser und die Autos, die Töchter und die Wertpapiere und die Mitgliedschaft im Tennisclub. 
Die Sprechstundenhilfe behielt ihre Verachtung und das kleine Apartment.
Ergang selbst behielt nur seine Praxis und einen Sumpf von Selbstmitleid, dazu Zahlungsbefehle. Vom stolzen Familienpaten und Herrn über Pool und Doppelgarage schaffte er es zum zerzausten Strolch mit Zweizimmer-Souterrainwohnung in unter einem Jahr. 
Dabei habe er zu keinem Zeitpunkt, wie er trotzig feststellt, anders handeln können.
Aber das war nur der erste Fehler.
Eigentlich war er schon fast wieder obenauf. Die Töchter redeten wieder mit ihm. Er hatte sich die abgewetzte Lederjacke und das Abo für das Schauspielhaus geleistet, über den Kauf einer Harley nachgedacht.  Begann, sich für Städtereisen zu erwärmen, ging in Fitnessläden und Jackson-Pollock-Ausstellungen und sah sich im Internet um. An Sonntagen joggte er über die Parkplätze.
Er war solo und das war gut so, fand er. Nur eben so allein. Ein Freund, der Rechtsanwalt war und mit achtunddreißig die Nummer mit der Kanzleigehilfin gebracht hatte, brachte ihn auf HEARTPOINT. 
"Eine gottverdammte Dating-Agentur? Eine Partnervermittlung? Bist du bescheuert?" fragte Ergang.
"Wart's ab," sagte der Anwalt listig. "Ist besser als gar nichts. Nicht stressfrei, aber spannend. Wirst du sehen."
  
HEARTPOINT rühmt sich seiner Exklusivität, einer vor Format und Klasse nur so triefenden Klientel. Wenn dein Lifestyle und dein Einkommen so gehoben wie deine Ansprüche sind, liegst du dort richtig – es geht sophisticated zu, wenn auch nicht unbedingt cool. Du unterschreibst einen Vertrag und kriegst so viele Dates, wie sich für dich interessieren – ein Kontakt pro Woche ist garantiert.  Aber Ergang ist Orthopäde, obschon momentan im Souterrain wohnhaft. Er hat etwas von Bruce Willis. Er kriegte eine Menge Dates.
"War mit einer Augenärztin im L'Angolo und gestern mit einer Architektin im Coq Hardi", grinste er verschmitzt. "Es läuft, sage ich euch. "
"Und? Was machst du mit denen?" wollte Bo, der Wirt vom Bistro Isabella, wissen.
Die Sache schien mir klar genug, doch Ergang verschluckte sich fast. 
"Na, essen gehen," gab er zurück, als sei das die größte Erfindung seit der Baccara-Rose. "Was sonst? Und dann ... hängt davon ab."
Wir nickten. Stellten uns vor, wie er sein Pensum absolvierte.
Tortillas rojas de cerdo, mit einer Notarin. 
Filetscheiben vom Schwein in Dunkelbiersauce, mit einer Privatdozentin für niederländische Literatur. 
Carré d’agneau rôti aux aux baies roses. Mit einer Sport-journalistin, die Porsche fuhr und Boris Becker kannte. 
Fajitas de cerdo. Dito. 
Aber nix.
   
Es dauerte einen Monat oder zwei, bis er wieder im Bistro Isabella erschien. After Shave umwölkte ihn wie eine ungute Aura. Er wirkte sorgfältig gestylt, aber auch seltsam – nein, unnatürlich – wohlgenährt, wie uns dünkte. Die Linien unscharf, nein verschwommen, die Hände rosig, wie von Cremeseife-Exzessen. Ein nicht mehr wirklich guter Hahn, wie mir schien. Aber im Glashaus spiegelt sich ja manches.
"Was geht?" wollten wir wissen.
"Dates," seufzte Ergang. "Ein Meer davon. Fotografinnen, Medienfrauen. Was die Welt so hergibt. Ihr glaubt es nicht."
"Essen gehen, was?" feixte Bo. "Und dann ... hängt davon ab?"
"Genau", erwiderte Ergang. " Und immer schön Konversation geübt, sensibel und kultiviert. Woche um Woche. Telefonate und Mails gewechselt, Termin- und Bestandspflege gemacht. Ein Vollzeit-Job. Ein Abgrund."
Wir ließen uns die Ereignisse der letzten Tage skizzieren.
Lammtopf mit Curry. Mit einer Simultandolmetscherin. 
Risotto alla carbonara con carciofi e gremolata. Mit einer Steuerberaterin. 
Putenbrust à la croisière, mit einer Hausfrau, deren Exmann Pilot war und die Nummer mit der Bordbegleiterin gebracht hatte.
"Und?" fragte ich. "Nichts dabei?"
"Die Putenbrust", sagte Ergang. "Die war nicht übel."
"Verarsch'  uns nicht," mahnte Bo.
Man sah, wie es in Ergang arbeitete. Als stünde er an einer Schwelle, an der ihn etwas nur mühsam zurückhielt. 
"Die Spreu vom Weizen zu trennen," ächzte er schließlich, "ist echt Fronarbeit. Mannomann, da geht's nicht bloß um große Gefühle. Das ist Strategie. Psychologie. Analytik. Du brauchst Zeit und Mühe, Geld und Geduld und Erfahrung. Der Druck ist enorm – das schafft Misstrauen.  Es geht um alles oder nichts, also darfst du keinen Fehler machen. Willst nichts überstürzen. Erst noch mal weitersehen. Aber schon hast du schon wieder so ein Essen drin." 
"Manche", suggerierte ich, "sind doch sicher auch ganz ..."
"Klar", erwiderte Ergang. "Viele. Aber das sind die schwersten Fälle. Du fragst dich nämlich, warum sie dir dann wohl gegenübersitzt. Was ihre Macke ist. Ob sie dominant wird oder kokst, auf Truffaut steht oder an Dyslexie leidet  oder keine Rentenversicherung hat. Und um das herauszukriegen, brauchst du mindestens vier Gänge."
"Fett", sagte ich. Wollte das Wort zurücknehmen, aber zu spät.
"Genau", sagte er wieder. "Fressen und Sex, Autos, Wohnungen und Egos. Im Grunde unlösbar, ein Paradoxon. Du sollst dich meistbietend versteigern, aber dabei zugleich erklären, wieso es bisher noch keine ernsthaften Gebote gab. Ah, weil wir eben alle so ganz besondere Menschen sind ... Die's ja eigentlich nicht nötig haben, aber dann doch, irgendwie. Nur vielleicht nicht hier und jetzt. Vielleicht eher mit jemand anderem, beim nächsten Mal. Herrgott, im Grunde ist es wie im richtigen Leben – die, die es bringen, rufen nie zurück. Ich bin müde, verdammt." 
Er seufzte. Bestellte schwarzen Kaffee. Sah augenrollend auf seine Armbanduhr. Und zog auch schon wieder in den Kampf.
Stifado vom Kaninchenschenkel mit Perlzwiebeln. Noch einmal mit der Notarin. 
Adana Kebap auf Fladenbrot. Mit der Notarin und ihrer ältesten Tochter. 
Getrüffelte Poularde in der Meersalzkruste. Mit einer amerikanischen Tanzlehrerin. 
Patlican Kebap, mit einer, die er vergessen hat.
   
Der Radius seiner Kontakte erweiterte sich. Ergang lernte Kreisstädte und Bundesländer kennen. Er traf Frauen, die in restaurierten Bauernhäusern lebten, nächtigte in Bürgervillen und einsamen Bungalows mit Aussicht. Irgendwann leistete er sich einen neuen Wagen, um die Strecken zu bewältigen. Sein Terminkalender glich dem des Bürgermeisters. In seinem Kopf verschwammen Parfums und Namen und Gesichter, Hoffnungen und Biografien und Kalküle wie Meeresfrüchte in einer Zarzuela. Fast ein Jahr war ins Land gezogen, doch er war nicht wirklich fündig geworden. Trotzdem schenkte er sich keinen Pardon. Und in den Landgasthöfen war es dasselbe.
Suprêmes de caille à la provençale. Mit einer Chefsekretärin.
Jakobsmuscheln, mit einer Ingenieurin. 
Es gab Tage, zugegeben, wo sein Feldzug lichte Seiten zeigte. Er traf auf Schönheit und Humor, Geist und Geld, wenn auch selten in Kombination. Ein paarmal kehrte er zufrieden wie ein Kater nach Hause zurück und glaubte, die Suche habe ein Ende. 
Eine Pfarrerin kochte ihm Ossobuco in Rotweinsauce, wozu sie über Kochshows redeten. Die sei wirklich etwas Besonderes gewesen, sagt er. Aber schon beim Abwaschen ließ sie ihn wissen, sie habe nicht vor, sich jetzt immer so ins Zeug zu legen.  
Mit einer Heilpraktikerin, die aber noch verheiratet war, genoss er Tofu und Spezialmüsli, was ihn wirklich bereicherte. 
Doch im Endeffekt  währte es nie lange, bis er wieder unterwegs war, befeuert von einer Bindungsangst, die zunehmend panischer wurde, und der Hoffnung, im nächsten Garten am Horizont doch noch fetteres Obst zu finden, die Piemont-Kirsche seines Lebens.  
Aber nix.

Als Arzt entging ihm der suchtbildende Charakter seiner Aktivitäten nicht. Ergang begann, die Erschöpflichkeit der Reserven zu fürchten. Nahm die steigende Dosis, die Gewöhnung und Veränderung seines Körpergewichts ebenso unbestechlich wahr wie die ersten eigenen Ausfälle. 
Einmal hätte er beinahe mit derselben Frau zweimal in demselben Laden diniert, weil er sich nicht mehr an sie erinnerte. 
Ein anderes Mal beschrieb er einer Kandidatin achtlos einen hoffnungslosen Trottel, von dem ihm seine letzte Verabredung erzählt hatte, und dann stellte sich heraus, dass sie den  am Wochenende treffen würde und sich viel von ihm versprach.
Überhaupt – die Welt wurde klein, der verbale Austausch zunehmend dürrer. Ergangs Konversation war zu einem Standardformat geliert, mit fixen Pausen und Pointen. Mit Kandidatinnen, die nicht in Frage kamen, redete er oft gleich über seine Date-Erfahrungen oder deren gastronomische Seiten.
Doch er wolle es zu Ende bringen, sagte er. Man schulde sich das.
   
Mit Liebe, soviel war klar, hatte all dies nur noch marginal zu tun. Der Trip führte Ergang an seine Grenzen. Und außer eben dieser Erfahrung und Erkenntnis hatte er ihm eigentlich nicht viel gebracht, wie uns schien – außer Spätzle und Gnocchi und Nockerln und Schweinshaxen und Filet Rossini in Trüffelsauce. 
Steinbutt auf Kapern-Kartoffeln-Ragout und Kabeljau im Ingwer-Milch-Sud pochiert mit Sellerie-Kumquat-Püree.
Pizzen und Krustentiere, Pilze und Kräuter und dem Aroma von zweihundert Sorten Balsamico.
Ganz zu schweigen von den Nachspeisen – Baklava, Crême brulé, Pan de calatrava, Tiramisu.
All den Riojas, Canonaus, Pinots grigios und Merlots.
Den Mirtos, Grappas, Ouzos und Rakis.
"Kannst du," frage ich neugierig, "nicht mal eine auslassen? Oder ablehnen?"
"Ist gegen die Regeln", murrt er.
"Oder mal nur 'ne Vorspeise ....?"
Er schüttelt den Kopf.
"Zeigt keinen Respekt," gibt er zurück. "Heiratsschwindler machen so was"
"Und wie lange," fragt Bo besorgt, "hält dein Körper das aus?"
Ergang zuckt die Schultern. Blickt dann zu Boden, wie einer, dem die Auswege wirklich knapp werden. Die Gürtelschnalle verschwindet unter seinem Nabel, sehe ich. Er wischt  sich irgend etwas aus dem Auge. 
"Ein Inferno," bricht es schließlich aus ihm heraus. "Ich wollte doch bloß noch mal jemanden kennenlernen und nicht warten, bis es auf der Straße passiert.  Aber die Bedingungen sind so, dass immer nur eine zur nächsten führt. Keine Vertiefung, keine Annäherung, kein Ende in Sicht. Nur dieses dia-bolische Marathon – ich besteige fremde Weiber, esse und labere nonstop. Dazwischen kaufe ich Klamotten, plane die Logistik all dieser Treffen und Wiedersehen, synchronisiere mit aller Kraft das ganze irrwitzige Panoptikum. Rase in der Gegend herum. Verdiene inzwischen weniger, als ich dafür ausgebe. Schlafe nicht mehr und lese nicht mehr. Kann mich nicht mehr entscheiden und  habe kaum noch was zu erzählen, außer, wie es auf dieser absurden Jagd gelaufen ist. Es frisst mich auf. Ich werde so fett und blöd, dass mich bald keine mehr anguckt, die etwas taugt. Ein Teufelskreis. Es bringt niemanden weiter. Ekelhaft."
"Widerlich", pflichten wir ihm bei.
"Ja, ich bin es satt," sagt Ergang entschieden. "Absurd ist das. Unanständig. Und es lohnt sich nicht mehr. Ich gebe auf."
    
Und das tut er auch.
Er ruft bei dieser Dating-Agentur an, um den Vertrag zu kündigen. Man bedeutet ihm, dazu gälte es doch bitte persönlich vorbeizuschauen. Um es schriftlich zu machen, und schon wegen des Feedback-Gesprächs. So viel Stil müsse sein. 
Als er bei HEARTPOINT hereinhastet, steht dort die Mittagspause an. 
Eine Frau sitzt in der Wartezone vor dem Sekretariat und wippt mit dem Fuß. Sie ist winzig und rotblond, dabei rundlicher, als sie eigentlich sein dürfte. Ihr letzter Mann sei Tiefbautechniker gewesen, lässt sie durchblicken – er habe die Nummer mit der GoGo-Tänzerin gebracht, auf Montage in Fernost. Vom Abteilungschef bis auf die Parkbank in knapp drei Monaten – wenn das kein Rekord sei. 
"Jaja," sagt Ergang. Mit der Leichtigkeit eines Mannes, den derlei inzwischen nicht mehr zu interessieren braucht. 
Aber sie sei es jetzt leid, fährt die kleine Frau fort. Sie könne nicht mehr. Die Völlerei, die zwanghafte Maßlosigkeit ginge ihr an die Substanz. Allein zu sein sei eine Sache, eine total fixierte Sykophantin zu werden eine andere. Sie kündige hier jetzt. Schluss mit dem Zirkus. Nichts wie raus. In Afrika verhungerten die Leute, Menschenskind. 
Ergang gefällt, wie sie redet. Sie heißt Claire. Er lädt sie zum Joggen über die Parkplätze ein. 
Unterwegs teilen sie an einem Kiosk eine Flasche stillen Mineralwassers und eine kleine Tüte Chips. Sie verknallen sich unbändig ineinander. Es erweist sich, das sie bei ihm um die Ecke wohnt. 
Seither war er nur noch einmal im Bistro Isabella.
"Und?" frage ich. "Macht ihr so?"
Er zuckt die Schultern. 
"Was alle so machen. Lieben uns und fetzen uns. Fahren jetzt zusammen in Urlaub. Ich sage euch, nur eins ist schlimmer, als eine Frau zu haben. Und das ist, eine Frau zu suchen. Man vergisst das."
Ich sehe mich um. Frage mich, ob er das alles nicht hätte einfacher bekommen können, und weiß es beim besten Willen nicht. Bo stellt ein Pils vor ihm auf.
"Bring sie doch mal mit," sagt er. "Zu uns nach Hause. Ich koche uns 'n schönes ..."
Ergang fährt hoch wie von einem Reptil gebissen. Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tresen, hart und gequält. 
"Sag das verdammte Wort nicht," winselt er. 
Wir begreifen, dass es noch zu früh ist.