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Und abends auf dem Entenstrich von Kerstin Kempker

Mit Blicken und Kopfrucken ordern die Jäger den Nachschub. Die Bedienung ist flink. Die Augen im Schankraum, zapft sie das Bier und füllt die lange Linie der Schnapsgläser. Fünf Kurze, drei Helle, das ist der Schnitt, den Marlies auf den Bierdeckeln ausmacht. Sie nickt in die Runde, klopft Klaus auf die Schulter. Einer der Männer schiebt ihr einen Stuhl neben Klaus. Die Hunde haben sie draußen gelassen und reden doch am liebsten von ihnen, den treuen Wilden.
„Wenn er nicht spurt, Korallenhalsband. Der weiß, was ihm blüht“, sagt der, der als einziger am Tisch seinen Jagdhut trägt, grüner Filz mit Kordel.
Dass es sich bei dem Halsband nicht um Schmuck handelt, sondern um eine Züchtigung, liest Marlies in ihren Gesichtern.
„Dann hab ich ihn abgenickt“, sagt ein Junger, frisch zum Jäger geschlagen. Joho! Der erste für alle gewesenen Sünden. Joho! Der zweite soll an das Waidwerk dich binden. Joho! Der dritte aber soll dich erheben zum Waidgesellen fürs ganze Leben. Das Breitbeinige hat er schon drauf, am Beiläufigen muss er noch üben. Mit dem Nicker hat er den Bock erlöst, ein Stich ins Gehirn.
Marlies sitzt steil, ein wachsamer Hund, zwischen den Männern, die am runden Stammtisch nicht einfach nur sitzen, sondern ernst und gewichtig ansitzen zur Jagd am kommenden Tag. Das Mädchen apportiert immer häufiger Helle und Klare, Bierdeckel müssen gewendet werden. Klaus, der mithalten will, einmal im Leben dazugehören zu den echten Kerlen, Klaus kippt gleich vom Stuhl.
Abenteuer, Gefahren, einsame Entscheidungen, passgenau gefällt und getroffen. Die Helden überbieten einander. Ihr Jägerlatein tönt mal laut, mal lallend. Ob sie das alles für ihn tun, den Neuen und seine Frau? Es ist ihr Geburtstagsgeschenk, ein Jagdwochenende, und er sitzt da wie ein Kind unter Männern, mit roten Wangen, staunend und glücklich.
„Ich gehe kurz raus“, sagt sie schließlich, „Luft schnappen.“
Das müssen sie akzeptieren, die Naturburschen, dass der Schankraum verräuchert ist. Die Hunde lassen sie draußen deswegen. Ein kleiner Tritt und Klaus begreift, er spielt den Beschützer. Marlies hakt sich unter bei ihm.
„Die Jungs sollten schlafen gehen,“ sie atmet die würzige Nacht ein, „wenn sie morgen treffen wollen.“
Nach wenigen schwankenden Schritten im lauten Kies, die Hunde schlagen an, überbieten einander, setzen sie sich auf eine Bank am Waldrand und warten auf Stille.
„So schwarz, Klaus, ist der Himmel nur hier.“
Sie legt ihren Hinterkopf auf seinen Arm und schaut hinauf in das tiefe Schwarz, das ihr aus vielen Augen zuzwinkert.
„Ist es gut so? Ist es so, wie du es dir gewünscht hast?“
Nachtvögel schreien. Hinter ihnen raschelt und knackt es im Wald. Klaus nickt. Mit der freien Hand reibt er sich die Augen trocken. Ein Kind, das sich schämt. Ein starker Mann, ein Hau-den-Lukas war Klaus nie. Nein. Sie liebt seinen weichen Bauch und die weiße Haut, die sich auf dem Schädel hin und her schieben lässt. Ihr großer Bär, in dessen Fell sie sich eingräbt zum Schlafen. Man darf ihn nicht reizen.

Am Morgen steht Klaus früh auf zum Jägerfrühstück.
„Schmuck siehst du aus, mein Lieber. Waidmannsheil!“
„Waidmannsdank!“
„Oh, das darfst du nicht sagen, noch nicht. Vorher bringt das Unglück, das hab ich gelesen. Sag auch Waidmannsheil!“
Er sagt es und verlässt das Zimmer sehr aufrecht, hineingewachsen in sein Amt als Jagdgast. Marlies wird später aufstehen. Es ist Wochenende. Sie hat Zeit, einen ganzen Tag hat sie für sich. Lange betrachtet sie den goldgerahmten röhrenden Hirsch.
Die Jäger fahren vor in ihren Geländewagen, Hunde springen heraus. Sie hört die Befehle, die dunklen Stimmen. Ob ihre Frauen in den Dörfern ringsum schon die Schürzen anlegen, Pfannen und Bräter aus den Schränken holen und ausputzen? Ob sie sich freuen auf das abgezogene, ausgeweidete Wild, das ihnen die Männer am Abend auf die polierte Arbeitsplatte werfen? Wir nehmen nichts mit, kein totes Tier kommt ins Auto. Das hat sie sich ausbedungen.
Morgen ist alles vorbei. Er wird ihr erzählen. Noch Wochen wird er erzählen von der Jagd, dem Ansitzen am Morgen, dem Abtreiben der Dickung, von kapitalen Böcken und abends auf dem Entenstrich. Von der Strecke, die sie gelegt haben aus all den Toten, einer Strecke, die von Erzählung zu Erzählung länger wird, einer schier endlosen Strecke, die abzugehen man Stunden braucht, Tage.
Nach einem späten Frühstück allein im Schankraum, der noch immer nach Rauch riecht und nach Männern, legt Marlies sich bäuchlings auf die Bank am Waldrand und liest. Entfernt hört sie Schüsse, manchmal kurze Rufe, ein Bellen, tot verbellt. Das bunte Laub, das warme Licht des Spätsommers. Vögel, noch nicht vom Himmel gefallen, zwitschern wild durcheinander. Die Männer schießen im Wald. Die Hunde haben sie hungern lassen, damit sie leer sind und voller Begierde.
Marlies kommt ans Ende ihrer Geschichte von Liebe und Leid. Ein ordentliches Ende, wie sie es mag. Die Fragen beantwortet, die Zukunft gesichert. Kitsch, gut, heile Welt, ja. Sie streckt sich auf den Rücken, verfolgt die Arbeitsgänge einer emsigen Spinne und beschließt, sich zu bewegen. Eine Runde um den See, der zwischen den Bäumen aufblinkt. Die letzte Sonne nutzen, sich müde laufen und hungrig auf das Fleisch, das sie am Abend wird essen müssen, will sie kein Spielverderber sein.
Ihre Schritte, ihr Atem, die Feuchtigkeit auf Brust und Rücken. Der Hase spürt sich, hat einer der Männer am Abend gesagt. Im weichen Waldboden legt sie ihre Spur. Zur Rechten der See, ahnungslose Enten gründeln im Wasser, es ist eine geschäftige Unruhe im Schilf, läuft sie an allem vorbei. Der See bleibt ihr treu. Er ist die Mitte, die sie umkreist, eine friedlich spiegelnde Mitte. Die Sonne macht sich fertig zum letzten Akt, plustert sich auf, errötet, legt einen breiten Strahl aufs Wasser. Marlies will dabei sein beim Untergang. Sie findet eine gangbare Stelle, zieht ihre Schuhe aus, hängt die Kleider an einen Ast und gleitet nach ein paar tastenden Schritten ins immer noch warme Wasser.
Es fühlt sich an wie Öl, kompakt, ein schweres Wasser, das trägt. Bevor sie hinausschwimmt, schaut sie zurück, um sich die Stelle des Einstiegs zu merken. Im Schilf glitzern die feuchten Federn der Stockenten. Sie kann sich nicht satt sehen an ihrem kräftigen Violett, dem tiefen Nachtblau, fluoreszierendem Grün, Farben wie dichtester Samt. Ein anmutig grundloses Glück, das auf sie abfärbt, in dem sie badet, sich suhlt. Auf seinem rotgoldenen Strahl schwimmt sie ganz ohne Eile, eine angenehm warme Leere im Kopf und nahezu geräuschlos dem halben Sonnenball entgegen, als schlagartig über ihr die Vögel schreien und einstreichen. Ein Kreischen und Knallen und Aufplatschen, es will nicht enden, ein Aufruhr am Himmel und im Wasser. Sie schaut nicht auf, schwimmt nur immer weiter dem verschwindenden Rot zu.
Ein einziger Gedanke, die Jagd, sie ist auf dem Entenstrich, sie ist dabei. Etwas trifft sie am Kopf. Ist es ein Flügel, ein Blitz? Dann geht das Licht aus, der Ton.

Nach dem Morgenansitz, verteilt auf die Jagdkanzeln, sammeln sich die Männer an der Strecke zur Brotzeit. Die Hunde haben sie mit dem Aufbruch des Rehwilds genossen gemacht und schieben sich selber daneben im Stehen, ein Jäger setzt sich nicht, Brot und Schinken vom Nickmesser in den Mund, dazu reichlich Klaren. Klaus lehnt an einem Baumstamm und denkt an Marlies, die noch im Bett liegt, an ihren warmen Körper.
Er ist nur Gast. Ohne Jagdschein darf er nicht schießen, hat der Jagdführer gesagt und ihm als Ersatz ein Fernglas gegeben. Das Schweigen hat ihm am meisten gefallen, der heilige Ernst, etwas wie Ehrfurcht vor dem unbescholtenen Wild, der eigenen Entschlossenheit. Er kann nicht genau fassen, was diese raubeinigen Kerle so andächtig macht. Immer geht es darum, es richtig zu machen, gut zu schießen, nicht einfach nur zu treffen, sondern in der einzig richtigen Sekunde den Schuss anzutragen, der das Tier auf der Stelle verenden lässt und die Trophäe nicht beschädigt. Wer verschießt, hat verloren. Jede Nachsuche setzt den Jäger matt. Und doch haben sie die meiste Zeit damit verbracht, die Hunde auf die Schweißfährten zu schicken.
Die Zeit vor dem Schuss. Es hätte immer so bleiben können, gemeinsam im Ansitz in angespannter Stille wie Kinder vor der Bescherung warten auf das, was kommen wird. Ihm entgegenfiebern, freudig und voller Angst, dem was da kommt, nicht gewachsen zu sein.
Das Danach ist ihm zu blutig, zu laut. Die triefenden Lefzen der Hunde, das Aufschlitzen der Leiber. Einmal vom Ansitz abgebaumt, ist es vorbei mit der Ehrfurcht. Klaus will das angebotene Brot und den Schinken nicht von ihren eben noch blutverschmierten Händen nehmen.
Er hat Hunger, möchte sich setzen, ausstrecken im Gras. Aber die Strecke, das sind die Toten. Er trinkt, obwohl die Sonne ihm aufs Haupt scheint und er tagsüber nie trinkt, erst recht keinen Schnaps. Eine richtige Pause wäre schön, Mittagsschlaf, neben Marlies liegen, ihre widerspenstigen goldbraunen Locken. Ihm ist schwindlig. Er tritt in den Schatten, winkt kraftlos herüber und geht zum Gasthaus zurück. Marlies ist unterwegs.
Duschen, ein Brot, ein Kaffee, dann geht es wieder. Er ist bereit. Als er die Männer auf dem Parkplatz rumoren hört, steigt er in seine hohen Gummistiefel, extra gekauft für diesen Tag, und tritt etwas steif vor die Jäger. Sie sind beschäftigt, Flintenputzen, Streckezählen. Er setzt sich auf die Bank am Waldrand und schaut ihnen zu.
Sein Traum, die Jagd war immer sein Traum, ein Jugendtraum, der mit ihm älter wurde, verblasste und zusammenschrumpfte auf dieses Jagdwochenende. Dass sie es ihm geschenkt hat, obwohl ihr gegraut hat davor, Jagdunfälle hat sie ihm in der Schusszeit beinahe täglich aus der Zeitung vorgelesen, dass sie es trotzdem getan hat und sogar mitgekommen ist, das wird er Marlies nicht vergessen. Sie wäre die bessere Jägerin, geht es ihm durch den Kopf, während die Männer noch immer wichtig tun bei ihren Wagen und per Handy ihre Erfolge durchgeben.
Sie lieben ihre führigen, ergebenen Hunde. Kinder, die Erwachsensein spielen. Hüter der Natur, Herrscher zu Land, zu Luft und zu Wasser. Die Flinte auf dem Rücken, den Jagdschein in der Tasche, auf dem Kopf das wetterfeste Hütchen mit wippender Feder. Wir putzen uns raus, wir gehen auf den Entenstrich, und er ist mitten dabei.
Er wird lachen, später wird er mit Marlies lachen über das ganze Spektakel. Im Bett werden sie liegen und sich kringeln vor Lachen, bei einem guten Rotwein, bloß kein Schnaps mehr, nie mehr.
Als die Sonne tief genug steht, ziehen die Männer mit den Hunden zum See. Im Schilf postieren sie sich gegen das rote Licht, den Blick zum Himmel, und warten wieder still auf den Einfall der Wildenten. Klaus steht in seinen Stiefeln im Schlick neben dem jungen Burschen, am Vortag zum Jäger geschlagen, ich will als Jäger vor allem Heger und Pfleger sein, mit seinem Retriever. Die anderen sehen sie nicht. Als die Schar anstreicht, geht der Jäger in Anschuss, der Hund richtet sich auf. Jetzt, so soll es bleiben, auf immer so zukunftsträchtig verharren. Es bleibt nicht so, ein Lärm, ein Rufen.
„Ich hab sie, sie himmelt, such verloren!“
Der junge Mann weist den Hund ein auf die Entenschleppe, schießt wieder.
„Geflügelt.“
 Noch einmal. Dann sind alle Hunde im Wasser.
„Willst du auch?“
Man duzt sich, der andere reicht ihm sein Gewehr.
„Nicht zu flach wegen der Abpraller. Versuch es einfach.“
Klaus folgt einer der Enten, die aufgestöbert von den Hunden aufgeflogen ist; er folgt ihr hinunter, drückt ab und sieht einen kurzen Moment etwas Dunkles auf dem Wasser.
„Schick den Hund, dorthin!“, ruft er dem Jäger zu.
Der Hund kann nichts finden. Klaus gibt das Gewehr zurück.
„War wohl nichts, geflügelt vielleicht. Ich dachte nur, einen Moment lang.“
Jetzt ist der Junge wieder am Schuss. Klaus sagt nichts. Er schwitzt, schlägt die Stechmücken tot. Um sich nützlich zu machen, den Jäger nicht zu verdrießen, er weiß es nicht, bringt er die Enten zur Strecke, legt sie in Reih und Glied, wie es Brauch ist.
Er hat geschossen, ist einer von ihnen. Er muss bei ihnen bleiben, bringt alle Enten zur Strecke und am Schluss, als sie abgezählt sind, fehlt keine. Schwitzend folgt er den anderen zurück. Sie scherzen über seinen Eifer.
„Entenfieber“, sagen sie und laden ihn ein, mit ihnen zu trinken.
Er folgt ihnen ins Wirtshaus, trinkt Klaren, noch einen und noch einen. Vollgeludert liegen die Hunde im Hof. Die Männer geben in der Küche ihre Bestellung für das Essen auf, erzählen sich alles noch einmal, laut, immer lauter. Schlagen sich auf die Schenkel und ihm, prosten und singen, ein voller Klang, der ihn trägt und wehmütig stimmt. Sie essen, langen kräftig zu, und Klaus ist einer von ihnen.
Als alle gegangen sind und ihn eingeladen haben zur nächsten Jagd – sie sind nicht gegangen, sondern gefahren, Alkohol hin oder her –, geht er noch nicht auf das Zimmer, sondern nach draußen, ein paar schwankende Schritte im lauten Kies, und setzt sich auf die Bank am Waldrand.
Er kann das Zimmer sehen. Es brennt kein Licht. Marlies ist nicht fort, der Wagen steht immer noch da. Sie könnte schlafen.
Er schaut in den Himmel hinauf. So schwarz ist der Himmel nur hier.