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Tilman Hoffer: Endstation 

Ich hatte Lust zu kotzen. Kennen Sie das Gefühl, das einen überkommt, wenn man an einem Samstagnachmittag in einer Bahnhofskneipe sitzt? Man bekommt einen Eindruck, wie alles enden könnte.

Der Fußboden war im Schachbrettmuster gekachelt und ziemlich staubig; im Fernsehen über der Bar lief ein Boxkampf ohne Ton. Nur an drei Tischen waren die Stühle überhaupt herunter gestellt. Heruntergezogene Jalousien; Sonnenschein schien schlecht fürs Geschäft zu sein. Dafür waren sämtliche Neonlampen eingeschaltet und verbreiteten  schneidendes, kaltes Licht. An der Wand ein vergilbtes Kinoplakat. „Casablanca”. Man hatte Sinn für Ironie.

Am Tresen stand ein Mann Mitte dreißig und trank Calvados. Zerknitterter Anzug, Seitenscheitel, kariertes Hemd, glatt rasiert, mit dem Leben fertig. Vielleicht war er Schaffner oder Museumswärter oder Postbote – es gibt ja tausend Möglichkeiten, eine deprimierende Existenz zu führen.

In einer Nische saß ein glatzköpfiger Fettsack neben einer jungen Asiatin, die ihn aus großen Mandelaugen ansah – gekauft oder nur gemietet? Der Museumswärter guckte trotzdem in regelmäßigen Abständen neidisch zu ihnen herüber.

Ich trank das dritte Bier auf nüchternen Magen. Der Wirt hatte mir bei jeder neuen Bestellung ein „Auf Dein Wohl” hingemurmelt, ohne mit der Wimper zu zucken. Obwohl ich seit anderthalb Jahren volljährig war, hatte er mich geduzt. Was mich nicht störte, im Gegenteil. Aber eine gemütliche Atmosphäre wollte irgendwie dennoch nicht aufkommen.

In regelmäßigen Abständen zog ich eine Zigarette aus meiner Jackentasche, zündete sie an und legte sie in den Aschenbecher. Fünf Minuten später drückte ich sie dann aus. Ich wartete. Und zu allem Überfluss wartete ich auf die Frau, die ich liebte.
Kennen Sie das Gefühl, wissentlich das Falsche zu tun?

Es war jetzt fast ein halbes Jahr her. Fünf Monate und dreiundzwanzig Tage. Und ein Jahr, seitdem sie mit ihrer Familie nach Süddeutschland gezogen war. Sie war dort dann ziemlich unglücklich gewesen; einsam, hatte alles scheiße gefunden. Wir hatten also viel gemeinsam gehabt. Jemand anders hätte ihre Mails und dann später die Telefonate mit ihr vielleicht so interpretiert, dass sie langsam am Durchdrehen war; es stimmt auch, Frauen werden schnell unfair, wenn es ihnen schlecht geht. Das Leben ist trostlos, die Menschen abweisend, die Zukunft dunkel – allerdings hatte sie ja Recht, rein analytisch gesehen. Wir verbrachten mehrere Monate damit, uns gegenseitig darin zu bestätigen. Es war eine schöne Zeit gewesen.

Einmal rief sie mitten in der Nacht an und klang völlig aufgelöst; vier Stunden lang heulte sie sich buchstäblich aus, spätestens danach war es um mich geschehen; am liebsten wäre ich hingefahren und hätte ihr jede Träne einzeln weggeküsst. Stattdessen war ich in die Schule gegangen wie jeden Morgen.

Vor fünf Monaten und dreiundzwanzig Tagen war sie dann zu Besuch gekommen – sie kannte noch relativ viele Leute hier. Gegenüber fast allen Menschen tat sie, egal wie es ihr ging, völlig unbekümmert, und darum gehörte zu der Sorte Mädchen, die jeder gern kennt, mit der man sich gerne umgibt.

Und in der gleichen Bar, in der ich jetzt auf sie wartete, hatte ich es dann hinter mich gebracht: „Lara, ich muss dir was sagen...” Alles in allem war es eine ziemlich bittere Liebeserklärung gewesen; außerdem sehr umständlich, mit vielen großen Worten wie „Vertrauen”, „Verständnis” und „Glück” - nun ja, wenn ich schon unterging, wollte ich ihr gegenüber wenigstens aufrichtig sein. Nur hatte ich nicht damit gerechnet, wie tief es mich treffen würde, als sie dann wie erwartet nein sagte. Ja ja, der Leichtsinn der Jugend.

Wenn ich nicht so ein Idiot wäre, hätte ich danach den Kontakt zu ihr abgebrochen. Tat ich aber nicht. Ich ritt mich immer tiefer in die Scheiße. Und dann hatte sie am Telefon angekündigt, dass sie an diesem Wochenende herkäme, „um mal wieder die alte Heimat zu sehen”, wie sie es leicht ironisch ausgedrückt hatte. „Da könnten wir uns treffen, wenn Du Zeit hast...” Klar, ich hatte Zeit, kein Problem.

Man hätte auch zu einem Junkie sagen können: Ich geb' Dir eine Spritze, wenn Du Zeit hast. Finden Sie das lustig? Das ist es eigentlich nicht.

Früher hatte ich gelesen, wenn ich mit dem Vorortzug in die Stadt fuhr. Heute Morgen hatte ich meinen MP3-Player angeschaltet und hörte „Solitary Man” in Endlosschleife. Kein Klischee auslassen, das ist doch auch eine Devise. Ich trug eine abgewetzte Lederjacke und eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze, ins Leere starrend. In der Nacht hatte ich nicht geschlafen, und meine Augen waren blutunterlaufen. Es war vermutlich kein schöner Anblick.

Mir gegenüber hatte ein Rentnerehepaar gesessen. „Und dabei ist er noch so jung...”, hatte ich die Frau verstohlen flüstern gehört, als Johnny Cash gerade eine Pause machte. Ja, da hatte sie allerdings Recht.

Ich zündete eine neue Zigarette an und legte sie in den Aschenbecher. Von meinem Stuhl aus konnte ich die Abfahrtszeiten der Züge sehen: Rom, Paris, Mailand. Ich hatte eine EC-Karte: Ich hätte in den nächsten Zug steigen und hinfahren können, wo ich wollte, ich wäre wahrscheinlich problemlos bis Wladiwostok gekommen. War das Freiheit? Ich weiß nicht. Ich wusste, dass ich seit drei Wochen Abiturient war. Aber ob ich frei war, keine Ahnung.

Auf der anderen Seite kauften die Leute im 24/7 ein – die meisten waren Singles. Fertigpizza, Dosenbier, zwei Packungen Drehtabak, macht 18,74, ein bisschen Wechselgeld, beehren Sie uns bald wieder. Teilnahmslose Blicke; außer bei den Müttern mit ihren Blagen im Schlepptau, die eher entnervt guckten. Waren es Leidensgenossen? Nein, sicher nicht. Vermutlich litten sie auch, zumindest hätten sie sicher Anlass dazu gehabt. Aber es herrschte keinerlei Verbundenheit zwischen uns. Im Gegenteil, ich hätte den Trotteln in die Fresse schlagen können.

Ich glaubte weder an Gott noch an die freie Marktwirtschaft, und ich glaubte auch nicht in besonderem Maße an mich selber. Mit dieser Einstellung kann man sein Leben relativ ungestört hinter sich bringen. Lara war die einzige wirkliche Enttäuschung, die mir das Leben beschert hatte. Allerdings war sie auch die einzige wirkliche Hoffnung gewesen, die ich je gehegt hatte. Früher (als ich so fünfzehn war) hatte ich mir einen Gott gewünscht, an den ich glauben konnte. Jetzt wünschte ich mir die Liebe einer Frau. Die Problematik ließ sich eigentlich in zwei Sätzen beschreiben. Hinzuzufügen, dass Beides ohne jede Aussicht auf Erfüllung war, schien mir überflüssig.

An den Tisch gegenüber setzten sich zwei dunkelhäutige Mädchen, höchstens zwanzig Jahre alt, und waren innig in die Betrachtung ihrer Fingernägel versunken. Sie sahen wirklich ziemlich hübsch aus mit ihren bauchfreien Oberteilen und ihrem nuttigen Make-up; ich hob mein Glas leicht in ihre Richtung und quälte mich zu einem Lächeln – sie glotzten ungerührt weiter Kaugummi kauend wie braune Milchkühe auf ihre Hände. Willkommen zu einer weiteren Episode von „Mösen, die mir verschlossen bleiben”, sagte ich halblaut vor mich hin und nahm einen tiefen Schluck. Na ja, egal, ich wollte sowieso nichts von ihnen.

Seit Tagen hatte ich mich gefragt, warum ich überhaupt herkommen sollte. Was auch geschehen würde, es würde mir danach schlechter gehen als vorher, und daher konnte man mein Vorgehen durchaus als dumm bezeichnen. Was konnte ich hier gewinnen? Nach der Definition von Clausewitz hat man den Sieg errungen, wenn man seinen Willen durchgesetzt hat. Ist man sich über seinen Willen aber nicht im Klaren, so Clausewitz, besteht die einzig vernünftige Lösung im sofortigen Rückzug. Vernunft. Der Alte hatte gut Reden.

Ich wusste allerdings auch nicht, was Lara sich davon versprach. Sehr viel konnte es jedenfalls nicht sein – sie war schon eine Viertelstunde zu spät.

Dann kam sie. Eine Zigarette glitt mir aus den Fingern, als ich sie gerade aus der Jackentasche holte; das war der Grund, warum ich auf allen Vieren kroch, als sie in ihren hochhackigen Stiefeln durch die Tür trat. Ich blickte zu ihr auf. Sie trug ihren weißen Mantel über dem Arm, hatte ihre Sonnenbrille ins Haar gesteckt und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht; ihre Hosen waren sehr eng, und mein Kopf befand sich genau auf der Höhe ihrer Vagina.

Es tue ihr Leid, dass sie zu spät komme – außerdem müsse sie auch schon in einer halben Stunde wieder los, sie treffe sich noch mit irgendeiner Freundin, deren Namen ich sofort vergaß. Über meine hündische Haltung sah sie höflich hinweg.

„Ist schon ok”, sagte ich und kletterte wieder auf meinen Stuhl. Eigentlich hatte ich sowieso nicht mehr viel zu sagen. Sie sah sich in der Kneipe um.
„Immer noch so heruntergekommen...”
„Die meisten Dinge ändern sich nicht”, sagte ich, obwohl ich glaubte, dass sie tatsächlich das Etablissement meinte und nicht mich.

Der Wirt kam, und wir bestellten zwei Tassen Kaffee.
„Kein Alkohol vor vier”, meinte ich und grinste ein bisschen. Das war völlig absurd, ich stank wie eine Destillerie. Doch sie schien es nicht anders erwartet zu haben.
Erwartungsgemäß wussten wir nicht so recht, was wir sagen sollten. Aber mir war das Schweigen nicht peinlich. Mir war gar nichts mehr peinlich.

„Wie lief eigentlich dein Abi?”
Ihr anscheinend schon. Sie scheute sich nicht, über den letzten Scheiß zu reden.
„Eins Komma acht.” Sie nickte. „Und selbst?”, fragte ich seufzend.
„Eins Komma sechs”.
„Glückwunsch.”
„Danke, gleichfalls.”
Sie spielte mit einem Würfelzuckerstück und blickte angestrengt auf die Tischplatte. „Was habt Ihr nach dem Abi gemacht?” fragte sie nach einer Pause.
„Die Anderen sind momentan in Lloret zum Saufen.”, informierte ich sie. „Und Ficken”, fügte ich hinzu. Ich kam mir vor wie die Telefonauskunft.
„Wolltest du nicht mit?” Ich schüttelte leicht den Kopf. Ich wollte dich sehen, wollte ich noch sagen, aber darauf kam sie wahrscheinlich gerade noch selber.
„Und was hast du so gemacht in der letzten Zeit?”
 
Abwechselnd an Dich und an den Tod gedacht, dachte ich. Wenn man leidet, ist man von der Vorstellung erfüllt, irgendetwas müsse doch daraus folgen; irgendwann müsse einen der Schmerz, den man in jeder Pore spürt, einfach innerlich zerreißen, oder er müsse Handlungen hervorrufen, einsame große Handlungen. Das ist natürlich Blödsinn. Es passiert gar nichts, und nach ein paar Monaten geht der Schmerz langsam aber sicher in Apathie über, in Müdigkeit, Lebensmüdigkeit im wahrsten Sinne des Wortes. Wäre zu meiner Verzweiflung noch etwas Mut dazugekommen, überlegte ich, wäre es möglicherweise anders gelaufen. Mut und eine Schusswaffe.

„Nicht besonders viel”, antwortete ich. Ich hob leicht die Mundwinkel. „Vor den Parties konnte ich mich ganz gut drücken...”
„Und Mädchen?”, fragte Sie und lächelte mich aufmunternd an.
„Zwei”, sagte ich, „aber nichts Ernstes”. Das war zu hundert Prozent gelogen. Ich konnte mich nicht erinnern, die letzten Monate auch nur mit einem Mädchen gesprochen zu haben; eigentlich hatte ich mit überhaupt keinem Menschen gesprochen, wenn es sich hatte vermeiden lassen. Während der Herfahrt hatte ich mir auf der Zugtoilette einen runtergeholt: So sah mein Liebesleben aus.  

„Du findest bestimmt eine andere...”, meinte sie, als hätte sie meine Gedanken erraten.
„Ich will keine andere.”
„Aber willst Du denn mich? Weißt du, ich habe darüber nachgedacht – ich finde, du steigerst dich in die ganze Sache ziemlich rein. Hast du dir schon mal überlegt, dass du vielleicht gar nicht mich liebst, sondern – wie soll ich sagen? – dass Du auf mich ein paar Dinge projizierst, die dich sowieso unglücklich machen?”
Kein schlechter Wert: Innerhalb von fünf Minuten waren wir zum Kern der Sache gekommen.

„Versteh mich nicht falsch: Ich bin wirklich froh, dass wir trotz allem noch Freunde sind. Darum möchte ich auch nicht, dass es Dir schlecht geht. Aber so, wie Du Dich in Deinem Leiden eingräbst, kann man ja kaum noch mit Dir reden.”
„Ja, vielleicht sollten wir das in Zukunft besser lassen...”, war alles, was mir dazu einfiel.
„So war das nicht gemeint. Entschuldige.” Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht, und sie strich sie langsam zurück, so dass ihre weißen Wangen und ihre tiefen blauen Augen wieder zum Vorschein kamen. Sie war wunderschön.
„Aber die Entscheidung liegt natürlich bei Dir”, sagte sie. „Wenn Du nicht mehr willst, dass wir uns sehen, werde ich das akzeptieren. Aber ich fände es schade”, hängte sie schnell noch dran. Das sagte sie mir jetzt ungefähr zum zehnten Mal. Und ich war immer noch genauso wehrlos wie die Male davor.

„Ist es das?”, fragte ich schließlich. „Glaubst Du, ich übertreibe das Ganze? Ich sehe das alles zu dramatisch? Da hast Du sicher Recht. Aber falls es Dich beruhigt, das ist ein Zug an mir, den ich auch vorher nicht kannte...”

„Du hast mir geschrieben, nur ich könnte Dich glücklich machen”, antwortete sie langsam. „Erstmal glaube ich nicht, dass ich das könnte – und außerdem denke ich, dass es hier für Dich um was anderes geht. Wenn Du sagst, nichts auf der Welt mach Dich glücklich außer einem Menschen, dann ist das nur in zweiter Linie ein Urteil über mich. Ich fühle mich wirklich geschmeichelt, bitte glaub mir das. Aber ist dieser Satz nicht in erster Linie Dein Urteil über die Welt und nicht über mich?”
„Das ist jetzt vielleicht kitschig”, begann ich, „aber die Frage ist doch scheißegal. Es geht doch nur darum, ob die Liebe ein Ausweg sein kann.” Ich atmete tief ein.
„Ok, das war wirklich Kitsch”, gab ich zu. „Aber im Prinzip stimmt es doch...Wenn ich mir überlege, was mein Leben wirklich zum Positiven wenden könnte, dann denke ich an Dich. An sonst gar nichts.”

Es klang längst nicht so kämpferisch, wie ich es ursprünglich geplant hatte. Wie sollte es auch? Ich hatte ja längst verloren.
„Warum denkst Du eigentlich, die Liebe würde alle Probleme lösen?”, entgegnete sie. „Letzten Endes ist der Schmerz, der durch die Liebe hervorgerufen wird, immer größer als das Glück. Selbst wenn es anfangs gut läuft – irgendwann geht alles zu Bruch, und man ist noch viel unglücklicher als vorher. Meiner Meinung nach wird die Liebe total überschätzt...”

Ich wusste, dass sie das nicht nur sagte, um mich zu trösten. Sie meinte das wirklich ernst, und das war eigentlich noch trauriger.
„Deine Hände zittern”, sagte sie.
„Tut mir Leid.”
„Weißt Du, ich mach' mir ein bisschen Sorgen um Dich...”

Ich versuchte ein versöhnliches Gesicht zu machen, als wäre alles halb so schlimm, aber vermutlich gelang es mir nicht ganz. Lara sah auf ihre Uhr aus Weißgold; sie hatte noch fünf Minuten. Sie schaute auf die Rechnung und holte ein paar Münzen aus ihrer Handtasche, und ich ließ sie gewähren. Sie hätte sich ohnehin nicht von mir einladen lassen.

„Wann sind wir so geworden?” fragte ich. Ich wusste es wirklich nicht. „Wir sind noch nicht mal zwanzig und glauben an gar nichts mehr. Das  ist doch nicht normal.”
Ich rührte in meiner Kaffeetasse; dann merkte ich am metallenen Klang des Löffels, dass sie leer war. Umso besser, mir war sowieso schlecht. Lara lächelte mich freundlich an.

„Glauben...”, sagte sie leise. „Du hast noch nie an irgendwas geglaubt.”
Das stimmte nicht. Jedenfalls nicht vollkommen. Aber so, wie sie es sagte, klang es fast wie ein Kompliment, darum widersprach ich ihr nicht.
Später sagte ich mir, das sei ein Fehler gewesen; in Wirklichkeit war es wohl ziemlich egal, genau wie das Meiste andere auch.
Zum Abschied meinte sie, ich hätte Mut. Ich fragte, was ich denn riskiert hätte, aber da schlossen sich schon die Türen der Straßenbahn, die in die Innenstadt fuhr.