Home       Locations       Events       Unternehmen       Lesungen       Kontakt       Impressum       English      

Monika Slamanig: Schöner sterben in Marokko 

Sie war meine erste, beste und einzige Freundin. Als ich sie kennen lernte, waren wir zwölf, und sie nannte sich Nana. Von Anna Katherina wie die russische Kaiserin. Lieber frisch und frivol als kaiserlich verstaubt, sagte sie. Nana Bell. Mit 13 beschlossen wir, kein Fleisch mehr zu essen. Unser erster Beitrag zur Weltveränderung und zum Abbau von tierischem Fett. Über zu wenig Fleisch an den Knochen konnten wir weiß Gott nicht klagen. Noch bevor die Pubertät richtig zuschlug, quollen Wurstschnecken über den Hüftbund unserer Jeans. Der Bauch wölbte sich unter dem T-Shirt wie ein Schmorbraten. Ich verhüllte meine Ausbuchtungen mit indischen Schlabberröcken und XXL-Leibchen und versprühte den Charme einer wandelnden Regentonne.
       Nana aber strotzte vor Selbstbewusstsein. Wenn gleichaltrige Streichholz-Teenies blöde Sprüche machten, baute sie sich vor ihnen auf, den Kopf in den Nacken geworfen und die Hände auf die Hüften gestemmt, bis sie vor ihr schrumpften. Brust raus, Bauch vor, war ihre Devise, lange bevor so etwas wie eine Brust sich abzeichnete.
       Nana war die einzige, die mich an schulfreien Nachmittagen auf den Streifzügen durch den Wald begleitete. Ich war eben von einem Kaff ins andere umgesiedelt worden, was ich meinen Eltern lange nachtrug. Vorher war’s das Paradies gewesen, mit einer eigenen Hütte, Lehmgruben im Wald und glasklaren Fischbächen, alles, was ich zum Überleben brauchte. Der neue Wohnort kam mir vor wie Disneyland im Kuhdorf: auf Originallook getrimmter Dorfkern und geschleckte Straßen, man hätte sich darauf sein Butterbrot schmieren können. Die Wälder waren zurechtgestutzt wie Thuja-Hecken, die Wiesen maschinengestrählt, und die Bubis und Mädels in meinem Alter hatten sich von der Natur losgesagt. Die interessierten sich bloß fürs andere Geschlecht, trendige Klamotten und Kneipen außerhalb der Reichweite der Eltern, in denen sie ihre Auftritte vor den Objekten ihres Imponiergehabes üben konnten. Man rauchte Zigaretten, schüttete Cola und die ersten Biere in sich hinein, sofern das Taschengeld reichte, rüttelte an Flipper- und anderen Kästen herum und tat sonst noch viel Cooles.
       Mit Nana war mir das alles schnurzpiepegal. Wir verbrachten halbe Tage im Wald, lebten in imaginären Tipis, erzählten uns die wildesten Indianerinnen-Geschichten, tüftelten an Heilkräuterelixieren und magischen Pilzgerichten herum und feilten an unserer Hexenlaufbahn. Zuerst mit allerlei Kraut, später mit Joints versetzten wir uns in jenen Zustand, der die Gemeinheiten des Daseins im Überflug erträglich macht und uns auf schwindelerregende Gipfel der Erkenntnis katapultierte.
       Dann begannen uns Brüste zu wachsen. Unaufhaltsam schwollen sie zu schweren Kugeln an, die jedes T-Shirt sprengten und dazu führten, dass väterlich wohlwollende Onkelblicke in anzügliche Bemerkungen über unser viel versprechendes Fortpflanzungspotential ausarteten. Während ich mich unter den Blicken und der Last meiner Brüste zusammenrollte und als Klumpleib-Schnecke dahinkroch, ließen Nanas immer kürzere Röcke immer mehr von den prallen Schenkeln sehen, spannten sich immer engere T-Shirts und durchsichtige Blusen bis zum Zerreißen über ihrem Busen. Ich bin eine Schneewehe mit Ausbuchtungen, ein Engel mit Geistbeulen, sagte sie und ließ den Hintern unter den Augen der väterlichen Onkel und Lehrer Samba tanzen, bis sie errötend wegschauten.
       Bei der ersten Blutung schloss ich mich im Badezimmer ein und wartete auf den Tod. Nana aber stürmte jubelnd meine Gruft, in der einen Hand eine Monatsbinde schwenkend, in der anderen zwei Eisstängel. Eis war für sie das Rezept gegen alle Übel. Mehr als einmal hatte sie mich damit aus meiner Todessehnsucht geholt. War es eine quälende Mathematik- oder Geometrieprüfung oder eine einschläfernde Deutschstunde, stets erwartete sie mich in der Pause mit einem Vanille- oder Schokoladebecher aus dem Kiosk nebenan. Den Schulhof zu verlassen, war verboten. Doch wenn wir auf der Mauer saßen mit unseren überquellenden Formen, Nanas Schenkel leuchtend wie der Schnee auf dem Kilimandscharo, und unsere Zungen über das samtige Eis gleiten ließen, dabei die patrouillierenden Lehrer beobachteten, brachte keiner von ihnen ein Wort heraus.
       Die Schleckereien waren selten gekauft. Meine eigenen Versuche, es mit Klauen zu etwas zu bringen, endeten nach ein paar wenigen erfolgreichen Einsätzen – hier ein Paket Kaugummi, dort ein paar Kekse – im Warenhaus der nahen Stadt in einem Debakel. Ich hatte es geschafft, eine Handvoll Modeschmuck zu stibitzen und war drauf und dran, am Ausgang in Triumphgeheul auszubrechen, da hielt mich jemand am Arm fest. Der Ladendetektiv. Zu Hause erwarteten mich der tobende Vater, die heulende Mutter, Ausgehverbot und Taschengeldentzug.
       Nur einmal erlebte ich, dass Nana Geld für Eis ausgab, und das war eine Tragödie. Wir hatten uns seit einem Monat nicht sehen dürfen, meine Eltern und ihre Mutter wollten unserer anregenden Freundschaft ein Ende setzen. Inzwischen hatte ich meine hundertste Diät abgebrochen und den Kalorienzähler und die Waage weggeschmissen. Ich wollte ein neues Leben beginnen. Mich von der Welt ab- und Gott zuwenden. Ein Haus für ausgesetzte Kinder oder Hunde eröffnen, Gedichte schreiben, das Abi machen, Latein mit Auszeichnung abschließen, den süßesten Jungen an der Schule angeln und mit ihm in die Ewigkeit der Liebe und der schönen Künste eingehen.
       An jenem Tag steckte Nana mir in der Mathe einen Zettel zu. Um zwei im Dorfcafé, ich lad dich ein. Wir löffelten einen Eisbecher, die Schokosoße lief übers Kinn hinunter und vermischte sich mit der Tränenflut, als Nana mir eröffnete, sie werde in ein Klosterinternat abgeschoben.
       Der Himmel öffnete sich und stürzte in Einzelteilen auf uns herab.
       Wir verschanzten uns in der Waldklause, pafften den ganzen Gras-Vorrat, ritzten die Haut auf und schworen bei unserem Blut, uns von nichts und niemandem trennen zu lassen. Niemals zu heiraten und Kinder zu bekommen, keinen Zentimeter von uns preiszugeben. Denk an Marokko, flüsterte Nana mir ins Ohr. Sonne, Wüste, Meer und ein Grab für uns unter Orangenblüten. Wenn’s heftig kommt, fahren wir nach Marokko.
       Es war eine Stunde mit Ewigkeitswert. Wir lagen in der Hütte, hielten uns fest und heulten. Ich wollt, ich wär ein Luftballon, dachte ich. Dann wurde alles leicht und rosa, unser Indianerinnenblut versickerte im Boden, die Bäume schwebten davon und wir mit ihnen.
       Als wir aufwachten, waren wir um Jahre gealtert, und von der geistbeulenhaften Überlegenheit blieb nicht viel übrig, nicht mal bei Nana.
       Als wir 16 warten, hörte ich bis auf einen einzigen Brief nichts von ihr.
       Liebe Eva, Schwester Irmtraud hat mir deinen Brief rübergeschoben. Hätte ich der alten Kuh nie zugetraut. Es ist die gleiche, die mir immer den Teller mit Kuchen vor der Nase wegzieht. Maß halten, Anna Katherina, Maß halten. He, ich bin Nana Bell, ein Engel mit Geistbeulen, so was braucht Substanz. Für sie hockt der Geist in der Kirche. Zerren uns jeden Morgen früh dorthin, und da soll Gott sein. Wenn du die Horde verschleierter Griesgramgesichter siehst, die uns alle Hennenschiss mal giftig anzischen, vergeht dir alles Geistvolle. Zum Glück ist an mir was dran, so schnell pustet mir niemand durch die Knochen. Letzthin schnalzte die dünne Trine im Schlafsaal aus voller Röhre, ich käme daher wie eine Dampfwalze mit Ohren. Da hab ich sie aufs Bett geschmissen, so mit einem Arm, und mich auf ihr Gesicht gesetzt, bis sie nicht mehr strampelte. Ich verstehe ja Spaß, aber Dampfwalze mit Ohren, und so was vor versammelter Gesellschaft, ich bitt doch sehr.
       Lange mach ich das nicht mehr mit. Ich will raus hier, eine eigene Bude und einen geilen Typen, der im Vollmond für mich tanzt. Komm, wir hauen ab. Wohin du willst, ich bin dabei. Lass dir was einfallen. Meine Möglichkeiten sind extrem begrenzt. Schick keine Briefe hierher, ich bin nicht sicher, ob ich die bekomme. Schreib postlagernd, ich hab Beziehungen zum Gärtner..., tja, in meiner Lage kann man nicht wählerisch sein. Ciao, küssküss, und denk an Marokko.
       Ein halbes Jahr später war Nana aus dem Internat ausgerissen und balancierte immer hart am Abgrund zwischen einer Junkie-Karriere und der einer geplätteten Bürotippse. Sie dopte sich voll und verweigerte sich jedem Versuch ihrer Mutter, sie in eine Berufslehre zu stecken.
       Ich blieb brav und unauffällig und ließ mich in die Westschweiz ins Haushaltjahr befördern. Hauptsache weit weg von den Kuhdörflern und meinen Alten, mit denen ich täglich Kämpfe ausfocht. Du bringst uns ins Grab, du missratene Gör, pflegten sie zu sagen, wenn ihnen nichts anderes mehr einfiel. Nicht meine Schuld, sagte ich. Was kann denn von hier schon Gutes kommen? Abgestorbenes Land und scheinheilige Familienidyllen und Katholiken, die am Sonntag hinter der Kirche Mädchen begrabschen. Das verziehen sie mir nicht.
       Mit 17 im Haushaltjahr verging ich fast. Ich verschlang heimlich halbe Brotlaibe mit Schokolade, Zitronentorten und Salznüsse, nebst den Mahlzeiten natürlich. Als ob ich mit Fressen ein Loch stopfen könnte, aus dem mein Leben ausfloss wie Eiter aus einer sabbernden Wunde. Bald passten mir nur noch die selbst genähten glockenförmigen Trägerkleider, in denen ich aussah wie ein Fass mit Füßen. Kiffen konnte ich selten, weil ich nur an Sonntagen in der Stadt an den Stoff rankam. Und das Geld reichte immer nur für eine klitzekleine Tüte.
       Nana und ich schrieben uns todessehnsüchtige Briefe, zogen uns Leonard Cohen und Genesis rein bis zum Gehtnichtmehr und überlegten uns, wie wir schmerzlos aus dem Leben scheiden könnten. Als ich Nana einmal wieder sah, kriegte ich den Horror. Ihre einst straffen Rundungen waren nur noch fett, ihre Locken hingen herab wie welkes Laub. Sie brachte kein müdes Lächeln hervor. Sie sagte, sie habe eine Abtreibung hinter sich. Erst später wurde mir klar, dass sie nicht nur kiffte. Höchste Alarmstufe.
       An einem Freitag im Mai war das Maß voll. Inzwischen hatte ich das Haushaltlehrjahr vorzeitig abgebrochen und ließ mich als Hilfskraft in einem christlichen Pflegeheim ausbeuten. Ich ging wie jeden Morgen zu meiner Lieblingspensionärin, um ihr eine Tasse Tee zu bringen. Das erinnerte sie an ihre besten Zeiten als Gouvernante bei einer Arztfamilie in Birmingham. Mit so einer Biografie, meinte sie, müsse sie sich nicht alles gefallen lassen. Sie weigerte sich, mit den andern im Speisesaal zu essen, an der Morgenandacht teilzunehmen, sich von Pflegerinnen anfassen zu lassen. Mich duldete sie, weil ich sie nicht zum Baden drängte und ihren auffälligen Geruch in Kauf nahm. Ihr Widerstandsgeist machte mir Eindruck. Sie war der einzige Grund, weshalb ich es länger als einen Monat im Heim aushielt.
       Als ich an diesem Morgen mit dem Tee vor der Tür stand, antwortete sie nicht auf mein Klopfen. Ich ging rein, und sah, was ich nicht sehen wollte. Sie hing mit verdrehten Gliedern im Sessel, wie wenn sie beim Anziehen der Blitz getroffen hätte, blau im Gesicht und tot wie nur etwas.
       Zwei Stunden später war ich weg. Ich fuhr zu Nana, sie warf ihren neuen Lover raus und packte. Wir reisten mit dem Zug nach Frankreich, trampten nach Marokko, wo wir unter Orangenblüten stilvoll aus dem Leben scheiden wollten. Doch es kam anders.
       Zuerst stellten wir in einem religiösen Jugendcamp im Burgund unser Zelt auf. Es war der letzte Versuch, Gott doch noch zu finden. Wir versauten es. Nachdem wir zwei Tage kiffend herumgehängt waren und nicht mehr wussten, was oben und was unten war, ließen wir alles stehen und stellten uns an die Autobahn Richtung Süden. Der erste war ein Lastwagenfahrer, der uns an einer Tankstelle rausschmiss, weil wir nicht mit „Naturalien“ bezahlen wollten. Der zweite war schon am Wichsen, als er anhielt. Danach wollte ich nicht mehr. Es musste doch noch anderes geben, als von einem Lüstling erwürgt zu werden. Verbrachten die Nacht in Avignon unter der Brücke bei den Pennern. Zum ersten Mal besoffen. Als ich aufwachte, war Ostern und Nana turnte mit einem deutschen Militärdienstverweigerer im Schlafsack rum. Der war mit einer Zigeunerin und ihrem Typen unterwegs, dem Häuptling, dann war da noch ein Deutscher, der sich zum ersten Mal auf der freien Wildbahn versuchte. Die wollten auch nach Marokko, also quetschten wir uns zu sechst in ihren Käfer und grasten den Süden ab. Buchstäblich. Klauen im Supermarkt, betteln auf Touristenplätzen. Geld hatte keiner von uns. Als der Häuptling aber einer Barfrau die Einnahmen eines Abends klaute, hatte ich meine Dosis gehabt.
       Die vorletzte Nacht verbrachten wir in einem Wald, ich schlotterte vor Elend und Fieber und wollte sterben. Aber nicht so. Halt durch, morgen sind wir am Hafen, dann ab nach Marokko, flüsterte Nana. Sie ging mir plötzlich auf die Nerven. Die mit ihrem Typen. Ich sah unser schönes gemeinsames Grab im Orangenhain davonschwimmen.
       Am Abend darauf waren wir in Marseille. Die Absteige war so was von heruntergekommen, schmierig und stank, aber es hatte immerhin ein Bett. Der Häuptling bezahlte für ein Zimmer und schleuste die anderen durch den Hintereingang rein. In meinem Fieberdusel merkte ich erst im Morgengrauen, dass der zweite Deutsche bei mir lag und mich betatschte. Ich schoss aus dem Bett wie von der Tarantel gestochen, schüttelte Nana, die um ihren Typen gewickelt daneben lag, und sagte, ich hau ab. Wenn schon in der Gosse, dann mit Anstand. So nicht. Nicht mit mir. Mach was du willst.
       Nahm mein Bündel, ging zum Bahnhof und dort wusste ich nicht mehr weiter. Hockte auf dem Bahnsteig, Augen und Nase tropften, und in jeder Tussi sah ich Nana. Stunden später kam sie, grau und stumm. In den Zug Richtung Norden. Der Schaffner schmiss uns am nächsten Bahnhof raus, wir hatten weder Geld noch Ausweise. In einen anderen Zug rein und wieder Rausschmiss. So landeten wir irgendwann in Lyon. Ich konnte nicht mehr. Zitterte, heulte und schrie, bis die Polizei kam mit zwei Betschwestern von der Bahnhofsmission. Sie brachten uns in ein Heim für gefallene Mädchen, echt wahr. Haben wir noch mal überlebt, was, sagte Nana im Polizeiauto, und ich fiel ihr um den Hals, so froh war ich, dass sie mit mir redete.
       Wir brauchten zwei Tage, um denen im Heim unsere Geschichte glaubhaft zu machen. Wir holten unsere Habseligkeiten im Jugendlager, sie kauften uns einen Fahrschein in die Schweiz und blieben am Bahnsteig stehen, bis der Zug losfuhr, ohne Halt bis Genf.
       Als wir durch den Zoll waren, fing Nana an zu lachen. Gluckste und wieherte, bis ich auch nicht mehr anders konnte, als loszuprusten. Das ging so bis zu Hause. Ihre Mutter schüttelte den Kopf, als sie uns sah, und ging zur Arbeit. Wir schlossen uns in Nanas Zimmer ein, rauchten einen Joint nach dem anderen und lachten uns halb tot. Gestorben sind wir dann doch nicht.