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Marc Rychener: Jugo (Zürich: Platz 1) 

Sie treffen sich unten beim Fluss. Nach der Schule ist vor der Schule, da scheissen sie drauf, und am Mittwochnachmittag erst recht. Da brauchen sie gar nicht mehr abzumachen, sie treffen sich einfach, da unten bei der alten Mühle, wo der Fluss besonders heftig reisst. Branco, Zoran und die anderen, am Mittwoch kommen manchmal auch die anderen. Sie schmeissen Steine, ins Wasser, und sich selber auch mal was Härteres, aber wenn man sie fragt, was sie da machen, dann machen sie meistens nichts, einfach hängen halt. Es gibt dort einen kleinen Platz, für Badegäste, obwohl: Gebadet wird schon lange nicht mehr im Fluss, auch wenn das Wetter heiss ist bis tief in den Herbst hinein. „Es ist verboten“, heisst es auf einem runden roten Verbotsschild, wegen der gefährlichen Strömung und auch wegen der Chemischen weiter oben, aber das steht so nicht auf dem Schild, einfach dass es verboten ist, basta. Und das ist noch easy so, findet Branco, denn er schwimmt zwar gut, sportlich wie er ist, aber halt nicht gern. Der Rasen neben der Mühle wird weiter gepflegt, von der Stadt, und auch von der alten Feuerstelle sind noch die Russrückstände auf dem Kies zu sehen, manchmal zünden sie etwas an darin, aber jetzt ist es eh zu warm für so ein richtiges Feuer. Branco, Zoran und so rauchen Gras, schmeissen Steine in den Fluss, sie machen sich die Finger dreckig, aber nur ein bisschen, nicht so, dass man etwas merkt zu Hause. Branco atmet laut aus und sagt: „Mann, das Zeug, eh?“ Zoran nickt und zieht an seiner Tüte, Zoran sagt eigentlich nie sehr viel, es ist meistens Branco, der Zeug sagt, und Zoran, der nickt. Sie sind eben eine Clique, Branco und Zoran, es gehören auch andere dazu, besonders am Mittwoch, sogar ein paar Mädchen hängen mit ihnen, aber Branco hat das Zeug und Branco hat das Sagen. Branco hat es bis hier oben, sagt er jetzt und zeigt seinen Hals, denn er ist in Mathe wieder durchgefallen und der Lehrer hat ein Elterngespräch gewollt, obwohl: Die Eltern verstehen den Lehrer ja kaum, soll er ihnen doch nicht mit den grossen Wörtern kommen, Wörtern wie Sensibilisierungsprozess und Integrationsmassnahmen. Die Eltern checken es auch sonst, was mit ihm abgeht, und das ist mehr, als Branco von den Lehrern behaupten kann. Die Lehrer, sie sagen ihm einfach schwieriges Kind, und das ist bloss die offizielle Version. Denn die Lehrer checken es wirklich nicht, denn Branco ist doch schon vierzehn, er ist doch kein Kind mehr und schwierig ist er auch nicht, schwierig sind die Aufgaben und die Umstände, und schwierig ist es, der Versuchung zu widerstehen, im Leben, in diesem Land und im Sommer sowieso. Die Eltern wissen das schon ganz von selbst. Denn auch die Mädchen sind eher leicht, mit ihren Spaghettiträgern und ihren bauchfreien Tops. Da wären Andrea und Ilona und manchmal auch Lila vom anderen Schulhaus, wo sonst nur die Streber hingehen. Lila ist eine Ausnahme, denn die Streber hängen nicht mit Branco und den anderen, die Streber gehen am Mittwochnachmittag ins Juhu, das ist kurz für Jugendhaus, und dort machen sie ihre Aufgaben und, wenn sie damit fertig sind, Rundlauf mit den Leitern. Branco hat kein Jugendhaus, er hat den Fluss und das Zuhause, wo die Eltern zwar auch immer schauen, dass er die Aufgaben gemacht hat. Aber nachschauen, ob sie auch richtig sind, das muss er schon selber, obwohl: Manchmal sagt er auch einfach, dass er mit allem fertig sei, ihnen zuliebe, damit es nicht schon wieder Streit gibt, und geht zum Fluss hinunter, hängen. Wenn Lila an den Fluss kommt, macht sie Augen in Brancos Richtung, sie ist nämlich nicht so wie die anderen Schleimer vom Streberschulhaus, sie hasst Rundlauf und hängt auch lieber. Branco nennt sie manchmal Baby, nur so aus Spass, aber so laut, dass es alle anderen auch hören. Auch mit Ilona ist Branco schon gegangen, ein paar Mal im Frühling den Flussweg hinunter, easy halt. Aber dann hat er Schluss gemacht mit ihr, obwohl sie aussieht wie ein Model. Es ist halt wegen ihrer Zahnspange. Die findet er eklig und das wissen jetzt alle: Dass da manchmal Mittagessen dranhängt, hat er erzählt und ein Gesicht gemacht, und dann ist Ilona halt ein paar Wochen nicht mehr zum Fluss hinunter gekommen. Jetzt aber hängt Ilona mit Andrea, ein bisschen abseits tuscheln sie, denn Branco braucht nicht zu hören, noch nicht, mit wem Ilona jetzt geht, denn diesmal ist es Liebe, das weiss sie, obwohl sie ihre Zahnspange immer noch hat. Aber jetzt hat sie auch einen Handspiegel, mit dem schaut sie sich nach dem Essen in den Mund, und dann putzt sie die Zähne und schaut noch einmal. Resten hat sie noch nie darin gefunden.
       Jetzt steht Zoran auf und schmeisst die Haschzigarette ins Gras. Es kommen ein paar Jungs auf ihren Mofas. Zoran hat ein gutes Gehör, er hört sie schon auf den Kiesweg abbiegen, Ahmed und Ylmi, glaubt er, denn die haben ihre Mofas so frisiert, dass es tönt. Aber wenn sie kommen, haben sie Helme auf und sind weder Ahmed noch Ylmi, sondern Scheissstreber, ganze sieben davon, es braucht schon ganze sieben Streber, dass sie so tönen wie frisiert. Sieben Streber kommen auf Branco und Zoran und die paar anderen zu. Irgendetwas geht, sie spüren es, irgendetwas hängt in der Luft, vielleicht ist es darum so sonderbar schwül heute. Zoran wiederholt das Wort, sagt „schwül“ zu Branco hinüber, und sie lachen, so wie sie über den Turnlehrer gelacht haben heute Morgen, weil der im Turnen gesagt hat, dass sie in der Halle bleiben würden, um Gymnastik zu machen, weil es so sonderbar schwül sei draussen, da hänge wohl ein Gewitter in der Luft. Da musste Branco schon aufstehen und den Ball im Geräteraum selber holen. Und dem Turnlehrer hat er gesagt: „Deine Gymnastik kannst du behalten, Herr Lehmann. Das ist etwas für Schwüle.“ Es war eins zu null für Branco und dann haben sie Fussball gespielt, und Herr Lehmann war der Schiedsrichter.
       Einer der Streber nimmt den Helm ab. „Was ist denn so lustig“, fragt er, aber so, als wollte er es eigentlich gar nicht wissen. Oder als wüsste er es schon: Lustig wird, was jetzt gleich kommt, sieben gegen zwei und ein paar Mädchen. Der Streber heisst Michael Meier, er heisst so, wie alle Streber heissen, und er fragt auch so, wie alle Streber fragen, die immer alles wissen, und das erst noch besser. Michael Meier hat etwas gegen Jugos, da ist sich Branco schon sicher, besonders seit er an der Fete im Juhu mit Lila einen Slow getanzt hat. Sonst ist er ja nicht so, er hat es lieber hart, so wie Eminem, und er trägt auch eine Baseballkappe schräg auf dem Kopf, und keinen Helm. Aber wenn er schon ins Juhu muss zur Abschlussfete, und wenn eine wie Lila ihn schon fragt, ob er mit ihr tanzen wolle, dann sagt einer wie Branco nicht Nein. „Was willst du, Michi?“, fragt er jetzt, weil er weiss, wie Michi es hasst, Michi genannt zu werden, ganz allergisch ist er darauf, und dafür nennt er nun den Jugo einen Jugo, aber der ist sich gewohnt, bleibt cool, vorerst. „Mann, Lila“, sagt Michi jetzt, „was machst du denn hier mit diesem Pack.“ Und wieder ist es eine Frage und keine Frage, aber Branco findet trotzdem eine Antwort, und die Antwort heisst: „Mann, lass ihr doch in Ruhe mit deiner Scheissfresse, sie ist freiwillig hier und du bist nicht eingeladen.“ Mit den Personalpronomen hat Branco so seine Mühe, aber vielleicht macht er es auch extra, und durchsetzen kann er sich wenn nötig auch mit Fäusten statt mit Worten. Aber dieser Scheissmichi checkt es einfach nicht und fängt an, Lehrer zu spielen. Jetzt macht er Aufklärung über Branco und Zoran und so: „Lila“, sagt er, „du bist dir doch zu schade für diese Typen. Hängen hier den ganzen Tag nur rum und nehmen Drogen und überhaupt, diese beiden Loser da findest du doch hoffentlich nicht cool.“ Und dann fängt er auch noch an, Lügen zu verbreiten, sagt ihr, wie er Branco und Zoran letzte Wochen gesehen haben will, wie diese Jugos einer Katze 1.-August-Raketen an den Schwanz gebunden und angezündet haben, und wie er, also Michael, zwei Tage nach der Fete im Juhu Branco mit einer anderen auf dem Flussweg gesehen habe und dass sie ganz bis zum Wehr hinunter gegangen seien, ganz bis zum Wehr. „Lila, dieser Typ will dir doch nur weh tun“, sagt er noch und macht sich völlig lächerlich. Gut, dass sich da noch seine sechs Kumpels unter ihren Helmen verstecken, sonst hätte Branco ihm einfach schnell eine in die Fresse gehauen für die Scheisslügen, obwohl: Das hat er eigentlich gar nicht nötig, schliesslich sind es ja Lügen. Nur das mit den Drogen stimmt, aber das weiss sie ja selber, weiss ja jeder, ausser seine Eltern vielleicht, und darum sagt er jetzt ganz ruhig zu Michi: „Mann, du hast ja keine Augen im Kopf, du Milchgesicht. Das am Fluss, das war meine Schwester, und jetzt fick dich. Wir haben hier zu tun.“ – „So, was macht ihr denn Schönes“, fragt das Milchgesicht mit seinem mühsamen Unterton, sodass Branco gar nichts anderes übrig bleibt, als zu sagen: „Nichts“, oder präziser: „Nichts, das dich etwas angeht.“ Aber Michi ist auf dem Rückzug, schon allein weil Lila sich bis jetzt nicht beeindruckt gezeigt hat, und auch weil zwei Mofas auf dem Kiesweg näher kommen, zwei frisierte Mofas mit Ahmed und Ylmi drauf, und all das zusammen macht selbst einen wie Michi ein bisschen unsicher, und deshalb macht er einen Fehler und sagt im Abgehen: „Scheisse, Branco, jetzt fickst du schon deine Schwester, Mann, ich glaubs einfach nicht.“
       Da hat es ihm ausgehängt. Ist ja logisch, niemand beleidigt die Schwester deines besten Freundes ungestraft, und Zoran, der die ganze Zeit nur auf seinen Einsatz gewartet hat, gibt Michael eine Faust ins Gesicht, so schnell ist er, dass Branco noch nicht mal die Sache selber in die Hand nehmen kann. Brancos Freunde schneiden Michis Kumpanen, die gerade von ihren Mofas absteigen und sich einmischen wollen, den Weg ab, ohne Ahmed und Ylmi sähe es übel aus für Branco und Zoran. Doch da wälzt sich dieser schon mit Michi prügelnd auf dem Rasen, sie rollen durch die alte Feuerstelle und wirbeln Staub und Russ auf, alle schauen ihnen zu, Branco, die Kumpels und alle anderen, Lila kreischt und auch Ilona, die noch bis vor fünf Minuten in Michael verliebt gewesen ist, und ihre Schreie übertönen das Geräusch der beiden Körper, die ins Wasser fallen, in den reissenden Fluss.

Und dann ist es Donnerstag und am Fluss unten ist niemand mehr, ist nichts als Strömung und ein Verbotsschild und eine Absperrung. Am Donnerstag sind die Namen von Branco K. und Michael M. (beide 14) der Polizei bekannt. Die Polizei hat Michael M. ins Gesicht geschaut, in sein blaues Auge, und Branco K. in den Rucksack, hat das Marihuana gesehen und Augen gemacht, Aha gesagt. Die Polizei hat Zorans Leiche aus dem Wehr gefischt und möchte jetzt doch noch gerne wissen, wie das denn gekommen sei, aber vor so vielen Augen sind Branco und Michael wieder Kinder, eben doch schwierige Kinder, verstockt, der Psychiater sagt, sie stünden unter Schock. Dann holt man halt die Eltern, Herrn Meier, Herrn und Frau Kovac und einen amtlichen Übersetzer, setzt sie hin, fragt sie aus. Die Kinder, so stellt sich heraus, sind gut, gute Schüler, liebenswürdig, hilfsbereit im Haushalt und so weiter, wahrscheinlich wären sie immer noch Engel, wenn sie nicht so grosse Füsse hätten. Herr und Frau K. steht die Trauer schon überall, wegen Zoran, den sie fast wie einen eigenen Sohn, und auch wegen Branco, der eigene Sohn, der so schnell aufwächst, dass einem schon beim Zuschauen, und da klopft Herr Meier auf den Tisch, dass es schallt, und ruft: „Jetzt hören Sie doch auf!“, und ob sie eigentlich nicht wüssten, dass ihr Sohn ein Kiffer, ein Schläger, eben so ein richtiger Jugo sei. Schade sei nur, dass er schwimmen könne, es wird peinlich still im Raum, bis Michael sich räuspert, sagt: „Es tut mir leid um Zoran, Branco, ehrlich, aber er hat angefangen.“ Da wird die Polizei hellhörig, denn jetzt kommt man der ganzen Sache schon näher, und Michael sagt Sachen, gibt sogar zu, provoziert zu haben, Michael ist doch nicht ganz so schleimig, wie Branco sich gedacht hat, aber dann reicht es. Branco steht auf, sagt etwas zu den Eltern, das niemand versteht und das der Dolmetscher nicht übersetzt, er spricht sanft in der Muttersprache, aber dann ändert sich sein Tonfall und er sagt zu Michi, er soll jetzt einfach mal die Fresse halten, ja. Und zu Herrn Meier, ja, es stimme, dass er schwimmen könne, aber leider nicht so gut, um gegen die Strömung anzukommen, und als die beiden ins Wasser fielen, da war per Zufall Michi Meier näher, Zoran schon weiter weg und dafür gibt es Zeugen. Und klar sei er auch ein bisschen verladen gewesen, er sei nicht stolz darauf und wünschte sich bei Gott, dass es anders gewesen wäre, aber ob es anders gekommen wäre, weiss er auch nicht. Aber warum sonst niemand reagiert habe, will er mal wissen, man solle mal ihnen fragen – und jetzt macht er es nicht mehr extra, jetzt ist es ihm ernst und es passiert einfach –, warum keiner der anderen im Wasser gestiegen sei und seinem Freund gerettet habe, warum nicht, warum. Aber keine Frage bringt Zoran zurück, und Antworten gibt es auch keine, nur einen Grund, weshalb das Schwimmen im Fluss verboten ist. Aber es gibt keinen Grund, dass Kinder so zu Erwachsenen werden müssen, nicht einmal schwierige Kinder, und wenn Branco mit Lila am Freitag zum Fluss hinuntergeht, gibt es keine Clique mehr, gibt es nur noch sie beide, und sie werfen Blumen in den Fluss, murmeln etwas in die Fluten, halten sich aneinander fest.