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Andrea Gerster: Ein nichtalltägliches Geräusch 

Mutter ist sechzig und in den Träumen meines Vaters geht sie fremd. Ich frage mich, wann sie damit aufhört. Nach solchen Träumen ist mein Vater verstimmt. Manchmal tagelang. Mutter ahnt nichts davon. Sie denkt, er leide am Alter.
Ich fahre zu meinen Eltern. Sie sind froh, dass ich sie wieder alleine besuche.
Einmal kam ich mit Claudia. Wir saßen auf dem Sofa, meine Eltern uns gegenüber, Claudia zog mich an sich und küsste mich. Vater wischte sich ab da unentwegt Krümel von seiner Jeans, Mutter zupfte an den Blättern der Pflanze auf dem Salontisch. Die Tochter, die einzige, sitzt da mit einer Claudia.
Fahrt verlangsamen. Es wird gebaut. Ein Fußballstadion entsteht unmittelbar neben der Autobahn. Ich mag Fußball. Sinnloses zieht mich an.
Neben der rechten Fahrspur wird Erde abgetragen und zu braunen Spitzbergen aufgehäuft. Ein Bagger ruckt vor und zurück. An einem Arm befestigt, gräbt sich ein vorne gezacktes Händchen in eine braune Masse.
Ich glaube, weiche, feuchte Erde zu riechen.
Mit beiden Händen forme ich eine Baggerschaufel und drücke sie in die weiche Erde. Mutter kommt, ohne ein Wort zieht sie mich am Handgelenk hoch und hinter sich her Richtung Haus. Sie ist ein Mädchen, kapier das endlich, ruft sie über die Schulter zurück, ich lasse mich von ihr ziehen und sehe meinen Vater beim Erdhügel sitzen, er blickt auf seine Hände. Er war der zweite Bagger, und nun muss unsere Strasse warten. Mutter schleift mich ins Bad, bereits auf der Treppe bin ich gestolpert, aber Mutter hört mein Weinen nicht, sie stellt mich in die Badewanne und spritzt mich mitsamt den Kleidern ab, es ist kalt.

Claudia hatte kleine breite Hände, wie Baggerschäufelchen kamen die mir vor, und ihre Fingernägel hatten oft Zacken.
Ich fahre weg von der Autobahn und biege noch auf der Ausfahrtstrecke in die Baupiste ein, rolle neben den Bagger und sehe zu, wie sich das Baggerhändchen langsam und mit einer Zartheit, die mich rührt, wieder in die lehmige Masse eingräbt. An der Seite des Aufbaus lese ich den Namen Dietschi. Ein schöner Name, denke ich und lege den Rückwärtsgang ein. Wieder begegne ich der Tafel, die auf den Bau des Fußballstadions hinweist.
Mit Claudia besuchte ich das Estadio da Luz. Es ist mitten in Lissabon. Mit ihr schaute ich oft Fußballstadien an. In jeder Stadt, in die wir zusammen reisten, immer zuerst die Stadien. Wir wohnten im fünften Stock eines Hotels am Rossioplatz. Der Balkon war sehr schmal. Auf dem Vordach gegenüber saß jeden Morgen eine magere Katze, und Claudia stand, kaum sah sie das Tier, wie gebannt da und fürchtete, es könnte in die Tiefe fallen.
Jeden zweiten Sonntag fahre ich hier hinaus.
Jetzt nochmals abbiegen und dann eintauchen in die Kindwerdung. Bis ich in die schmale Strasse erreicht habe, wo mein Elternhaus steht, bin ich elf Jahre alt geworden. Das Haus hat ein feines Gelb an der Fassade, große Fenster und ein Flachdach. Es hat Stil. Ich hatte eine stilvolle Kindheit. Ich passte ausserordentlich gut zur Einrichtung des Hauses. Das ist auf jedem Foto zu sehen. Mutter arrangierte und Vater fotografierte mich. Es ist wichtig, festzuhalten, dass mich das nicht störte. Ich genoss es. Ich war ihre beste Anschaffung. Sie liebten mich. Zuweilen fehlte es mir, dass ich nicht recht wusste, was sie von mir erwarteten.

Schulter an Schulter stehen sie da, Vater lacht, Mutter lächelt, ich umarme beide.

Vater und ich sitzen auf dem schwarzen Ledersofa. Mit Claudia saß ich damals auch hier. Über uns ein Roy Lichtenstein. Eine Comic-Figur, heute unbezahlbar, aber Vater hatte damals sofort zugegriffen.
Ich habe mich in Dietschis Bagger verliebt, sage ich und spüre Vaters nach innen gerichtetes Lachen. Als Kind fürchtete ich, dass dieses Lachen sich in ihm ansammeln und er dann irgendwann explodieren könnte.
Was ist passiert? ruft Mutter aus der Küche.
Sie hat sich in einen Bagger von Dietschi verliebt.
In den Baggerfahrer?
In den Bagger, Mutter, in den Bagger von Dietschi, rufe ich.
Es ist zu früh, ich hätte besser noch nicht darüber gesprochen, denke ich. Besser wäre gewesen, wenn ich ihnen gesagt hätte, dass Claudia tot ist. Das wissen sie noch nicht.
Mutter serviert Krabbensalat mit Toast.
Sie streicht sich eine blonde Strähne aus der Stirn. Seit Jahren trägt sie denselben hellroten Lippenstift, der all das Schöne in ihrem Gesicht noch herauszustreichen vermag. Die schwarze Hose und der dunkelrote Kaschmirpullover betonen ihre Zierlichkeit.
Wie komme ich nur dazu die Tochter einer so schönen Frau zu sein?
Mit dir würde es keine lange aushalten, sei bloß froh, dass du mich hast. Manchmal lachte Vater, wenn Mutter das sagte, meistens aber nicht.
Ohne mich wärst du nichts, du Versager, höre ich wiederum Mutter, sie lacht ein schrilles, fremdes Lachen, und Vater hält plötzlich ein Messer in der Hand, und Mutter’s Lachen erstirbt.
Ich bin um zwanzig Jahre verrutscht. Heute trägt Mutter Jeans und ihr Haar ist kurz und nicht blond. Aber schön ist sie dennoch.
Unser Hotel in Lissabon war alt, das Bett zu kurz und der krummbeinige Schreibtisch wackelig. Das Frühstücksbuffet befand sich in einer dunklen Ecke, darum herum ein Gedränge. Claudia und ich lachten gleichzeitig. Das war das letzte Mal, dass wir gleichzeitig lachten.
Neben uns sass ein Paar. Ich hatte mich so hingesetzt, dass ich auf den großen Platz hinaus sah, und musste dafür in Kauf nehmen, dass ich die beiden stets im Blickfeld hatte. Die Frau hatte einen Ausschlag im Gesicht und war sehr schlank. Als sie dann mit einem Mal miteinander zu sprechen begannen, stellte ich fest: Sie waren doch kein Paar. Der Mann war Deutscher und auf der Reise nach Brasilien für einige Tage in Lissabon zwischengelandet.
Ich bin aus Holland, sagte die Frau.
Sie reisen alleine? fragte er.
Wir wollten nur übernachten und dann weiter an die Algarve, aber mein Mann musste unbedingt Ente essen.
Erbrechen? fragte der Mann in einem mitfühlenden Ton.
Und wie, der kotzt Tag und Nacht. 
Die Frau lachte, und ich dachte, wenn ihr Mann in seinen verschwitzten Lacken wüsste, dass sich seine Frau soeben mit einem wildfremden Deutschen über seine elende körperliche Verfassung lustig macht, dann würde er sie umbringen.
Die Holländerin ist Schuld an Claudias Tod.
Du hast dich also in einen Bagger verliebt, höre ich Mutter sagen.
In einen von Dietschi, es darf kein anderer sein, lachte mein Vater. Als ob ein Ertrinkender nach Luft schnappte.
Ich mag meine Eltern. Sie meinen es gut. In ihrem Lachen fühle ich mich aufgehoben. Nie würden sie sich so verhalten wie die Frau mit dem Ausschlag. Mit Fremden über ihre Liebsten lachen, so was tut man nicht.
Aber auch Claudia hatte das getan.

Was kostet ein Bagger? frage ich Vater.
Vater macht ein ernstes Gesicht. Wenn es um Zahlen und Rechnen geht, lacht er nie.
Der vierte Tag unseres Aufenthalts in Lissabon. Claudia saß auf dem Badewannenrand und telefonierte heimlich. Zuvor hatte sie behauptet, sie hole einen Pullover, es sei kühler als sie gedacht habe, und war wieder durch den Hoteleingang verschwunden. Ich war kurz auf dem Gehsteig stehen geblieben, dann ging ich ebenfalls hoch. Warum? Manchmal tut man Dinge aus dem Bauch heraus.
Nachdem ich Claudia im Bad überrascht hatte, sagte ich: Die Katze ist soeben vom Dach gefallen. Danach fuhr ich mit der Metro kreuz und quer durch den Untergrund Lissabons. Am Oriente stieg ich wieder hoch und ging ins Einkaufszentrum Vasco da Gama. Ganz oben war eine Essmeile angelegt. Die Dachterrasse war offen.

Ist ein um 360 Grad drehbarer Aufbau wichtig für dich?
Vater hat seine sonore Geschäftsstimme hervorgekramt. Seit sieben Jahren ist er pensioniert. Liess sich frühpensionieren, der Architekt, und jetzt hat sich seine Prinzessin in einen Bagger verliebt, das gibt Auftrieb.
Es gibt Seilbagger, Schaufelrad-, Schürf- und Löffelbagger...
Der Bagger von Dietschi, unterbreche ich Vater.
Es war kühl hier oben, Claudia hatte Recht gehabt, ein Pullover wäre jetzt gut gewesen. Aber die Pulloversache war fingiert. War ich ihr schnell auf die Schliche gekommen? Unwichtig mit wem sie telefoniert hatte, sie hatte mich mitten in Lissabon unter einem Vorwand auf der Strasse stehen lassen. Das war Betrug.

An der Brüstung der Terrasse saß eine Frau. In der einen Hand hielt sie ein Käsebrötchen. Ich setzte mich so an einen der Tische, dass ich sie beobachten konnte. Kaum hatte sie den letzten Bissen geschluckt, fingerte sie eine Zigarette aus dem Päckchen. Sie nahm einige hastige Züge und drückte sie aus. Sie trat zur Brüstung hin, hielt einen Moment inne, sah hinunter, drehte sich mit einer schnellen Bewegung um und ging. Als sie an mir vorbeikam, trafen sich unsere Blicke. Sie hatte daran gedacht, sich von der Terrasse zu stürzen, das konnte ich ihr ansehen.
Ich blickte ebenfalls über die Brüstung und sah auf einen modern gestalteten Platz mit flanierenden Menschen hinunter. Aus dieser Distanz vervielfachte sich die Einsamkeit. Sich vom Dach stürzen, hinunter zu den Menschen, wäre als ein Akt der Menschlichkeit an sich selber zu begreifen. Mit dem Gesicht voran, damit man unkenntlich wird, und alle Einsamen würden es einem gleich tun, alle mit dem Gesicht voran, um wenigstens im Tod noch Rätsel aufzugeben, ein Gesichts-Sudoku, das nie aufginge. Was dann noch zu tun übrig bliebe, wäre die Nasen in eine rote Schachtel, die Münder in eine blaue und die Augen in eine grüne zu legen. Um damit die Welt neu zu ordnen.
Die Welt neu ordnen. Das musste auch ich. Nachdem ich aus Portugal zurück war.
Wo sagst du, bist du gerade?
Vater übertrifft sich selber heute, Mutter werkt in der Küche. Typische Sonntagsgeräusche. Ich bin nicht mehr elf Jahre alt, und seit Lissabon habe ich ein Geräusch im Ohr.
Etwa Tinnitus? ruft Mutter aus der Küche.
Habe ich laut gedacht?
Warst du alleine in Lissabon? fragt Vater.
Vater hat eine eklige Stimme, wenn er brüllt. Nicht schon wieder eine Szene, sagt Mutter, ich habe Kopfschmerzen. Er hält sie an der Schulter fest, sie versucht ihn abzuschütteln und stürzt. Vater und ich bringen ihr jeden Tag Rosen ins Krankenhaus.

Warst du beim Arzt?
Spezielle Form von Tinnitus, sage ich, ein Platschen, alle paar Stunden.
Ein Platschen? Vater staunt.
Als ob ein Körper auf der Strasse aufschlägt.
Ist ja nicht gerade ein alltägliches Geräusch.
Das war jetzt einer jener Sätze, derentwegen ich meinen Vater liebe.
Ich hörte einmal, wie ein Körper auf der Strasse aufschlug, sage ich, das war in Lissabon.
Wir sollten jetzt nicht vom Thema abschweifen, so ein Bagger kostet Geld.
Ich war nicht allein in Lissabon.
Was machst du denn noch in der Küche, Veronika? Sollten wir nicht anfangen, der Toast wird kalt.
Vater scheint das Thema Lissabon definitiv nicht zu behagen.
Wir essen Krabben und Toast.

Als ich an jenem Tag zurückkehrte, saß Claudia in einem kleinen Café vor unserem Hotel und winkte mich heran. Ihr Gesicht hatte einen freudigen Ausdruck. Ich habe noch nie jemanden geschlagen.
Das kann Vater nicht von sich behaupten.
Als Claudia am Morgen erklärt hatte, noch einen Pullover holen zu wollen, war sie mir fremd geworden. Diese Fremdheit breitete sich aus. Bald würde ich nicht mehr wissen, wie sie heißt oder wie sie aussieht. Höflich fragte ich, ob der Platz neben ihr noch frei sei, und sie sagte, wo warst du den ganzen Tag, einfach so zu verschwinden, was für ein verrücktes Huhn du doch bist, aber deshalb liebe ich dich ja, ich habe mir dieses Design-Hotel in Cascais angesehen; hat uns ganz gut getan, die paar Stunden ohne einander.
Ich möchte zurück, sagte ich.
Wohin zurück? fragte Claudia. 
Zurück in die Schweiz.
Ist was geschehen?
Ja, sagte ich, es ist etwas geschehen, ich muss die Welt neu ordnen.
Wir saßen an einem runden Tisch in einer ganzen Reihe solcher Tische voll müder Touristen mit ausgestreckten Beinen und schleppenden Unterhaltungen; nur Claudia lachte, über mich, darüber, dass ich die Welt neu ordnen wollte.
Wie schnell es Claudia doch schaffte gute Momente ins Gegenteil zu kippen.
Wie Mutter.

Baumanns waren auch in Portugal, sagt Mutter, aber an der Algarve.
Und jetzt lassen sie sich scheiden, sagt Vater.
Wegen Portugal? frage ich.
Kommt nicht ganz unerwartet, sagt Mutter.
Das sagst du, murmelt Vater.
Du und deine Eifersucht, sagt Mutter und lacht.
Das könnte man auch anders nennen, meint Vater.
Was ist jetzt mit dem Bagger, frage ich, und bin wieder elf und muss verhindern, dass die Eltern in Streit geraten. Die Auseinandersetzungen meiner Eltern haben eine Dramaturgie, die seit Jahren unverändert ist. Obschon ich den Ablauf kenne, fürchte ich mich, denn Vater könnte irgendwann wieder ein Messer in der Hand haben.
Er schlurft mit dem leeren Teller aus dem Wohnzimmer. Ich blicke zu Mutter, und sie sagt leise: Der Baumann war halt einmal zum Kaffee hier. Das hat Vater in den falschen Hals gekriegt.
Und weshalb musstest du jetzt davon anfangen? frage ich.
Er hat doch angefangen, sagt sie laut, und steht ebenfalls auf.
Sie werden noch ein wenig hin und her maulen, was dann nach und nach in eine lautstarke Auseinandersetzung münden wird.

Ich stand auf, etwas ungestüm zugegeben, der kleine Tisch kippte und mit ihm der heiße Tee, den ich noch bestellt hatte, und Claudia schrie, vor Schmerz, denke ich. Ohne mich noch einmal umzusehen ging ich ins Hotel und begann zu packen.

Mutter ist jetzt bei Vater in der Küche, Stimmen schwellen an und ab. Es nimmt also seinen Lauf und kann nicht mehr aufgehalten werden. Denn sie wird nicht aufhören, meine schöne Mutter wird Dinge zu Vater sagen, die ihn zunehmend lauter werden lassen, mein Magen zieht sich zusammen. Der Autoschlüssel lässt sich nicht finden.

Einige Zeit später kam Claudia ins Zimmer, die rechte Hand in schneeweißem Verband, du hast mich verbrüht, sagte sie, warum hast du das getan? Sie wurde lauter. Antworte endlich! Ihre Stimme war hässlich, alles an ihr war hässlich.
Die Balkontüre stand offen.
In der Küche wird es lauter, ich höre Baumann’s Namen bis ins Wohnzimmer. In der Jackentasche, endlich, der Schlüssel, ich stürme zur Terrassentür, möchte meinen Eltern nicht mehr begegnen, obschon sie mich nicht wahrnehmen würden, selbst wenn ich im Handstand an ihnen vorbeiginge. Kurz vor der Terrassentüre mache ich kehrt und gehe doch noch in die Küche. Vater hat Mutter an der Bluse gepackt, ihre Gesichter sind entstellt, ich öffne die Besteckschublade und lege das Fleischmesser heraus.
Niemand steht in der Einfahrt, um mir zu winken. Ich schaffte es bisher nie zu gehen, wenn sie stritten. Denn ich glaubte, ich müsse dableiben, um das Schlimmste zu verhindern.
Doch was wäre das Schlimmste gewesen? Dass Vater Mutter tötete und dann sich selbst? Dass ich am Sonntag hinfahren und sie in ihrem eingetrockneten Blut auffinden müsste, nur weil ich nicht dageblieben war, um alles zu verhindern? Denn das war es, was sie von mir erwarteten.
Das Schlimmste, das weiß ich jetzt, ist das Geräusch, das ein Körper verursacht, wenn er auf der Strasse aufschlägt.
Auf die Autobahn, dann einschwenken auf die Baupiste und hin zum Bagger Dietschi. Das gezackte Händchen ruht. Ich berühre das kühle Metall mit meinen Lippen, dann besteige ich das Händchen und lege mich in die Wiege. Dem Dietschi werde ich von Claudia erzählen, er wird es nicht in den falschen Hals kriegen, er nicht.