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Kirsten Harjes: Großdeutsche Lösungen 

        Sie hatte schon einmal abgetrieben, da war sie noch sehr jung, am Anfang des Studiums, und mochte den Mann nicht. Das war eine klare und verhältnismäßig einfache Sache gewesen. So einfach, wie solche Sachen eben sind, wenn man eine Frau ist und noch fest damit rechnet, irgendwann einmal eine Familie zu gründen, später.
        Aber diesmal war alles anders.
        Sie fühlte sich im richtigen Alter. Das Studium war abgeschlossen, und sie stand zumindest mit einem Fuß schon in einem Beamtenverhältnis. Und sie mochte den Mann, er war der beste, den sie bisher getroffen hatte.
        Er mochte sie auch. Hingerissen nannte er sie seine “großdeutsche Lösung”, im Gegensatz zu seiner noch-Ehefrau, die er abfällig als seine “kleindeutsche Lösung” bezeichnete. Diese offenbar wohlgemeinte geostrategische Vereinahmung zweier Frauenkörper irritierte sie zwar, unter anderem, da sie meinte, sich vage an die Grundzüge Bismarckscher Außenpolitik zu erinnern, doch sie ließ sich von seiner Begeisterung für Metaphern und überhaupt für das Leben im Allgemeinen anstecken und begann insgeheim auf ihn zu hoffen.
        Der Unfall passierte gleich am Anfang ihrer frischen, ganz und gar spannenden Beziehung, die auf einer pädagogischen Fortbildung in einem gediegenen Dorf in der Wesermarsch begonnen hatte und dann im Lehrerzimmer einer Gesamtschule in der Innenstadt ihren Lauf nahm. Sie sahen sich nur donnerstags abends heimlich in ihrer kleinen Referendarsbude. Von einer kleindeutschen Scheidung war noch nicht die Rede, und noch wusste niemand außer seiner Frau, dass er damit auch eine zukünftige Tochter zurücklassen würde.
        Sie erschrak sich, als sie den Test ablas. Sagte, es sei vielleicht noch nicht der richtige Zeitpunkt, meinte, es sei vielleicht besser, wenn sie es nicht wollte. Später wäre besser.
        Er wollte es auf jeden Fall nicht, es roch nach vielen Veränderungen, nach Ärger und Bürden. Dann beging er den Fehler, den einzigen, den Männer in seiner Situation niemals machen dürfen: Er bezog vor einer ungeplant schwangeren Frau eine klare Stellung.
        Ängstlich, diesen schönen, intelligenten Mann, der als Werklehrer und beim Radrennen sein Geld verdiente, unter Druck zu setzen und damit eventuell zu verscheuchen, ging sie zur Klinik. Die Prozedur tat weh, denn diesmal wollte sie es eigentlich nicht hergeben. Sie weinte schon währenddessen, nicht erst danach. Aber es musste schließlich sein. Ein Kind ohne feste Anstellung und Ehemann ging einfach nicht. Dinge müssen reell sein, Hand und Fuß haben. Später, tröstete sie sich, würde es besser passen.
        Zeit ging ins Land. Aus seiner großdeutschen Beziehung wurde schließlich seine zweite Ehe, und aus der kleindeutschen eine Scheidung mit Unterhaltspflicht und begrenztem Besuchsrecht bei der kleinen Tochter. Auch sonst entwickelte sich alles nach Plan: Ihr erfolgreiches Referendariat mündete in eine Anstellung in seiner Nähe, man mietete eine schicke Wohnung an der Weser, hatte Geld, kochte nur mit frischen, feinen Zutaten und konnte sich viele schöne Urlaube leisten. Rotwein gab es täglich und nur ab 15 Euro die Flasche, Möbel wurden antik oder avant-garde gekauft, und man amüsierte sich im Bett, wenngleich er eher Athletensex und sie eher Blümchensex bevorzugte. Damals nannte er es noch Blümchensex, später, als alles langweiliger wurde, erfand er das etwas abfälligere Wort Rentnersex.
        Sie zogen unseren Neid auf sich, aber wir waren gerne mit ihnen zusammen, verbrachten gemeinsame Urlaube und setzten uns geduldig mit den rigiden Erziehungsvorstellungen des kinderlosen Paares auseinander. Uns blieb manchmal gar nichts anderes übrig. Unser kleiner Sohn machte sich während eines gemeinsamen Camping-Urlaubs in Norwegen immer genau vor dem Zelt unserer Freunde in die Hose, wie ein Hündchen, das sich gern dieselbe Stelle zum Markieren seines Gebiets aussucht. Wir waren planlose Weichlinge, hörten nicht auf die Freunde, und ließen den Sohn nicht, wie angeraten, zur Strafe mehrere Stunden in der nassen Hose herumspazieren, zwecks Erteilen einer Lektion. Wir bemühten uns dafür auf andere Weise um gute Laune, schleppten täglich Sechserträger Import auf den kilometerweit von der Straße entfernten Zeltplatz, mein Mann flirtete, so gut er konnte, mit der Freundin, und ich bemühte mich trotz Mutteraura weibliche Anziehungskräfte auf den Freund auszuüben.
        Die Jahre vergingen, wir lernten das Erziehen und härteten ab. Andere aus dem Freundeskreis zogen ebenfalls Kinder auf. Einige kriegten sie einfach, andere adoptierten oder hatten Erfolg mit Invitro-Fertilisationen.
        Die großdeutsche Ehe blieb kinderlos, zuerst gewollt, dann ungewollt, schließlich gequält, weil niemand wusste, warum. Die Gynäkologen spekulierten auf Sperma-Intoleranz gegenüber diesem speziellen Partner. Andere Ärzte, denen sie anvertrauen mochten, dass es bereits eine Schwangerschaft mit diesem speziellen Spermaproduzenten gegeben hatte, waren ratlos und schrieben Überweisungen für reproduktionstechnologische Kliniken.
        Er wollte das alles eigentlich nicht so gerne, denn er mochte die schicke Wohnung und die weinseligen Urlaube im Elsass, und sah seine Vaterwünsche, die er mit sporadischen Wochenendbesuchen und Unterhaltszahlungen ausleben konnte, so ungefähr erfüllt. Repro-Kliniken kannte er aus den Erzählungen seiner Männerfreunde, die in den berüchtigten Privatzimmern schon manche intime Stunde mit sich selbst verbracht hatten und von dort manchmal Tips für das Home-Entertainment mitbrachten, und das reichte ihm vollauf.
        Aber er machte dann doch alles mit. Zahlte, wichste, wann immer dazu aufgefordert, leistete Sex nach dem Stundenplan des Fertilitätsmonitors, der neben dem Wecker stand und von dort die Vorgänge im Schlafzimmer streng regierte. Er mochte sie noch immer, und wollte ihr die Mutterwünsche nicht versagen. Außerdem hatte er das dunkle Gefühl, etwas wiedergutmachen zu müssen.
        Es rieb ihn auf. Beratungsgespräche, Besuche in der Klinik, seine Frau, die während der Hormonbehandlungen zu einem Nervenbündel wurde. Dann auch zu einem Nervenbündel während der Inkubationszeit: ‘Wird es bleiben? Die erste Woche überleben? Die zweite? Was bedeutet dieses Ziehen im Unterleib? Was der rote Tropfen? Ist es die Regel, die alles herauswäscht? War alles umsonst?’
         Schließlich ein Nervenbündel auch zwischen den erfolglosen Versuchen: ‘Werde ich bestraft? Habe ich das Muttersein verspielt? Will keine kleine Seele bei mir einkehren? Ist meine Gebärmutter kinderfeindliches Gebiet geworden?’
        Er wollte schon lange nicht mehr. Nicht mehr in die Klinik. Nicht mehr zahlen. Nicht mehr mit einem Hormonbündel Urlaub machen.
        Aber es galt immer dringender, Dinge wiedergutzumachen. Fast noch frisch verheiratet hatte er damals eine Frau mit einem kleinen Kind sitzenlassen, aus heiterem Himmel, wegen einer Affäre, einer neuen, schönen, schlauen Frau, von der er begeistert gewesen war. Begeistert vor allem, weil ein solches Klasse-Weib gerade ihn auserwählt hatte.
        Nie hätte er sich das zugetraut. Hätte er geahnt, dass er so hoch im Kurs stehen könnte, hätte er die erste nicht heiraten müssen. Und diese hier eigentlich auch nicht, denn er hätte sich ja schon alles bewiesen, was man sich so beweisen muss. Er hätte in Ruhe auf einen Menschen warten können.
        Nach mehreren vergeblichen Versuchen, ein Leben herbeizuzwingen, gaben sie es vorerst auf und gönnten sich eine Erholungspause. Während dieser Ruhephase lernte sie einen Mann kennen. Einen etwas älteren Mann, der nicht Rad fuhr, sondern Geige spielte, und, so wie sie, Rentnersex mochte. Er nannte das aber etwas zärtlicher ‘Kuschelsex’ und stand dazu, oft, gern und lange. Sie fühlte sich nach den reprotechnischen Übergriffen auf ihren Unterleib am Ende ihrer Weiblichkeit und meinte, sich diese Art von Erholung verdient zu haben.
        Zeitgleich fand sich in seinem Lehrerzimmer eine erfrischende Frau, die das Geschehen im Schlafzimmer gern von der sportlichen Seite nahm. Die Dinge blieben eine Weile geheim, bis sie dann über eine ungefügige SMS in den Alltag platzten. Nach wie vor schuldbefangen bot er sofort an, die Sportlerin auf Eis zu legen.
        Sie jedoch hielt sich den Streicher erstmal noch warm, denn sie ist eine vorsichtige Person, und lässt sich nicht gerne alle Teppiche unter den Füßen wegziehen. Außerdem brachte die mittlerweile begonnene Ehetherapie nur das Allerschlechteste in ihrem Mann hervor, wodurch der Musiker den Status eines glanzvollen Helden voller Wärme und Verständnis erhielt, einen Status, den er aus eigener Kraft niemals hätte erreichen können.
        Er spürte in den Therapiesitzungen instinktiv, dass er auf dem falschen Ende der Wippe saß und sich mit voller Wucht dem Boden näherte. Die Psychologin konnte als weibliche Person niemals seine Verbündete werden, und wurde somit natürlich die seiner Frau. Gemeinsam sprangen die beiden an den gemeinsten Gesprächsuntiefen ganz unerwartet ab und ließen ihn einfach nach unten schnellen. Wenn er dann voller Schmerz vor Wut aufschrie, schauten sie ihn mitleidig und besorgt an, die Frauen, und bescheinigten ihm mal wieder, dass man so nicht weiterkäme, und bis nächste Woche dann.
         Vorsichtshalber wurde er immer schon auf der Fahrt zur Praxis aggressiv. Über das Lenkrad hinweg gestikulierte und zeterte er, verwandelte seine Frau in eine Schlampe, die Ehen zerstöre, indem sie anderen Frauen die Männer wegnähme. So, wie sie ihn damals von seiner zugegebenermaßen uninteressanten, mittelmäßigen, aber dennoch Ehefrau entfremdet habe. Auf der Windschutzscheibe erschien ihm die Vision einer riesigen vorzeitlichen Vagina Dentata, wie er sie als Vasenkunst von Bachofen kannte. In solchen Momenten stieg es ihm hoch, er mochte nicht einmal mehr das Lenkrad mit bloßen Händen berühren, und wühlte zornig nach den Wildlederhandschuhen in der Fahrertür.
        Sie konnte sich ihm nach solchen Eskapaden einfach nicht mehr übereignen. Sie suchte nach Verhaltensänderungen, nach Verständnis, nach Wärme, und vor allem nach Blümchensex, der all ihre Wünsche physisch ausgedrückt hätte. Er hingegen hielt sich spröde bedeckt, verzichtete aber auf die athletische Kollegin und verlangte von seiner Frau das Ausradieren des Geigenspielers von Festplatte, Handy-Speicher und Gedächtnis. Sie weigerte sich, verbrachte dann aber doch weniger Nächte außer Haus, besonders, nachdem sie erfuhr, dass ihr Orchestermensch bereits eine andere beblümte und bekuschelte.
        Viele Monate lang dauerte dieser Zustand. Sie beäugten sich vorsichtig und misstrauisch von der Warte ihrer angestammten Gefechtspositionen. Nichts bewegte sich.
        Zwischendurch bekam sie Krebs und verlor ihre linke Brust. Die Mutterbrust, wie sie den esoterischen Büchern, in denen sie Halt suchte, entnahm. Er fände das alles gar nicht so schlimm, tröstete er. Ihm täten nur die vielen tausend Euros leid, die sie für Gruppentherapien in der Toskana mit anderen Betroffenen ausgebe. Er an ihrer Stelle hätte so eine Veränderung akzeptiert ohne großes Trara, so ist das Leben nun mal, es wird einem nichts geschenkt, man muss das so nehmen wie falsche Zähne, ist doch wahr.
        Den einzigen Lichtblick brachte ein Freijahr, dass sich beide nach acht Jahren Fronteinsatz in hunderten von Klassenzimmern redlich verdient hatten. Sie zogen in eine winzige Wohnung, die sie als Ausgangsstation für viele kleinere und größere Reisen um die Welt benutzten. Dazwischen verbrachten sie immer mal wieder ein paar Tage oder Wochen gemeinsam in dieser Höhle, tranken Rotwein, schauten Spielfilme, und gaben ihr letztes Geld aus.
        Wenn sie neben ihm einschläft, sucht sie manchmal nach Geborgenheit, und legt einen Arm um seinen Bauch. Den Linken.
        Doch er liegt dann nur steif und stumm da, denn manche Wut wächst leise. Er würde wohl gern mit ihr schlafen, statt nur das Gewicht eines Armes auf seinem Bauch zu spüren. Aber der Arm erinnerte ihn immer noch an Geigenmusik, und ihre linke Seite, silikongefedert und mit einer kosmetischen Nippeltätowierung versehen, an sein mangelndes Verständnis für Außenpolitik: Er hatte auf alles gesetzt, und wahrscheinlich alles verloren. Das war dumm. Das machte man einfach nicht, wenn es um Territorien ging. Auch spät in der Nacht noch steigt er aus dem Bett und trottet verdrossen in die Kneipe.
        Sie schreckt dann aus ihrem Halbschlaf auf, weint ein bisschen, ist zu erschöpft, um die Stille lange zu ertragen, ruft sein Handy an, und beschwichtigt soweit, dass er missmutig zurückkehrt. Man schläft erstmal. Senkt die Gewehre. Evaluiert am nächsten Tag die Gefechtspositionen, entscheidet klug, dass sich nicht viel ändern kann, wenn jeder Recht behält, obwohl jeder Recht hat. Die Einsicht ist weise, doch auf sie folgt Ratlosigkeit, und darum Tatenlosigkeit, und so verharren sie manchmal wütend, manchmal einfach nur perplex in ihren Schützengräben.
        Im August fängt das Schuljahr wieder an. So verstreicht mit den Jahren langsam die mittlere Lebensphase. Danach gibt es kein später mehr. Sie werden es bemerken und sagen, früher wäre besser gewesen.
        Und verdammt nochmal, sie werden Recht haben.