Home       Locations       Events       Unternehmen       Lesungen       Kontakt       Impressum       English      

Dorothea Beckmann: Leben ohne 

Fast zeitgleich hatte rechts am Tisch ein Elch seinen Brunftschrei ausgestoßen und hinter uns ein Notfallwagen gestoppt, als Erik endgültig die Geduld verlor:
„Verdammt, es muss doch auch ohne diese mobilen Quatschkisten und ihre originellen Klingeltöne gehen! Gibt es denn tatsächlich niemanden mehr, der ohne das alles auskommt?“

Das war die Frage, die wir uns damals stellten, vor gut einem Jahr im „Café Zett“, und wir bekamen Lust eine Antwort darauf zu finden. Der Anfang war schnell gemacht: Uns! Uns gab es ja, Erik und mich, die noch immer ohne das alles auskamen. Und wir glaubten auch genau zu wissen, was unter „das alles“ zu verstehen war: die moderne Technik, die wie ein rasant wachsendes Geschwür von allen Lebensbereichen Besitz ergriff. Da waren erstmal die Handys, mit ihrer nervtötenden Akustik und ihren tyrannisierenden Zusatzfunktionen. Dann die Digitalkameras, MP3-Player, Notebooks und Headsets, die elektronischen Terminkalender, Navigationssysteme, Internet-Cafés, Flachbildschirme und Mailboxen, schließlich die aus jedem zweiten dauermusikhörenden Erwachsenenohr heraushängenden Kabel, kurz: die allerorten salonfähige mediale Geschäftigkeit mit Mitteln der modernen Technik.
Erik und ich waren in unserem alten Freundeskreis seit geraumer Zeit die letzten, die nichts dergleichen besaßen oder nutzten, das heißt, um genau zu sein: Ich hatte einen alten PC und irgendwo noch eine mir selbst nicht mehr bekannte E-Mail-Adresse, und Erik hatte sich vor kurzem einen DVD-Player vom Flohmarkt geholt. Das war´s dann aber auch, das war alles an leidlich „moderner“ Technik, die wir unser eigen nannten. Im Gegensatz zu den meisten unserer Bekannten waren wir des schriftlichen Dividierens noch mächtig, wussten, wie eine Briefmarke schmeckt und wie man einen öffentlichen Münzfernsprecher bedient.
Unsere chronische Technik-Allergie war immer ein gutes Thema gewesen, um uns unserer übereinstimmenden Gesinnung und schließlich unserer Freundschaft überhaupt zu versichern. Aber sie hatte uns gleichzeitig auch ein wenig isoliert, jenseits all der Netze, in denen wir weder surften, noch telefonierten oder chatteten.
An diesem Nachmittag kam uns deshalb die Idee, nach weiteren Abstinenzlern zu suchen, nach notorischen Fortschrittsverweigerern, mit denen zusammen es sich noch viel besser über die Welt von heute echauffieren ließ.
Unter der Rubrik „Vermischtes“ setzten wir tags drauf eine Anzeige ins Stadtmagazin: „Handy, Laptop, Webcam & Co - Wer kann, wie wir, das alles nicht mehr sehen? Suchen Aussteiger oder erst gar nicht Eingestiegene zum gemeinsamen Austausch. Chiffre: Leben ohne.“

Und wir bekamen tatsächlich einige Zuschriften: Paul und Anna, die einen Selbstversorger-Hof bewirtschafteten, Viktor und Heidrun, ein älteres Ehepaar aus dem Osten, die Sinologiestudentin Gabriella, der allein erziehende Andreas und der Kunsthistoriker Tom, sie alle kamen zum ersten Treffen unserer „Leben ohne“-Gruppe. Schon bald stellte sich heraus, dass die meisten, so wie wir, noch das ein oder andere Relikt aus medienkonsumfreudigen Tagen besaßen, und schnell war der Entschluss gefasst, das alles gehöre abgeschafft. Einzig ein Schnur besitzendes Gerät zur Telekommunikation und ein analoger Radioempfänger schienen uns ein ansonsten konsequentes „Leben ohne“ nicht zu gefährden.
Tatsächlich fühlten wir uns frei, als Fernseher, Computer und Videorekorder zum Recyclinghof gebracht waren und prompt die GEZ-Schnüffler auf der Matte standen, weil sie dem vermeintlichen Märchen von der Abschaffung der Bildröhren nicht so recht glauben mochten. Wir fühlten uns frei und unverwundbar, immun gegen Stromausfall, Trojaner und Update-Aufforderungen.

Doch schon bei unserer dritten Zusammenkunft begannen wir uns zu langweilen, und ich schlug vor, weitere Überflüssigkeiten in die Verweigerung mit einzubeziehen. Tom forderte daraufhin ein Auskommen ohne Sushi, Chili-Lavendel-Schokolade und Kaffeepadautomaten, Gabriella war sich sicher, in Zukunft auf Kuschel-Partys, Sudokus und gelbe Labradore verzichten zu können, und Viktor bestand auf den Boykott von DDR-Souvenirs. Selbst Bionade und Büchner-Preisträger wurden ins Gespräch gebracht. Nun gut, es erschien uns nur konsequent, auf alles zu verzichten, was andere zum Leben brauchten oder zu brauchen glaubten.

Weil wir auch ohne schaumige Kaffeegetränke auskommen wollten, saßen Erik und ich jetzt nicht mehr im „Café Zett“, sondern lagen auf den Wiesen im Stadtpark, und wir waren glücklich. So glücklich, dass ich mir zutraute, weitere Selbstverständlichkeiten aus meinem Leben zu streichen.
„Glaubst du“, fragte ich Erik, „es ginge auch ohne Sonja und Kathrin?“
Wir schwiegen eine Weile und betrachteten die vorbei treibenden Schäfchenwolken.

Am nächsten Tag zog Erik einen Schlussstrich unter seine bereits zwei Jahrzehnte währende Ehe, und ich sondierte Kathrins Akzeptanz bezüglich eines ähnlichen Schrittes. Sie hatte das Verschwinden von Dampfbügeleisen und Weinthermometer aus unserem gemeinsamen Haushalt bereits als Hinweis auf eine bevorstehende Trennung gedeutet und schien insofern nicht sonderlich überrascht. Und wenn sie auch in den vergangenen Wochen durch mein „Leben ohne“ so manche Entbehrung hatte hinnehmen müssen - diese letzte war ihr wohl mehr ein Gewinn. Am Tag meines Auszugs gaben sich die Installateure die Klinke in die Hand und Kathrin zeigte ihnen die verwaisten Anschlüsse für DSL, Antenne und Wäschetrockner.
Wir wünschten uns viel Glück bei unserer Suche nach dem richtigen Leben, und ich zog vorübergehend erstmal in ein Männerwohnheim.

Am folgenden Gruppenabend stieß Eriks und meine Entscheidung, in Zukunft ohne Partnerschaft leben zu wollen, auf heftige Resonanz und provozierte den ersten Bruch innerhalb der Gruppe. Als allein erziehender und auf baldige weibliche Unterstützung hoffender Vater sah sich Andreas nicht in der Lage der neuen Devise zu folgen. Auch Tom wollte weder auf den intimen Umgang mit dem anderen noch mit dem eigenen Geschlecht verzichten. Anna und Paul konnten wir schnell für die Partnerschaftslosigkeit begeistern. Sie trennten sich und blieben beide der Gruppe treu. Gabriella sah es pragmatisch: So bekam ihr unfreiwilliges Single-Leben eine ideologische Untermauerung, die das vormals Defizitäre kurzerhand zur Überlegenheit erklärte. Heidrun überraschte uns und ihren Mann mit dem Geständnis, sie habe im Zuge der technischen Befreiung die sexuelle gleich mit vollzogen und die Scheidung bereits eingereicht, woraufhin Viktor gekränkt und mit der Ankündigung, fortan wieder Club-Cola trinken zu wollen, die Gruppe verließ.

In den folgenden Wochen saßen wir häufig bei Anna und Paul im Garten und diskutierten den persönlichen Gewinn unseres exzessiven Verzichtens. Die Frauen erlebten durch das Verschwinden von Überflüssigem einen Zuwachs an Lebensqualität und Muße. Für Paul und Erik war es der Ehrgeiz, der sie anstachelte. Sie wollten sich selbst und den anderen beweisen, wie viel an Weniger aushaltbar war. Nur ich war mir, wie so oft, nicht sicher, warum und wie lange ich noch dabei bleiben würde. Ich wusste nur, dass sich ein Leben ohne Handy, Computer und Fernseher gut angefühlt hatte, und dass mir die Freundschaft zu Erik viel bedeutete.

Für uns alle sechs stand aber zunächst fest: Wir machen weiter. Das Weglassen war uns zur Obsession, die Lücke zum Glück geworden. Ein Leben ohne Payback-Karten, ohne Konfessionszugehörigkeit und ohne Geschmacksverstärker führten wir natürlich längst alle. Auf breite Zustimmung stießen auch die Vorschläge, sämtliche Versicherungen zu kündigen und in Zukunft auf die Beachtung jeglicher Verkehrsregeln zu verzichten. Als Paul aber die weit reichende Forderung nach einem Leben ohne Erinnerungen ins Spiel brachte, kam es innerhalb der Gruppe erneut zum Bruch. Zwar wurden die Erinnerungen rasch auf solche des materiellen Besitzes beschränkt, doch wollten sich Anna und Heidrun keineswegs von ihren Fotoalben und Tagebücher trennen. Gabriella hingegen war froh, die Sammeltassen ihrer Großtante verkaufen zu können, und ich verstaute alle alten Briefe in einem Müllsack, den ich jedoch vorsorglich im Keller meiner Schwester deponierte.

Vorübergehend waren wir auf ein asketisches Quartett zusammengeschrumpft, und wir witzelten über den sich selbst dezimierenden Charakter unserer „Leben ohne“-Gruppe. Aber irgendwo hat bekanntlich jeder seine Achillesferse, und so verloren wir Gabriella und Paul, als Erik ein Auskommen ohne Jakobsweg-Literatur und beschriftete Kunststoffarmbänder vorschlug.

Nun waren wir also wieder allein, nur Erik und ich, und wir beschlossen mit der Entsorgung von Lebensballast jetzt rigoroser voranzuschreiten. Die gelegentliche Verzagtheit der ehemaligen Mitstreiter habe uns beim Reduzieren doch hier und da behindert, meinte Erik, aber nun sei es an der Zeit kompromisslos in unserem Leben aufzuräumen.
Und das tat er. Wie die wenige Tage später auf meinem Schreibtisch liegende Kündigung erkennen ließ, hatte Erik bei meinem Chef ein wirkungsvolles Wort für mein Leben ohne Arbeit eingelegt. Den plötzlich leeren Schränken in meinem Wohnheimzimmer entnahm ich, dass nun auch ein Leben gänzlich ohne materiellen Besitz angezeigt war. Und als Erik nach meiner Bankverbindung fragte, begleitete ich ihn tags drauf zur Sparkasse, wo wir die Auflösung meines Kontos veranlassten. Am liebsten hätten wir das Geld verschenkt oder einfach irgendwo liegengelassen (meinte Erik), aber wir benötigten es zur Realisierung unseres finalen großen Vorhabens, eines Lebens ohne Orientierung und Perspektive. Das, meinte Erik, werde uns auf den Boden unseres Selbst zurückwerfen und dort, so sagte er, wolle er hin. Da ich hin wollte, wo Erik war, und ich seit meinem Verzicht auf Reinigungsprodukte sowieso keine anderen Freunde mehr hatte, ging die Sache mit dem Boden des Selbst für mich in Ordnung.
Eriks Plan sah vor, mit möglichst einfachen Transportmitteln an einen Ort zu gelangen, der sich fernab jeglicher Zivilisation befand, und dort wollte er dann noch auf diesen oder jenen überflüssigen Schnickschnack verzichten, wobei er irgend etwas von Nahrung und Sprache nuschelte.

Vor rund einem Monat brachen wir auf. Ohne konkretes Ziel ließen wir uns weiter und weiter nach Norden treiben, mal mit den paar wenigen Autofahrern, die noch auf Tramper reagierten, mal zu Fuß, mal mit einem Pferdefuhrwerk oder einem herrenlosen Boot. Dabei versuchten wir, nicht auf den Weg, die Nummernschilder oder die Landessprachen zu achten, um auch ja am Ende ohne jede Orientierung zu sein.
Nach zwei Wochen gelangten wir in eine Gegend, in die sich kein berädertes Vehikel mehr zu verirren schien, und wir liefen weiter geradeaus, durch Wälder ohne Wege und ohne menschliche Hinterlassenschaften.
Eriks Laune stieg von Tag zu Tag und glich mittlerweile einer Euphorie, die jener der Goldgräberpioniere in nichts nachstand.
Irgendwann hatten wir keinen Proviant mehr, die Vegetationszone der beerenartigen Gewächse lag weit hinter uns und jenen Tieren, die wir in dieser Gegend noch vermuteten, wollten wir weder begegnen, noch hätten wir uns im Stande oder auch nur Mittels gesehen, sie für den Verzehr herzurichten.
Wir setzten uns auf einen Stein und betrachteten die karge Landschaft, der es hier, so wie uns, an vielem mangelte. Erik atmete tief ein:
„Na, wie fühlt sich das an?“
Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte.
„Pur“, befand er selbst. „Leben pur. Und ab morgen werden wir ohne gesprochene Sprache auskommen.“
Ich war nicht einmal sicher, ob ich mit dem, was ich am Leib trug und ohne all das, was ich jetzt gerne in meinem Magen gewusst hätte, über die Nacht kommen würde.
„Wir werden erfahren, wie sich ein Leben ohne alles anfühlt“, schwärmte Erik weiter, „wie die ersten Menschen, ganz am Anfang...“
„Erik...“, begann ich zaghaft, doch der sprach gerade von jenem Boden des Selbst, auf dem er uns nun angelangt sah.
„Erik“, setzte ich noch einmal an, nun etwas lauter. „Ich will nicht mehr.“
„Was hast du gesagt?“ Meine Stimme schien Erik aus Gedanken gerissen zu haben, die er nur ungern zu denken unterbrach.
„Ich will nicht mehr“, wiederholte ich. „Ich gehe keinen Schritt weiter.“
Erik sah mich an, als hätte ich wirr in einer seltenen Fremdsprache gesprochen.
„Das hier ist nicht mehr meine Sache. Ich steige aus.“ Meine Stimme wurde langsam fester und ich sah Erik jetzt direkt ins Gesicht.
„Das ist nicht dein Ernst“, fuhr er mich an. „Das kannst du nicht machen. Wir haben das gemeinsam begonnen und ziehen das zusammen durch.“
„Nein, Erik, in den letzten Wochen hast du mich immer nur mitgezogen, und ich habe viel zu spät gemerkt, was mir alles fehlt. Mir fehlt die Stadt, ein kühles Bier, die Morgenzeitung, ein Sieg gegen die Bayern und ein gutes Sting-Album.“
Erik sprang auf. „Verräter!“ schrie er. „Du verrätst unsere wichtigsten Ideen und unsere Freundschaft obendrein!“
„Nein, du verrätst unsere Ideen“, rief ich. „Wir wollten ein Leben ohne diese lärmenden Künstlichkeiten und Zumutungen des Zeitgeistes, damit ohne das alles ein richtiges Leben übrig bleibt. `Leben ohne´, weißt du noch - nicht `ohne Leben´!“
Erik wollte etwas zurückbrüllen, besann sich aber, verschränkte die Arme vor der Brust und grinste breit.
„Und wie bitte willst du aussteigen?“ fragte er höhnisch. „Willst du hier in der Wildnis auf das nächste Taxi warten, das dich dann ohne Geld, das du ja nicht besitzt, nach Hause bringt?“ Er lachte spöttisch.

Ich wusste nicht, was ich in diesem Augenblick mehr hasste: das metallisch-kalte Ding, das meine Hand in der Jackentasche fest umklammerte, oder mich selbst, der ich mich in diese Situation gebracht und das nun Folgende nicht hatte verhindern können. Ich hätte es mir und auch Erik gerne erspart. Schweren Herzens zog ich das verdammte Ding aus der Tasche, und als Erik sah, was ich da in der Hand hielt, verrutschte sein Grinsen zu einer entsetzten schiefen Grimasse.
„Es tut mir leid“, murmelte ich. Und mit einem kleinen Fingerdruck verlor ich einen einzigartigen Freund für immer.

Ich brauchte nur zweimal klingeln zu lassen, bis Kathrin sich meldete: „Wo bist du?“
Vier Stunden später hatte man uns geortet, einen Hubschrauber geschickt und uns in die Zivilisation zurückgeholt. Erik hatte die ganze Zeit über kein Wort mehr gesprochen, nur apathisch auf einem Stein gehockt und vor sich hin gestarrt. Ich hatte vergeblich versucht, ihm die Sache mit dem Handy zu erklären. Dass Kathrin es mir am Abend vor unserer Abreise zugesteckt hatte, und was ich darum gegeben hätte es nie benutzen zu müssen. Aber auf all meine Beteuerungen und Erklärungen hatte er nicht mehr reagiert.

Seit ein paar Tagen wohne ich wieder bei Kathrin und ich bin froh, das verhasste Mobiltelefon gegen ein Leben an ihrer warmen Seite zurückgetauscht zu haben. Ich sitze auch manchmal wieder im „Café Zett“ und bemitleide all die von Klingeltönen und Vibration Getriebenen. Und doch werde ich für Erik jetzt immer einer von denen sein.