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Heide Floor: Ausgemustert 

Ich heiße Luisa Drachner und halte es zu Haus nicht mehr aus.
Mit hochgeschlagenem Kragen eile ich um die Ecke und  am nächstgelegenen Spielplatz vorbei, den unsere Tochter Lilly früher so gern mit mir aufsuchte.
Meinesgleichen erkenne ich schon von weitem. An ihrer Haltung, den Zeiten ihres Unterwegsseins, ihrem Äußeren, ihrer ganzen Art. Sie erkennen mich natürlich auch, was ihnen wie mir peinlich ist. Ihre Blicke - und je länger ich arbeitslos bin auch meine - huschen schnell dort hin, wo niemand sie richtig deuten kann. Bei einigen lösen sie sich gar nicht mehr vom Boden. Spätestens dann ist eine unsichtbare Grenze, eine Art Lichtschranke überschritten. Die Hoffnung auf ein besseres Leben und eine neue Arbeitsstelle, hat sich zu Enttäuschung und Resignation verfärbt.
Beim zweiten, von Pappeln umsäumten Kinderplatz, zeigt mir ein schneller Blick, dass kein bekanntes Gesicht zu sehen und meine Lieblingsbank frei ist.
Ich krame einen Ratgeber hervor, nach denen ich inzwischen süchtig  bin. Es ist einfacher als du denkst, signalisieren sie, verhalte dich so und so, bleib  am Ball!
Das sind Worte, die aufrichten und die Hoffnung noch in sich tragen.
Während die Buchstaben vor meinen Augen verschwimmen, muss ich mir eingestehen, dass ich trotzdem nicht weiß, wie es weitergehen soll. Die vielen Bewerbungs-Absagen, die zahllosen Enttäuschungen, die mitleidlosen Banken! Wie ein großer dunkler Schatten lastet die Arbeitslosigkeit und das Abgleiten ins soziale Aus auf mir. Ich spüre jeden Knochen, alles tut weh, der Rücken, der Kopf, die Beine.
Genau kann ich nicht sagen, warum mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, und warum ich immer öfter auf Spielplätze gehe, um nachzudenken und vom Rand her das Treiben der Kinder zu beobachten. Wahrscheinlich, weil hier das Leben spielt und die Zukunft noch so vielversprechend ist. Vielleicht auch, weil unsere Tochter Lilly ausgezogen ist. Nicht nur meinen Mann und mich, unsere ganze Art zu leben lehnt sie ab. Will alles anders und besser machen, was ich gut verstehe, was aber trotzdem weh tut.
Mein Mann hat seine Arbeit noch, und er kämpft darum, als ginge es um sein Leben. Wir sehen uns nicht mehr oft, und ich werde das Gefühl nicht los, dass er nicht mehr gern nach Hause kommt. Am liebsten würde er überhaupt keinen Urlaub mehr machen und jedes Wochenende durcharbeiten. Wegbleiben oder Auffallen sei nicht mehr drin, sagt er, Nichterreichbarkeit fast schon so etwas wie Betriebsverrat. Besonders in so einer kleinen Klitsche, wie die,  in der er sein Geld verdiene.
Ich schlucke dann jedes Mal. Sein Geld! Und ich die Nutznießerin. Gestoßen in das vielleicht tückischste aller Gefängnisse, die Abhängigkeit. Nebenbei lässt er auf seine unaufgeregte Art einfließen, dass ich zwar anders sei, Frauen sich generell aber schlechter an die veränderte Arbeitswelt anpassen und deshalb auch als Erste ausgemustert würden.
Ausgemustert!
Ich muss husten und spüre ein Stechen in der linken Rachenmandel. Morgen darf ich auf keinen Fall wieder das Sitzkissen vergessen. Immer häufiger plagen mich Infekte, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, und die ich nur schwer wieder los werde. Dabei bestrahle ich mich bei der kleinsten Erkältung mit Infrarotlicht und schlucke massenhaft Vitamin C. Kranksein und Arbeitfinden - eine Unmöglichkeit, von der ich nur zu genau weiß.
Nicht weit von mir legt sich ein Mädchen mit kraftstrotzender  Mähne auf den Bauch und rutscht rücklings von der Rutsche. Einen Moment lang bin ich fasziniert. Rückwärts herum und ohne Sicht! Würde ich mich das noch trauen? Wahrscheinlich, der Metallboden unter dem Kinderbauch ist fest und sicher verankert. Dann denke ich mit Sorge an meinen Mann. Neuerdings soll er sogar dafür sorgen, dass die Windschutzscheiben an den Autos bestimmter Kunden geputzt werden. Wenn der auch noch seine Arbeit verliert, gibt's endgültig Krieg zu Haus.

Mir ist kalt. Ich reibe ein paarmal über Arme und Beine und eile zum nächsten Spielplatz, einem als Abenteuerplatz konzipierten, mit einem halb im Sand versunkenen Piratenschiff aus Holz, einem daneben stehenden Mast mit Kletterseilen, Mastkorb und  einer Totenkopfflagge.
Ich finde eine freie Bank, strecke die Beine und sehe direkt auf meine geschwollenen Knöchel.
Ich fasse mich an den Kopf. Nach diesen paar Hundertmetern!
Wieso bleiben andere jung und agil, anscheinend ewig, und ich werde steif und wellig?
Sport, denke ich, sie treiben Sport. So wie unsere sich immer rarer machenden Freunde Kathrin und Janko, die zwar gestresst sind und über zu viel Arbeit jammern, aber trotzdem nie zu müde sind, um nach Feierabend noch durch den Park zu laufen.
Und ich? Zeit in Hülle und Fülle, finde trotzdem keine Zeit zum Laufen.
Mich beschäftigt, dass Ausländer verprügelt werden und Kinder im reichen Deutschland verhungern. Irgendwer muss sich ja darüber aufregen. Unübersehbar schließlich, dass der Staat ein unerbittlicher Kassierer ist, die Reichen noch reicher werden und die Kinder arm dran sind. Die hier so arglos tobenden Gören vor meiner Nase ahnen nicht, dass sich auch bei ihnen schon die Spreu vom Weizen trennt, dass etliche schon jetzt einen unsichtbaren Stempel tragen. Sie haben sich nicht die richtigen Eltern ausgesucht, die richtige Umwelt, die nötige Bildung.
Schiff in Sicht! Schiff in Sicht! ruft ein Kind aus dem wackligen Mastkorb mit der Totenkopfflagge. Es hält die zu einem Kreis geformten Daumen und Zeigefinger vors Auge und späht in die Weite.
Über mir reißt der Himmel auf, und für kurze Zeit funkelt die Sonne durch die Wolken.
Als ich noch kein Übergewicht hatte, bin ich oft mit Kathrin und Janko zusammen im Park gelaufen und habe am Fernseher kein Tennisturnier ausgelassen. Heute interessiere ich mich mehr für Chirurgie als für Sport - für Schönheitschirurgie. Wer Arbeit will, qualifizierte Arbeit, muss nicht nur fit, jung und belastbar, sondern auch attraktiv sein. Kein Wunder, dass sich meine Stirn runzelt, wenn ich sehe, wie Hüften, Besenreiser und Hautflecken heranwachsen. Die Backen beginnen zu hängen, auch wenn mein Mann das bestreitet, und  die Augenlider ebenfalls.
Woher, frage ich mich, sollen der Mut zum Schnitt und das Geld für die vielen Operationen kommen, die ich machen lassen müsste, um wieder fit und schön genug für den Kampf um die Arbeitsplätze zu werden? Eben mal schnell die Tränensäcke wegmachen oder sich eine Rolle Fett absaugen lassen, scheint für andere überhaupt kein Problem zu sein. Ich denke an Sophia Loren, die über Siebzig und noch unglaublich attraktiv ist. Ist im Grunde doch beschämend, dass ich nicht mal mit einer Siebzigjährigen mithalten kann. Und ich denke an das Sexsymbol deutscher Männer, Iris Berben, die immer noch glatt und jung und  rosig aussieht, obwohl sie bald  im Rentenalter ist.
Schönheit kommt von innen, tönt der Ratgeber auf meinen Knien, es zählen die inneren Werte. Mich packt nicht nur der Zweifel sondern  auch nackte Wut. Wer interessiert sich schon für innere Schönheit? Nicht mal mein Mann, und erst recht nicht die Banken oder irgendein Arbeitgeber.
Ein Junge, drei oder vier Jahre alt, steigt auf einen der Wipp-Elefanten mit silberfarbener Spirale unter dem Bauch und schaukelt derartig heftig, dass ich die Wucht bis auf meine Bank zu spüren meine. Mein Gott, die Ankerung könnte sich aus dem Boden lösen, das Kind würde stürzen und  sich verletzen, wahrscheinlich schwer, und auf dem Weg ins Krankenhaus sterben.
Ich vermisse unsere Tochter Lilly.

Nicht nur ich, alle Arbeitslosen haben es meist durch die Blume erfahren und zu spüren bekommen: Zu alt für den Arbeitsmarkt, zu teuer, zu unflexibel, zu unqualifiziert, überqualifiziert, zu unerfahren, überflüssig. Je nachdem. Niemand sagt uns das ins Gesicht, und trotzdem schlägt es uns immer wieder entgegen. Egal, ob bei den Bewerbungs-Absagen, beim skeptischen Blick eines Sachbearbeiters, in den Medien und Statistiken oder sonstwo.
Ich bin auf einem Spielplatz angelangt, auf dem ein großes Sandfeld das Beherrschende ist und die Kleinkinder das Sagen haben. Als eines davon zu toben beginnt, nehme ich aus den Augenwinkeln heraus die hagere Gestalt eines im Park verschwindenden Mannes wahr. Ich muss einen Moment überlegen.
Paul Herlinghaus.
Einst vielbeschäftigter und geachteter Architekt, jetzt eingesponnen in einen Kokon aus Resignation und Scham. Ist schon eine Weile her, aber wir kennen uns von einer Fortbildungsgruppe für Arbeitslose, die neue Wege aufzeigen und Mut machen sollte. Von der Leichenwäscherin bis zum gefeuerten Manager war dort alles vertreten. Inzwischen tun wir so, als gäbe es uns nicht. Zur namenlosen Masse verklebt, sind wir persönlich nicht einmal mehr in der Statistik auszumachen.
Mit den Pleiten am Bau, überlege ich weiter,  brach für Paul Herlinghaus auch das Gerüst seines Lebens zusammen. Die Villa in Händen der Bank, Frau und Kind im Süden. Ein Zustand, der fortan nicht nur das äußere, sondern auch das innere Kräftespiel bestimmt. Verzweiflung und Gleichgültigkeit, geruch- und geschmacklos wie ein Gas, nagen unerbittlich, und wehe, er schafft es nicht, doch noch das Fenster nach draußen aufzustoßen.
Wann ist sie überschritten, die unsichtbare Grenze, die von der Hoffnung zur Resignation und von dort unmittelbar in die Depression führt? Die Schaffensfreude in negative Energie verwandelt, den Blick auf den Boden drückt, und die Welt klein, dunkel und einsam macht? Nach zehn oder hundert Absagen? Bei der Umbenennung vom Arbeitslosen zum Langzeitarbeitslosen? Beim Einstellen der Friseurbesuche, beim Griff zur Rotwein-Flasche? Bei Hartz IV, beim Ein-Euro-Job oder nach dem Scheitern der Beziehung?
Mich schaudert.
Spüre ich doch am ganzen Leib,  dass es ein ebenso schleichender wie heimtückischer Prozess ist. Bei dem der Grenzübertritt in der Regel erst dann erkennbar wird, wenn der rückwärtsgerichtete oder fremde Blick darauf fällt. Wenn sich die verheerende Wirkung im Äußeren wie im Inneren der Betroffenen zeigt.
Im Sandfeld des Spielplatzes geht das Geschrei aufs Neue los. Zwei Kinder reißen sich gegenseitig die Plastik-Schaufel aus der Hand. Das größere Kind schlägt nach dem kleineren, die Mütter springen auf.
Ich wende mich ab und spüre dabei wieder diesen Schmerz im Nacken. Wenn das nicht besser wird, werde ich das Autofahren bald einstellen müssen. Das mindert zwar meine Chancen, einen Job zu bekommen, doch das Drehen des Kopfes beim Rückwärtsfahren wird immer mehr zur Qual.
Ich habe meinem Mann erst gar nicht erzählt, dass ich gestern den Pfosten an der Einfahrt gerammt habe. Es hing mit den unheimlichen Kopfschmerzen zusammen, die mich schon in der Nacht geweckt hatten. Ganz seltsame, heftige  Kopfschmerzen, wie eine große Druckwelle. Später sind sie von allein wieder gegangen, aber dieses weggetretene Gefühl ist den ganzen Tag über geblieben. Ich kann nur hoffen, dass es kein Schlaganfall war. Mein Vater ist daran gestorben und neulich hat es eine ehemalige Klassenkameradin getroffen, mit so heftigem Schlag, dass sie seitdem in einem Pflegeheim lebt.
Je länger ich ohne Arbeit bin, desto öfter habe ich das Gefühl, dass mein Körper verrückt spielt. Dann bringen mich die Ratgeber zumindest kurzfristig wieder auf die Beine. Wenn ich den Ärzten über den Weg trauen würde, könnte ich ja mal einen Gesundheits-Check machen lassen. Aber wer weiß, was dabei alles herauskäme. Mediziner erfinden die Krankheiten erst, die sie diagnostizieren, habe ich gelesen. Und was Kathrin als Krankenschwester aus der Klinik erzählt, mit diesen elend langen Schichten der Ärzte, macht auch alles andere als Mut. Pass bloß auf, hat sie mal gesagt, dass du nicht nachts als Notfall in die Klinik kommst, dann kann es dir passieren, dass du einem unerfahrenem Arzt in die Finger gerätst, der schon eine 24-Stunden-Schicht hinter sich hat und sich kaum noch auf den Beinen halten kann.
Einige Bekannte und ehemalige Freunde sind tatsächlich schon tot. Wie früh das losgeht!
Ich muss gestehen, dass ich diese Toten inzwischen manchmal beneide. Sie brauchen sich keine Sorgen mehr um einen Arbeitsplatz und die ganzen Ungerechtigkeiten dieser Welt zu machen. Ich weiß, dass das Quatsch ist, wer weiß schon, wo die Toten gelandet sind und wie es ihnen geht? Ich sollte glücklich sein, dass ich lebe, und das versuche ich auch immer wieder.
Es gibt für jedes Problem eine Lösung. Wer will der findet auch Arbeit.
Hundert mal habe ich das schon gelesen oder gehört, und im Grunde glaube ich das auch. Liegt es bei Leuten wie mir möglicherweise doch an den Genen, dass es trotz der vielen Bewerbungen und Ratgeber nicht klappt mit einer neuen Stelle? Oder an der Erziehung, wie manche behaupten? Eigentlich egal, denn mit der Arbeitslosigkeit und den gravierenden Folgen plage ich mich herum und nicht etwa meine toten Eltern.
Wegschauen, wen sage ich das,  nützt allerdings ebenso wenig wie mein vieles Nachdenken. Wahrscheinlich bin ich mit meinem Alter und meinen Anfälligkeiten doch untragbar für den Arbeitsmarkt geworden. Wahrscheinlich muss ich die Hoffnung auf einen neuen Job endgültig begraben, die Finger von den Ratgebern lassen, und mir eingestehen, dass ich versagt habe, zu spät in die Pötte gekommen bin, den falschen Beruf, das falsche Geschlecht habe und meine Ehe auch nichts mehr taugt.
Stattdessen rege ich mich lieber wieder über die katastrophalen Verhältnisse in Afrika auf und die große Gleichgültigkeit der Menschen. Selbst die Gespräche mit unseren Freunden Kathrin und Janko, ehemaligen Freunden muss ich inzwischen wohl sagen, werden immer kärglicher. Die beiden sind zu eingespannt und von Arbeit ausgefüllt, als dass wir uns noch viel zu sagen hätten. Von Mal zu Mal fällt es mir schwerer, mich in ihrer Gegenwart wohl zu fühlen. Die Tatsache, dass sie arbeiten können und ich nicht, macht sie in meinen Augen immer größer und mich immer kleiner. Und ihre unbeantwortbare Frage Was machst du denn jetzt mit deiner vielen Freizeit? hängt mir nach wie ein quälender, gefräßiger Ohrwurm.
Hinter mir bringt der Wind das Laub vom Vorjahr zum Sprechen.
Ich schaudere bei der Erkenntnis, dass es mir nur noch hier, am Rande von Spielplätzen gut geht. Wenn ich in Ratgebern blättern, nachdenken und geschützt vor den Attacken der Öffentlichkeit zusehen kann, wie das Leben spielt, unbekümmert und voller Zuversicht.
Ein Hustenanfall schüttelt mich dermaßen, dass ich mich schnell von der Bank erhebe, um zu Hause zu inhalieren und ein weiteres Mal die Stellenanzeigen durchzusehen.
Mein Schritt wird schneller und schneller.
Ich renne.
Hautnah spüre ich den schmalen Grat zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit unter den Füßen und den Atem der Ausweglosigkeit im Nacken.
Es kann doch nicht sein, möchte ich losschreien, als ich an Lillys ehemaligem Lieblingsspielplatz vorbeilaufe, dass ich sehenden Auges ins Abseits gerate und mich mit Abgeschobensein und Selbstmitleid zufrieden gebe. Wie ein Pfeil schießt mir die Geschichte der beiden Frösche in den Kopf, die in einen Napf mit Milch fallen. Während der eine das Strampeln bald einstellt und ertrinkt, strampelt der andere so lange, bis die Milch zu Butter geschlagen ist und er sie als Sprungbrett in die Freiheit nutzen kann.
Als ich zu Hause ankomme, ist mir schwindelig vor Erschöpfung. Ich warte einen Moment, bis ich zum Hörer greife und bei der Agentur für Arbeit auf einen neuen Termin bestehe. Wie nur, frage ich mich, soll jemand bis Siebenundsechzig arbeiten, wenn er mit Ende Vierzig schon aus der Firma fliegt?