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Andreas: Mein Engel hieß Jürgen 

Er stand am Waschbecken einer Herren-Toilette und betrachtete in einem goldgefassten Spiegel seine Ohren. Ziemlich überrascht stellte er fest, dass sie abstanden. Zeit seines Lebens – da war er sich ganz sicher – hatte er akkurat anliegende Ohren gehabt, die mehr oder weniger unauffällig, gleichwohl aber durchaus ansehnlich die ihnen bestimmte Aufgabe verrichteten. Er musste sich eingestehen, dass er seine Ohren schon seit langem nicht mehr mit der ihnen gebührenden Aufmerksamkeit betrachtet hatte. Sie schienen in dieser Zeit ihre ehemals jugendliche Spannkraft nahezu vollständig eingebüßt zu haben – jedenfalls baumelten sie heute einigermaßen lustlos an seinem Kopf herum. "Ich sehe aus wie ein trauriger Dackel", dachte er missmutig, während er sich zum nunmehr dritten Mal seine Hände wusch, um vor den übrigen Klobesuchern den eigentlichen Grund seines Hierseins zu kaschieren. "Ich bin hässlich", dachte er, den Blick noch immer unverwandt auf sein Spiegelbild gerichtet. Er sah die dunklen Ringe unter seinen Augen und sie verwandelten sich in seiner Vorstellung zu kolossalen Tränensäcken. Die Haut an seinen Wangen hing grau und schlaff herab wie bei einer Bulldogge – was ihn in Verbindung mit den Dackelohren zu einer merkwürdigen Promenadenmischung herabstufte. Erstmals nahm er auch wahr, dass sich sein Haar im Stirnbereich zu lichten begann. "Noch ein paar Monate, und morgens begrüßt mich Udo Lindenberg im Spiegel", überlegte er, "ohne Hut."

Er trocknete seine Hände und ging lustlos zurück in den großen Saal. Der Raum war übersäht mit kleinen, sich jeweils angeregt unterhaltenden Menschengruppen – nach einem ihm unbekannten System streng voneinander abgegrenzten Festungen der guten Laune. Er lehnte sich betont lässig an eine Marmorsäule und erstmals kam ihm der Gedanke, dass er möglicherweise versetzt worden war. Fast zwei Stunden stand er nun schon wie ein Fremdkörper auf dieser Party herum und kannte weder Anlass noch Gastgeber. Zunächst hatte er mit einem Bankertypen ein Gespräch vorgetäuscht, von dem er schon jetzt kein einziges Wort mehr erinnerte. Dann war er ziellos durch den Raum gelaufen – niemand beachtete ihn und doch fühlte er sich ständig beobachtet. Er wollte um keinen Preis für den traurigen einsamen Partygast gehalten werden, der er war. Wie er ziemlich sicher wusste, wurden mangelnde Sozialkontakte inzwischen allgemein als die neue und eigentliche Form der Armut angesehen und jemand, der auf einer solchen Zusammenkunft längere Zeit allein in der Gegend herumstand, wurde mit der gleichen Nichtachtung gestraft wie ein Bettler in der Fußgängerzone. Um Geschäftigkeit vorzutäuschen und in Bewegung zu bleiben, hatte er in den letzten 20 Minuten sieben mal die Toilette aufgesucht.

"Noch einen Drink dann haue ich ab", dachte er, "das Arschloch kommt sowieso nicht mehr!" Das Arschloch war sein bester Freund bzw. einziger Bekannter in dieser Stadt - und das Arschloch ließ ihn ständig hängen. Er wusste, dass das Arschloch ihn nur dann mit auf Partys schleppte, wenn eine interessantere Begleitung nicht aufzutreiben war, aber das störte ihn nicht – so kam er wenigstens mal raus. Heute allerdings nervte ihn diese Unzuverlässigkeit. Was sollte er hier, verdammt noch mal? Er lief zur Bar, bestellte ein Wasser und erblickte die Antwort:

Sie war nicht unbedingt eine Schönheit. Alles in ihrem Gesicht schien irgendwie zu groß geraten, insbesondere Mund und Augen machten sich den zur Verfügung stehenden Platz auf irritierende Art und Weise streitig. Ihre Augen waren wässrig-blau, was ihr in Verbindung mit den kurzen schwarzen Haaren und der fahlen Haut zu einer leicht geisterhaften Erscheinung verhalf. Sie blätterte gerade gelangweilt in einer Cocktailkarte, als er beschloss, der Richtige für sie zu sein. Er stellte sich neben sie, nahm all seinen Mut zusammen und bat sie um Feuer.
"Ich verabscheue Raucher", erwiderte sie, ohne aufzublicken.
Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.
"Ich auch", antwortete er mühsam und zerknüllte die Schachtel in seiner Hosentasche, "ich habe da hinten zwei von denen gesehen und wollte sie anzünden. Die gerechte Strafe für diese Schweine!“
Er nestelte verlegen an seiner Hosentasche herum:
„Hast du nun Feuer?"
Sie sah ihn gelangweilt an und sagte dann schlicht, aber deutlich:
"Verpiss dich!"
Einigermaßen geschockt, griff er sich sein Glas und wandte sich zum Gehen. Doch sie erhob sich im selben Moment von ihrem Barhocker, so dass sie gegen seine Schulter stieß und er ihr sein Wasser in den Schoß kippte.
"Kannst du nicht aufpassen, Idiot?!", schrie sie und trat ihm vors Schienbein.
"Selber Idiot", sagte er reflexartig und trat zurück.
Sie blickte ihn herausfordernd an und kippte ihm langsam ihr Bier übers Hemd. Er spielte mit dem Gedanken, sie in der Spüle hinter der Bar zu ertränken, sagte dann aber nur:
"Okay, ich gebe auf, du bist noch blöder als ich."
"Feigling", sagte sie, schien merkwürdigerweise aber plötzlich versöhnt.

"Was willst du trinken", fragte sie, als wäre nichts passiert.
"Wasser", antwortete er, während er sich sein Hemd mit einem Taschentuch trocken rieb. Es entstand eine kleine Pause, in der er angestrengt darüber nachdachte, was er als nächstes sagen könnte.
"Wie heißt du?", fiel ihm ein.
"Wie heißt du?", äffte sie ihn nach, "du rauchst, kippst mir dein Wasser über mein Kleid und alles was dir einfällt ist: 'Wie heißt du?' Da muss doch mehr drin sein." –"Tut mir leid, ich werde diesen wunden Punkt nicht mehr berühren", erwiderte er, er fing sich langsam wieder.
"Was heißt hier wunder Punkt? Ich heiße Jürgen!", stellte sie sich doch noch vor. "Jürgen", wiederholte er nachdenklich, "passt ganz gut zu dir, ich hatte allerdings eher auf Günther getippt." "Haha ... ich heiße wirklich Jürgen, ist mein Zweitname, mein Vater wollte immer ein Kind, das seinen Namen trägt ... dass ich ein Mädchen wurde, war ihm egal. Er hat eben einen schrägen Humor.
"Komisch, dass dein Name dann so dermaßen unwitzig geraten ist", parierte er, langsam ging ihm ihr Geplapper auf die Nerven.

Er betrachtete sie noch einmal. Vor ihm stand ein gackerndes Huhn mit knochigen Schultern und viel zu großen, farblosen Augen.
"Stehpinkler?", fragte sie mitten in diesen Gedankengang hinein.
"Was?", erwiderte er verständnislos.
"Na erzähl mir was von dir, du willst doch nicht nur hier rumstehen und mich anstarren. Wir sind auf einer Party, Mann. Kontostand, sexuelle Vorlieben, Neigung zu Depressionen und Alkoholismus? Musstest du als Kind lange Unterhosen tragen? Hast du besondere Fähigkeiten, skurrile Eigenheiten, mit denen du auf Festen was hermachst? Kannst du singen? Komm schon, Fremder, unterhalte mich!"
Er sah sie einigermaßen ratlos an.
"Okay, ich will dich nicht überfordern", gab sie ihm eine Chance und erkundigte sich im gedehnten Ton der Langeweile: "Was machst du beruflich?"
Er hasste diesen Smalltalk-Scheiß, aber er wusste, was er ihr schuldig war: "Ich bin Tierfilmer", sagte er, "spezialisiert auf nachtaktive Nager, gerade leider arbeitslos."  "Wirklich?" Sie schien interessiert. "Das klingt witzig, erzähl mal, was für Nager denn?"
"Nein, nicht wirklich, eigentlich bin ich nur arbeitslos. Aber die derzeitige Lage auf dem Arbeitsmarkt bietet einmalige Chancen zur Selbstverwirklichung: Du bist viel freier in der Berufswahl, da du ja ohnehin nicht damit rechnen musst, deinen Job jemals ausüben zu müssen. Mein Motto lautet: Wenn schon arbeitslos, dann wenigstens in einem Beruf, der einem Spaß macht!"
Sie sah ihn ungläubig an.
"Das ist witzig", sagte sie nach einer Weile überrascht, "was für einen minderwertigen Job hast du denn in Wahrheit ausgeübt?"
"Ich war Lobbyist im deutschen Bundestag", antwortete er.
"Lobbyist, hmm, was ist das, was tut man da?" Er spulte routiniert seinen Text ab: "Man vertritt Interessen und beeinflusst Entscheidungen. Aber eigentlich weiß niemand so richtig, was so ein Interessenvertreter macht, ich auch nicht. Wenn dein Chef kommt und fragt, was du heute so getan hast, bist du trotzdem nie um eine Antwort verlegen: ‚Kontakte geknüpft, ein paar Mandatsträger vom Gegenteil überzeugt und Interessen vertreten, genau wie Sie mir aufgetragen haben.’ Das kann niemand nachprüfen, schließlich sind die Abstimmungen ja geheim.“

Er machte eine Pause, in der sie ihn interessiert anstarrte.
"Du bist witzig", sagte sie abermals.
Er wurde ärgerlich: "Warum sagst du ständig: 'Du bist witzig? Bist du nicht in der Lage, deinen Gefühlen einfach nur durch ein Lachen Ausdruck zu verleihen?"
Sie lachte affektiert: "Hahahahahah! – Ist das etwa besser?"
"Okay, du hast recht", gab er zu, "bleib auf jeden Fall bei 'du bist witzig!'".
Es entstand wieder eine Pause. Unvermittelt beugte sich zu ihm herüber und küsste ihn. Steckte ihm einfach ihre Zunge in den Mund. Sie hatte volle Lippen, und technisch gab es nicht das Geringste zu bemängeln – trotzdem spürte er nichts. Gar nichts. Sie knutschten etwa zwei Minuten, er griff in ihre Haare und zog sie näher an sich heran, weil er das immer so tat. Plötzlich wich sie zurück und sah ihn prüfend an:
"Hast du was gespürt?"
Er stotterte: "Ehrlich gesagt ... ich meine ..."
"Schon okay", sagte sie, "bei mir hat sich auch nichts getan, ich wollte nur sicher gehen, dass wir nichts verpassen." Sie stockte: "Moment mal, du siehst das doch auch so? Du fährst doch nicht auf mich ab, oder so was?"
"Nein, auf keinen Fall, du widerst mich an", antwortete er.
Sie grinste: "Wunderbar, du mich auch, wir sind das perfekte Paar."

Es entstand eine weitere peinliche Pause, in der sie beide an ihren Drinks nippten und versuchten, dem Blick des jeweils anderen auszuweichen.
"Mit wie vielen Frauen hast du schon geschlafen", fragte sie nach einer Weile emotionslos, offensichtlich nur, um das Schweigen zu beenden.
Ich hasse diesen Smalltalk-Scheiß, dachte er und sagte: "Ich hasse diesen Smalltalk-Scheiß!" Dann brach es aus ihm heraus: "Hörzu, ich kann nicht singen, nicht steppen und pinkle im Sitzen. Ich kenne keinen einzigen Menschen auf dieser Scheiß-Party, nicht mal in dieser Stadt – ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt irgendjemanden kenne. Ich bin ein durch und durch langweiliger Typ, der Angst hat, in einigen Monaten auszusehen wie Udo Lindenberg – oder im schlimmsten Fall wie dessen Hund. Also lass uns bitte aufhören, hier arbeitsloser Lobbyist und Partymaus zu spielen. Was wissen die schon vom Leben?"

Sie sah ihn nachdenklich an:
"Ich fühle mich in großen Menschenansammlungen immer allein", sagte sie dann leise. "Eigentlich fühle ich mich immer allein. Dann gehe ich auf Partys, zu denen ich nicht eingeladen bin und rede mit irgendwelchen Leuten – aber das hilft auch nicht, das macht es eigentlich sogar noch schlimmer. Ich bin 28 Jahre alt und habe keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Ich interessiere mich für nichts – für gar nichts – und es stört mich noch nicht einmal ..."
Sie stockte. Er sah sie prüfend an, sie schien das ernst gemeint zu haben: Ihre Augen waren große blaue Seen voller Traurigkeit. Er beugte sich nach vorn und ohne zu wissen warum, küsste er sie noch einmal. Diesmal schmeckten ihre Lippen süß wie die Glasur auf den Weihnachtsplätzchen seiner Kindheit, ihr Haar roch nach Karamell und als sich ihre Zungen berührten, begann sein Nacken zu kribbeln. Sie zogen beide gleichzeitig ihre Köpfe zurück.
"Das war schön", sagte sie überrascht.
"Ja, das war es", erwiderte er und wusste nicht, wohin mit seinen Händen. Sie blickten sich einen Moment in die Augen. Dann begann sie hektisch in ihrer Handtasche zu kramen. "Hör zu, ich gebe dir meine Telefonnummer, du kannst mir ja deine geben, wenn du willst. Du kannst es natürlich auch lassen. Sie kritzelte ihre Nummer auf einen Bierdeckel und seine auf einen anderen.
„Ruf mich an“, sagte sie – um dann hektisch hinzu zu fügen, „oder nein, ruf mich nicht an. So eine ernste Sache... das kann ich gerade gar nicht gebrauchen.“
Ehe er noch etwas sagen konnte, war sie verschwunden.

***
Gegen Elf erwachte er mit Kopfschmerzen. Er ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Er hatte akkurat anliegende Ohren, das schien er sich also gestern nur eingebildet zu haben. Er zündete sich eine Zigarette an und verbrachte die folgenden zwei Stunden damit, das Telefon anzustarren. Er legte sich die Worte zurecht, plante jeden möglichen Gesprächsverlauf:
"Hallo, ich bin's der Typ von gestern, wir konnten uns erst nicht leiden ... dann aber doch, du weißt schon, der Typ ..."
Alles erschien ihm unsinnig, alles klang wie diese Zeitungsannoncen:
"Suche dich, du saßt am 15. Februar im ICE nach Köln und trugst einen roten Pullover, wir haben uns angelächelt ..." Er kam sich albern vor und beschloss, die Sache zu vergessen.

Gegen fünf klingelte das Telefon:
"Hi Konrad", sagte das Arschloch. "Tut mir leid wegen gestern. Wie war die Party?" Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: "Ich hab da gestern diese Kleine kennen gelernt. Nadine. Spitzentitten. Ich sag dir, die hätte ich an den Kronleuchter hängen können und sie hätte noch was gefunden, woran sie sich aufgeilen kann. Du hättest dabei sein sollen, die hätte es auch mit uns beiden getrieben ..."
"Wie viel hast du ihr bezahlt?", unterbrach er ihn nüchtern.
"Was? Wieso bezahlt? Ich bezahl doch nicht fürs Ficken, wofür hältst du mich? Bist wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden? Na jedenfalls, die Kleine kniet vor mir und zieht mir die Hose runter ..."
Er schaltete auf Durchzug und irgendwann beendete das Arschloch seinen Monolog und legte auf.

Er starrte eine Weile vor sich hin, dann griff er sich den Bierdeckel und wählte ihre Nummer:
"Hallo, ich bin's, der Typ von gestern, du weißt schon ..."
Schweigen. Dann klang es aus dem Hörer:
"Warum hast du nicht schon früher angerufen?"
"Ähm, es ist Sonntag und ich hatte viel zu tun ... und ich hasse diese Annoncen, in denen irgendwelche Leute andere Leute suchen, die sie nur einmal flüchtig angelächelt haben", stammelte er sinnlos, "außerdem: du hättest ja auch anrufen können."
"Nein, das war eindeutig deine Aufgabe – ich saß zu Hause und war unsicher, was das alles zu bedeuten hat, also hättest du anrufen müssen", erklärte sie.
"Ich war auch unsicher", erwiderte er leise und um einiges ehrlicher, als er es von sich gewohnt war. "Wo bist du?", fragte er.
"Ich stehe am Pferdemarkt und warte auf Grün. Aber das ist nur eine Farbe, ich kann auch auf dich warten." 
"Okay, ich komme, ich bin gleich da!"
Er legte auf, rannte in den Flur, zog sich seine Schuhe über und wandte sich zur Tür. Dann hielt er inne und lief langsam zum Fenster, zog die Gardine zurück und blickte auf die Straße. Da unten, an einer Fußgängerampel, stand sie. Sie war nicht unbedingt eine Schönheit. Alles in ihrem Gesicht schien irgendwie zu groß geraten, insbesondere Mund und Augen machten sich den zur Verfügung stehenden Platz auf irritierende Art und Weise streitig. Ihre Augen waren wässrig-blau, was ihr in Verbindung mit den kurzen schwarzen Haaren und der fahlen Haut zu einer leicht geisterhaften Erscheinung verhalf. 

"Jürgen sieht aus wie ein Engel", dachte er. Und lächelte.