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Myriam Keil: Zug um Zug 

Sie bohren kleine Gänge unter die Haut, sagt mein Vater. Er betont genüsslich jedes einzelne Wort. Er spricht gern über solche Dinge: Krankheiten, Parasiten, die Einlagerung von radioaktivem Material in Waldpilzen. Dinge, die man nicht aufhalten kann.
Luisa fängt an zu schreien. Sie findet kleine Gänge unter der Haut eklig. Sie kratzt sich die Arme, bis sie ganz rot sind.
Das gute Wetter brachte den unumgänglichen Familienausflug mit sich, der bei uns einmal pro Monat stattfindet. Ausreden gibt es keine, Krankheit muss ein Arzt bescheinigen. Der Familienrat hat abgestimmt: Schwimmen gehen.
Das Badetuch ist blau. In seiner Mitte prangt der Kopf von Donald Duck. Auf dem Tuch Marienkäfer, rot mit schwarzen Punkten. Zwei Jungs traktieren sie mit Stöckchen. Lauf hierhin! Schneller! Mach schon! Sie haben einen Parcours angelegt, durch den sie die Käfer scheuchen. Luisa bleibt stehen und sieht ihnen dabei zu, ich kann nicht sagen, ob mit Abscheu oder möglicherweise mit einem eigentümlichen, beinahe wissenschaftlichen Interesse; ihr Gesichtsausdruck lässt keinen eindeutigen Schluss zu.
Wir finden einen Platz für unsere Strandmatten, er ist nicht weit entfernt von den Käferjungs. Luisa schaut noch immer in ihre Richtung. Mein Vater lässt sich neben meiner Mutter auf eine der beiden Matten fallen, seufzt. Luisa und ich nehmen die andere. Soll ich euch eine Geschichte erzählen, fragt mein Vater. Meine Mutter wirft ihm einen warnenden Blick zu: Keine Horrorstorys, heißt das. Da fällt meinem Vater dann nichts Unterhaltsames ein. Bald treibt ihn die Hitze ins Wasser. Meine Mutter hingegen liebt das Braten in der Sonne, die noch immer recht hoch steht; sie zieht ein Buch aus ihrer Tasche, einen Arztroman, und macht es sich bequem, das halbe Gesicht hinter ihrer riesigen Sonnenbrille verschanzt.
Luisa schaut wieder zu den Käferjungs hinüber. Oder immer noch? Als die beiden zum Zwei-Meter-Becken laufen, sagt sie entschlossen: Ich will sie retten. Sie nimmt meine Hand und zerrt mich energisch vorwärts. Pass auf deine Schwester auf, ruft meine Mutter mir nach. Luisa ist zwar schon neun, aber sie schafft es immer wieder ohne Probleme, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Wie letzte Woche, als sie mit ihrem Fahrrad gegen das Auto der Lindemanns gefallen ist, weil sie sich von einer „ganz toll grünen Libelle“ hatte ablenken lassen. Luisa ist nichts passiert, aber das Auto der Lindemanns hat jetzt einen Kratzer an der Beifahrertür. Die Lindemanns finden, dass das nicht so bleiben kann. Er habe „keinen Bock mehr auf diesen Scheiß“, hat mein Vater uns wissen lassen, uns alle, einschließlich Luisa. Vielleicht lag diese Wortwahl daran, dass Luisa erst wenige Tage zuvor im dunklen Keller unseres Wohnblocks in einem fremden Kellerraum über die dort zwischengelagerte Flamingoblume der alten Ziesekamp gestolpert war. Die Pflanze hatte das - samt dem dazugehörigen handbemalten Übertopf - nicht überstanden.
Wir nähern uns dem Badetuch. Drei Marienkäfer liegen bewegungslos zwischen den Resten des Parcours herum, einer davon auf dem Rücken, die Beine gekrümmt; er ist offensichtlich tot. Ein weiterer hat durch einen der Stockschläge ein Bein verloren und kriecht schwerfällig vorwärts, ziellos, nicht in Richtung der rettenden Wiese, sondern auf Donalds grinsendem Gesicht herum, stets mehr oder weniger im Kreis. Luisa, die normalerweise jede Gelegenheit zum Losschreien nutzt, bleibt in ihrem Entsetzen still, wie gelähmt. Ich rede beruhigend auf sie ein und beginne mit dem Einsammeln aller sich als lebendig erweisenden Käfer. Es sind nur zwei, und das auch nur, wenn man den beinamputierten mitrechnet. Nachdem ich sie, weit genug vom Lager der beiden Folterknechte entfernt, in die Freiheit entlassen habe, nehme ich Luisas Hand, um mit ihr zu unserem Liegeplatz zurück zu gehen. Doch Luisa schüttelt den Kopf. Sie besteht auf einem angemessenen Begräbnis für die Toten.

Unter den Baumkronen surren Wespen. Sie kommen ungesehen durch die Luft, brummen mir ins rechte oder linke Ohr, einmal um meinen Kopf herum, dann sind sie wieder fort. Wenn ich aus dem Wasser steige und dann mit den nassen Tropfen auf meiner Haut im Baumschatten liege, setzt sich manchmal eine auf mich, um zu trinken. Den anderen Besetzern der Liegewiese geht es nicht besser. Die Wespen sind dieses Jahr einfach überall.
Meine Mutter ist hinter ihrer Sonnenbrille eingeschlafen. Der Arztroman liegt aufgeschlagen auf ihrem sonnenmilchglänzenden Bauch, mit dem Umschlag nach oben, die aufgeschlagenen Seiten bekommen Fettflecke. Ihr Mund ist leicht geöffnet, manchmal nähert sich ihm eine der Wespen. Ich überlege, was ich tun würde, wenn eine von ihnen hinein kriechen würde. Ich weiß es nicht.
Ich bin abgelenkt und merke es erst nach einer Weile: Luisa ist verschwunden. Um nicht für den Unsinn verantwortlich gemacht zu werden, den sie möglicherweise anstellt, muss ich sie wiederfinden, ehe ihr Fehlen jemandem auffällt. Ich schiele zu meiner Mutter hinüber, die weiterhin schläft. Der Arztroman ist mittlerweile von ihrem Fettkörper herab gerutscht. Mein Vater ist nirgendwo zu sehen. Er spielt wahrscheinlich Toter Mann und treibt bewegungslos in einem der Becken auf dem Wasser. Er liebt das und holt sich dabei regelmäßig einen Sonnenbrand auf dem Bauch. Mein Vater wird nicht braun. Er wird erst rot und dann wieder weiß.
Auf dem Weg zu den Schwimmbecken suche ich die Wiese ab. Luisa ist nicht da. Im Zwei-Meter-Becken treibt mein Vater wie erwartet reglos auf dem Wasser. Nicht alle Leute, die sich dort aufhalten, finden das gut. Vor allem eine ältere Frau mit blauer Badekappe, die emsig ihre Bahnen schwimmt, fühlt sich durch sein zielloses Dahintreiben gestört und spritzt ihm jedes Mal, wenn sie ihn umschwimmen muss, mit voller Absicht eine Ladung Wasser ins Gesicht. Meinen Vater juckt das nicht. Er ist weit weg, die Augen geschlossen, die Ohren unter Wasser, die Geräusche der Anderen nicht für ihn bestimmt. Einmal bekam er deswegen in einem Hallenbad richtig Ärger. Nichts um sich herum nahm er wahr. Sogar die Rufe des Bademeisters überhörte er. Der dachte dann irgendwann, mein Vater sei in ernsthafter Gefahr, sprang ins Wasser und zerrte den vermeintlich Ohnmächtigen an den Beckenrand. Mein Vater bekam dort ein Schwimmverbot im tiefen Becken, das erst mehrere Monate später gnädig wieder aufgehoben wurde.
Ich nehme sämtliche Schwimmer im Zwei-Meter-Becken unter die Lupe. Einige auf sich selbst konzentrierte Möchtegernsportler, ein tauchendes Mädchen in Luisas Alter. Davon abgesehen nur noch sechs oder sieben Halbwüchsige, die sich am Beckenrand unermüdlich gegenseitig ins Wasser schubsen. Einer der Käferjungs ist auch dabei.
Im angrenzenden Becken mit der Rutsche ragen Köpfe aus dem Wasser, mehrere Dutzend, vielleicht sogar an die hundert. Ein Gewimmel aus Badekappen und vom Wasser dunkel gefärbten Haaren. Luisas früher recht helles Blond ist in den letzten zwei Jahren dunkler geworden; von Nässe durchzogen wirkt es wie ein Braunton und verschwindet in der Masse. Ich laufe um das Becken herum. Nichts. Auf der Rutsche, die in ihrem Verlauf nach unten einen Höcker hat, rasselt ein dickbäuchiger Junge mit roter Badehose herab, verliert an der Spitze des Höckers die Bodenhaftung und knallt ein Stück weiter unten wieder auf das harte Blech. Er platscht ins Wasser, strahlt übers ganze Gesicht. Die Kinder, die hier rutschen, lieben den Höcker, die Erwachsenen hingegen halten sich, wenn sie unten angekommen sind, mit zusammengepressten Lippen und möglichst unauffällig das Steißbein.
Bleibt nur noch das andere tiefe Becken, das mit dem Sprungturm. Es liegt hinter den beiden, die ich bereits abgesucht habe. Wenn Luisa dort ebenfalls nicht ist, habe ich ein Problem. Dann wäre es nämlich möglich, dass sie in das angrenzende Waldstück gelaufen ist. Es ist zwar durch eine Absperrung vom Freibadgelände getrennt, aber der Zaun wird regelmäßig von Vandalen durchlöchert oder einfach umgetrampelt.
Das Wasser im dritten Becken plätschert über die Ränder hinaus. Vor dem Sprung hat der Mann einige Sekunden gezögert, aber seine Freundin steht am Beckenrand, er will ihr imponieren. Ein paar dicke Spritzer treffen mich. Die Freundin spendet pflichtschuldig Beifall, obwohl es so aussieht, als sei ihr der Sprung ihres Verehrers nicht sonderlich wichtig gewesen. Als dieser sich, stolz und erleichtert, neben ihren Füßen aus dem Becken hievt, höre ich das Martinshorn.

Das Becken mit der Rutsche ist leer. Die Wasseroberfläche kräuselt sich unter den zahlreichen Strömungen, die von den hinaushastenden Menschen erzeugt wurden. Ich habe Angst um Luisa. Und um meinen Vater. Ich erreiche das Zwei-Meter-Becken. Dorthin sind sie alle geströmt, von der Wiese und aus den anderen Becken kamen sie. Der Boden unter meinen nackten Füßen ist sonnengeflutet, transportiert Hitzewellen in meinen Körper.
Der Notarztwagen steht etwas abseits auf der Liegewiese. Man kann nicht bis ganz nach vorn zu den Becken fahren. Das Auto hat eine breite Schneise in die Badetuchlandschaft gerissen. Dutzende von Menschen stehen vor mir, versperren mir die Sicht, Luisa, denke ich, bitte nicht, Luft anhalten, Vater, Toter Mann. Ich schlage um mich, nach links und nach rechts, kämpfe mich Stück für Stück nach vorne, bis jemand mich zurück reißt.
Meine Mutter hält mich fest an ihren Sonnenmilch-Körper gepresst. Jetzt beruhig dich doch, Liebes, sagt sie, mit Papa und Luisa ist alles in Ordnung. Sie deutet in Richtung der Wiese, an ihrem Rand stehen die beiden, Hand in Hand, unversehrt. Ich komme mir betrogen vor.
Sie zieht mich aus der Menge. Wir bleiben am Rand der Wiese stehen, mein Vater mit den Händen auf Luisas Schultern, meine Mutter die Arme um meinen Brustkorb geschlungen. Das Atmen geht schwer. Fremdkörper, denke ich und schaue auf meine Zehen, sie sind taub, meine Beine Salzsäulen. Ein Junge, sagt mein Vater. Er atmet nicht mehr, sagt Luisa. Meine Mutter lässt mich los, kniet sich vor Luisa hin und drückt ihr beide Hände auf die Ohren, als könne sie damit etwas vergessen machen, das sich noch nicht irreversibel in Luisas Kopf eingenistet hat.
Die Menge am Becken teilt sich. Aus ihrer Mitte entsteigt eine von zwei Sanitätern gehaltene Trage. Sie bringen ihn direkt an uns vorbei. Es ist einer der Käferjungs, der mit den dunkleren Haaren; sie sind nass und schimmern in einem seltsamen Blauschwarz, das von seinen Lippen aufgegriffen wird. Seine Augenlider sind über die Augäpfel gespannt, ohne jede Regung. Hinter den Sanitätern schließt sich die Menschenmauer wieder, rollt schwerfällig an uns vorbei, Frauen, Männer, Kinder. Sie haben ihn stabilisiert, sagt ein junger Mann, der ein Kleinkind auf den Schultern trägt, aber er liegt wohl im Koma oder so. Kann schlimm ausgehen, weiß seine Frau, wenn das Gehirn so lange ohne Sauerstoff ist.
Wir laufen zu unseren Matten. Über eine der beiden ist der Notarztwagen drübergefahren, sie ist eingerissen und verdreckt. Ich sehe mich um. Die meisten Leute packen ihre Sachen zusammen. Es wird nicht viel gesprochen. Der Notarztwagen schließt seine Türen hinter der eingeladenen Trage und dem zweiten, dem unversehrten Käferjungen, der mitfahren darf. Der Wagen verlässt das Gelände mit eingeschaltetem Blaulicht, das Martinshorn bleibt still. Erst jetzt sehe ich, dass auf der Wiese auch ein Polizeiauto steht, es war die ganze Zeit vom Notarztwagen verdeckt worden.
Wir sprechen nicht darüber, ob wir ebenfalls aufbrechen sollen. Wir tun es. Hast du gesehen, wie es passiert ist, frage ich meinen Vater, der als Erster das Packen beendet hat und nun unschlüssig auf der Wiese herum steht. Meine Frage ist ihm unangenehm. Ich hab’s nicht mal bemerkt, als es passiert war, sagt er. Erst als die Leute gerufen haben. Kurz darauf kam auch schon der Arzt. Mein Vater räuspert sich. Er schämt sich, weil er ganz und gar egoistisch die Welt ausgeblendet hat, während neben ihm ein Junge ums Überleben gekämpft hat. Eine Wespe fliegt zwischen unseren Köpfen hindurch. Mir fällt auf, dass ich seit dem Sommeranfang schon wieder ein Stück gewachsen bin. Meine Augen sind auf gleicher Höhe mit dem Kinn meines Vaters.
Ein Polizist tritt an uns heran, stellt uns Fragen. Mein Vater ist den Tränen nah. Sie können nichts dafür, versichert der Uniformierte tröstend. Mein Vater sagt, dass er nie wieder Toter Mann spielen wird.

Luisa hat einen Marienkäfer auf dem rechten Zeigefinger. Sie hält den Finger mit der Spitze nach oben, der Marienkäfer rennt eilig daran empor, breitet die Flügel aus, surrt davon. Luisa ist zufrieden. Ich mag es nicht, wenn man ihnen weh tut, sagt sie. Wo warst du, frage ich, ich hab dich vorhin gesucht, warum bist du abgehauen. Ich hab was gebaut, antwortet sie. Da. Sie deutet auf das Zwei-Meter-Becken. Ich bekomme ein komisches Gefühl. Sie hat sich vorhin vor mir versteckt, sie wollte nicht gefunden werden. Ich sage zu unseren Eltern, wir hätten etwas vergessen, wir müssten nochmal kurz zu den Becken. Sie nicken zerstreut und murmeln, wir sollen uns beeilen.
In einem der Rinnenroste am Beckenrand hängt eine Schnur, ein Stück Bindfaden oder etwas Ähnliches. Mist, jetzt ist es kaputt, sagt Luisa. Ich nehme die Schnur, sie klebt wie ein nasses Haar zwischen meinen Fingern, ich stopfe sie in meine Hosentasche. Warum machst du das, fragt Luisa. Ich weiß keine Antwort. Ich habe nur dieses Gefühl. Dass nichts zurückbleiben darf.
Wir drehen um, ich kann den Chlorgeruch des Wassers nicht mehr ertragen, die Feuchtigkeit an meinen Fußsohlen, das Geräusch, mit dem das Wasser in die Überlaufrinne schwappt. Er ist einfach so hingefallen, sagt Luisa. Ich versuche wegzuhören. Ich will nicht wissen, was passiert ist. Ins Wasser, fährt sie fort. Und mit dem Kopf auf den Rand vom Becken. Weißt du, ich hab einen Hindernislauf für die gebaut. Wie sie es für die Käfer gemacht haben. Aber der Idiot hat’s nicht mal gemerkt. Der war dümmer als ein Käfer. Hat gar nicht geschaut, wo er hinläuft. Ich wollte ja nur, dass er drüberspringen muss. Für einen Augenblick sieht sie zerknirscht aus, doch der Ausdruck verschwindet sofort wieder aus ihrem Gesicht, es ist, als ob sie nicht wirklich auf die Idee gekommen wäre, es könne sie irgendeine Schuld treffen. Meine Hand in der Hosentasche spielt mit der Schnur. Meine kleine Schwester, denke ich und bin mir nicht sicher, was ich fühle. Meine kleine Schwester. Die früher im Planschbecken immer alle Insekten gerettet hat, die ins Wasser gefallen waren. Die im vergangenen Herbst eine verletzte Taube wochenlang gesund gepflegt hat, obwohl alle ihr gesagt haben, dass die Taube es nicht schaffen könne. Ich denke an den Käferjungen, und dass er bestimmt schon mal einer Fliege die Flügel ausgerissen oder mit einer Steinschleuder auf Spatzen geschossen hat.
Wir sind bei unseren Eltern angelangt. Ich bleibe stehen, sehe Luisa an, kleine Schwester. Sie lächelt sehr süß, sehr unschuldig, wie nur ganz junge Mädchen es können, die noch nicht in der Pubertät sind. Sie nimmt meine rechte Hand, die linke meiner Mutter. Wir gehen zum Ausgang, das Gitter der grün gestrichenen Drehtür schiebt sich vor meinen Augen entlang, wir stehen draußen auf dem Parkplatz, mein Vater hält sich das T-Shirt vom schmerzenden Sonnenbrandbauch weg und schließt mit der anderen Hand das Auto auf. Im Innern des Wagens empfängt uns eine dumpfe, stickige Hitze. Wir lassen alle Türen einige Minuten offen stehen, ehe wir losfahren, aber die Hitze will einfach nicht verschwinden.