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Vanessa Quartier: Das Ende und der Zauber 

Rauch kringelte sich vor meinem Gesicht zu Gebilden, die Dalí hätte gebären können, und drang beißend in meine Augen ein. Ich war in diesem Schuppen, ohne es zu wollen. Müde von der Woche und doch voller Angst, daheim etwas zu verpassen. Also drängelte ich mich durch die Menge und den hämmernden Bass zur Bar. Und plötzlich krümmte sich mein Körper innerlich zusammen, eine Familienpackung hauchdünner Nadeln bohrte sich von innen in mein Fleisch, und meine Körpertemperatur stieg auf gefühlte 100 Grad Celsius. Denn da stand er. Chris. Panik. Neugier. Ich ging hin. In diesem Moment brach mein Herz ein weiteres Mal, nur ein kleiner Knacks, und doch hörte ich es ganz deutlich krachen. Sah ihn noch schnell von der Seite an. So schön. Er war bester Laune und führte bald das Gespräch selbst. Damals hatte ich gedacht, wir hätten dieselbe Art zu fühlen, würden die Welt durch ähnliche Augen sehen. Auf der einen Seite die Gier nach Leben, Spaß und die leichten Dinge. Auf der anderen Seite die Vorliebe für melancholische Musik mit harten Bässen, die von der Zerissenheit an der Welt schreit. Der Blick auf eine hell erleuchtete Welt durch die Sonnenbrille. Eine seelische Verbundenheit, wie ich sie nie davor oder danach erlebt hatte. Trotz der kurzen Zeit, die wir miteinander geteilt hatten. Nicht genug Zeit für gemeinsame Träume, doch genug für geheime.
Wie immer bestellte ich mir ein Bier, ein Pils, das er noch nie gemocht hatte. Chris bevorzugte Helles. Als ich mit ihm anstoßen wollte, streckte er mir ein Martiniglas entgegen. Naja, jeder braucht ja mal Abwechslung. Ich erzählte ihm, dass ich nach meinem Studium am liebsten nochmal was studieren würde, diesmal nichts berufsgerichtetes, lieber Kunstgeschichte in Paris oder so. Er lächelte. In der kurzen Stille danach fühlte ich mich sehr unbehaglich und überlegte, wie ich am schnellsten wieder gehen könnte, um ihm nicht auf die Nerven zu fallen. So bin ich. Brauche ständige Liebesbeweise, um mich sicher zu fühlen. Plapperte weiter davon, dass ich nach der Diplomarbeit unbedingt den Sommer in Neuseeland verbringen möchte, schließlich hatte das Studium wenig Raum für lange Reisen gelassen. Im selben Moment sah ich uns in einem alten VW Bus sitzen, die Sonne brennt nichtklimatisiert unsere Gesichter braun, und wir fahren die Küste entlang von Dorf zu Dorf. Tagsüber gehen wir baden, wo es uns gerade einfällt, und hören Oldies. Abends taumeln wir betrunken durch unbekannte Gassen und können gar nicht aufhören zu reden, über das Jungsein, das Älterwerden und Träume, die man niemals vergessen sollte. Über die Leute in unseren Leben, solche wie uns und solche, die ihr Leben an Geld und Prestige verschwenden, um irgendwann aufzuwachen und festzustellen, dass ihre besten Jahre zwischen Bürojalousien verraucht sind. Seine Augen funkeln, wenn wir uns später den MP3-Player teilen und unsere Lieblingslieder hören. Why have you forsaken me, in your eyes forsaken me, in your thoughts forsaken me, in your heart forsaken me. In diesem Moment fühle ich das Leben durch meine Adern pulsieren, und ich weiß, dass er es ebenso fühlt. Der Zauber unserer Berührungen ist noch nicht verblasst, keine Routine verhindert, dass mein Verstand explodiert, wenn er mich küsst. Seine Haare glänzen im spärlichen Licht, immer wieder fahre ich durch sie, lasse sie durch meine Finger fallen und küsse seine Wimpern. Ich weiß, dass in ihm ein Abgrund schwelt, dass jeder Mensch dunkle, unberechenbare Seiten hat. Wer kennt schon denjenigen, der ihm gegenüber sitzt. Wer kennt schon sich selbst. Doch unsere Seelen können sich berühren, und da verzeiht man auch Unehrlichkeiten und schlechte Angewohnheiten.
Seine Stimme zerschneidet meine Bilder in kleine Schnipsel, und plötzlich habe ich das Gefühl, ich hätte zu viel geredet. Das Bier stoppt bitter meinen Redefluss, und ich lächele Chris nervös an. Wieso komme ich mir nur immer so verdammt blöd vor, wenn ich vor ihm stehe! Er kann dieses Jahr nicht in Urlaub fahren, denn er macht ein Praktikum in London. Eine Riesenchance, nur etwas ungünstig, dass er zum Semesterstart noch nicht fertig ist. Freut mich natürlich für ihn, jeder von uns muss schließlich überleben und schauen, wo er bleibt. Heute ist es ein schwerer Kampf, einen guten und dauerhaften Job zu bekommen, und auch ich sammele natürlich neben der Uni erste Berufserfahrung. London ist eine Wahnsinnsstadt, meine ich, da ist sicher einiges geboten. Wieso empfinde ich seinen Gesichtsausdruck gerade als dreckiges Grinsen? Ja, die englischen Frauen sind zwar nicht so sein Typ, aber wird schon reichen, um es krachen zu lassen. Der Dolch steckte in meinem Herzen. Ich konnte es nicht unterdrücken, dass sich über meinem Kopf eine Denkblase bildete, in der in Großbuchstaben Arschloch stand. Das ist meine schlechte Seite. Oder? Aber gut, wir sind ja nicht mehr zusammen, und das war eben etwas unsensibel. Doch dieses Glitzern in den Augen verriet seine Gier nach den Frauen, wechselnden Partnerinnen, flüchtigen Bekanntschaften, die niemals die Gelegenheit bekommen werden, für irgendetwas Rechenschaft einzufordern. Dann transportierte seine Stimme die schier unglaublichen Worte in meine Ohren, er müsse aufpassen, dass er nicht noch arroganter werde. Aha. Wie sympathisch. Wieso denn? Naja, manchmal sitzt er eben in der Uni und lässt seinen Blick über die anderen Studenten schweifen, all die Loser, die nur Uni machen, keine Projekte nebenher, keine Auslandspraktika und Stipendien. Unausgesprochen bleibt, dass er dieses Pack später wohl nicht einstellen wird, wenn er mit dreißig dann im Chefsessel sitzt. Detailliert bauen sich momentane Projekte vor mir auf, Treffen mit Vorstandsvorsitzenden und Budgetplanungen, Powerpointpräsentationen und Businessflüge nach Berlin. Beeindruckend, und doch auch deprimierend. Während sein Mund die Worte formt, wird sein Körper grau, und Nadelstreifen ziehen sich über ihn wie ein Gitter, durch das er mich ansieht und mich wahrscheinlich gar nicht sieht. Auf eine seltsame Art genieße ich dennoch seine Anwesenheit, sauge seine Stimme in mich ein, die vertraut klingt und dennoch so fremd spricht. Früher kam es mir so vor, als würde warmes Öl über meine Seele fließen, wenn er in meiner Nähe war, und ein Schatten dieses Gefühls kommt auch nun in mir hoch. Und schmeckt doch plötzlich so anders. Dabei ist doch nicht viel Zeit vergangen.
Ich hoffte ständig, der DJ würde eines unserer Lieder spielen, um zu sehen, ob wir es immer noch fühlen würden. Doch Chartsgedudel verstopfte meine Ohren. Ich beschloss, mich zu betrinken, und ergriff die Flucht. Kühler schwarzer Schnaps brannte meine Kehle hinunter, und ich begann, an mir selbst zu zweifeln. Sein Gesicht zuckte ständig vor mir auf, Wortfetzen pieksten in meinen Gehörgängen herum. Bin ich ein Fossil aus der Zeit vor zwanzig, in der man noch Träume hat, die nicht um Karriere kreisen? Mir wurde schlecht, und ich musste würgen. Wie peinlich, auf der Tanzfläche. Ich hätte nicht so viel trinken sollen, ich begann schon zu wanken und zu lallen. Was für ein trauriger Anblick. Eine hoffnungslose Mondsüchtige verloren in der Realität. Dann riss mein Film.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich, als wäre ein Panzer über mich drüber gefahren. Die vergangene Nacht erschien mir so irreal, hatte ich wirklich Chris wiedergetroffen? Den Mann, den ich – ich mag dieses Stereotyp nicht – als meine große Liebe bezeichne? Langsam löste sich die Schmerztablette im Wasser auf, und ich sah ihr gebannt dabei zu. Mein Kopf war eine Großbaustelle, und meine Augen brannten wie verrückt. Ich beschloss, das Radio anzumachen. Werbung. Schreiende Stimmen vor jaulender Musik. Ich zog den Stecker aus der Wand und war wieder mit mir allein. Wer von uns beiden war nun verrückt? Können der Druck und die Anforderungen einer globalisierten Welt aus einem Hippie wirklich so einen Möchtegern-Yuppie gemacht haben? Oder hinkt  meine naive Seele dem wahren Leben hinterher? Ich durchforstete unsere gemeinsamen Erinnerungen, verzweifelt auf der Suche nach Anzeichen, die ich hätte sehen müssen. Einmal war ich mit ihm und ein paar Kumpels unterwegs gewesen. Sie waren am Abend vorher auf einer Party, und einer meinte, irgendso ein Typ hätte ein Mädel namens XY ständig angemacht. Da hatte Chris sich abrupt umgedreht und entrüstet gemeint, stimmt, so ein Penner. Ich war nur beschämt und gedemütigt daneben gestanden und hatte mir gesagt, so sind nunmal Männer. Und ja, das ist vielleicht nicht der beste Charakterzug, aber wir sind alle jung, und da begehrt man nicht nur die eigene Freundin. Aber das ist doch noch etwas vollkommen anderes, als sein Leben dem Geld zu opfern. Eigenes Geld hatte er nie gehabt, seine Eltern gaben ihm so viel, dass er nicht zu arbeiten brauchte. Worum ich ihn immer beneidet hatte. Und dieses Geld verprasste er auch mit vollen Händen, aber ist man damit gleich materialistisch? Ich trank das Schmerzmittelwasser in einem Zug aus und knallte das Glas unbeabsichtigt kraftvoll auf den Tisch. Auf einen Außenstehenden hätte ich wohl ziemlich abgedreht gewirkt. Ich stützte meinen Kopf in meinen Hand und wollte weinen. Doch worum eigentlich? Schließlich zwängte sich eine Träne aus meinem linken Auge und lief wenig filmreif meine Nase hinunter. Ein riesengroßer Scherbenhaufen. Ich fühlte alles zusammenbrechen, worum ich die letzten Monate getrauert hatte. Je mehr ich zurückdachte, desto mehr wurde mir bewusst, dass wir uns in einem Lebensabschnitt kennengelernt hatten, der für Chris wohl eine Art Umbruchphase gewesen war. Weg vom Visionär, der das ganze Jahr übt, um im Sommer am Lagerfeuer Gitarre zu spielen, hin zum funktionierenden Businessmann, der einst eine beeindruckend steile Karriere und vielseitige berufliche Erfahrung aufweisen wird. Und ich war so blind gewesen und hatte meine Träume verschenkt an jemanden, der sie niemals verstanden hätte. Und noch viel bitterer schmeckte der Gedanke, dass es vielleicht überhaupt niemanden gibt, dessen Seele meine berühren kann. Dass es so einen Zustand möglicherweise gar nicht gibt, und ich nur der Poesie aufgesessen war. Gefühle sind chemische Reaktionen, und sie entspringen irrationalen Träumen. Und im klaren Tageslicht verpufft das ganze Gebilde. Staub zu Staub. Und dann begann ich, mich zu schämen. Vor mir selber. Vor allen Leuten, denen ich meine Gedanken über Chris anvertraut hatte. Und vor ihm selber, der meine übergroße Liebe wohl stets heimlich belächelt hatte und sich gleichzeitig vollkommen eingeengt von ihr fühlte. Erdrückt. Von einem Irrtum. Und ich sah uns küssen, fühlte nochmal, wie es mir den Verstand geraubt hatte, wie mich nachts sein Duft eingehüllt hatte. Es hatte sich so gut angefühlt.
Mein Handy klingelte. Für einen kurzen unvernünftigen Moment hoffte ich, Chris würde anrufen. Würde den Hollywood-Text abspulen, dass er gemerkt hätte, dass sein Leben mit mir anders sei, reicher, besonderer. Doch in Nullen und Einsen verschlüsselt blinkte ein Frauenname zu dem aufdringlichen Klingelton. Ächzend rang ich mich durch ranzugehen. Anna war dran, fragte mich, ob es mir wieder besser ginge. Ihr Handy musste am anderen Ende der Leitung angefangen haben zu glühen, so rot wurde ich. Und natürlich wollte sie wissen, wie das Gespräch mit Chris gestern gelaufen sei. Das erste Gespräch seit unserer Trennung. Was sollte ich darauf sagen? Dass alles, woran ich geglaubt hatte, meine ganze Lebensphilosophie, meine Ideale und Wünsche, zusammengekracht waren? Zu dramatisch für einen Sonntag Morgen. Manche Gedanken kann man nicht unmittelbar teilen, nichtmal mit Menschen, die einem wirklich nahestehen. Es hört sich alles überdramatisiert an, wenn man es ausspricht, ins Lächerliche gezogen und übertrieben. Also fasste ich kurz zusammen, dass er bald für einige Monate ins Ausland geht und es sich wohl nicht anders überlegen wird. Zeit für Anna, Mitleid zu zeigen. Ich wollte ihr das ersparen und das Gespräch ablenken, doch sie hakte natürlich nach. Hatte mitbekommen, wie ich gelitten hatte. Hundeelend. Doch ich konnte mich einfach nicht durchringen, ihr von meinen Erkenntnissen zu erzählen. Meinte dann, ich hätte nicht gedacht, so wenig zu fühlen, wenn ich ihn wiedersehe. Lügen mögen kurze Beine haben, doch nur, wenn sie erkannt werden.
Als ich auflegte, sah ich an mir herunter und bemerkte, dass ich noch dieselben Klamotten wie am Vorabend anhatte. Ich hatte wohl sturzbesoffen in ihnen geschlafen und stank nun nach Schnaps und kaltem Rauch. Ein wohliges Bad mit duftendem Schaum würde die Geister von gestern vertreiben. Mein Handy ließ ich auf dem Küchentisch liegen, ich hätte mich zu sehr vor mir selber geschämt, hätte ich es hoffnungsvoll mit ins Bad genommen. Und als ich dann nackt im Wasser lag und dem weißen Rauschen zuhörte, klingelte mein Handy wieder. Ich stürmte in die Küche und zog eine Flut an Fichtennadelschaum hinter mir her. Chris ruft an. Ich wundere mich immer noch über mich selbst, dass ich es einfach klingeln ließ. Aufs Handy starrte und es klingeln ließ. Doch Chris ist ein Name für jemand anders als den, den ich kannte, und für jemand anders als den, den ich kennen wollte. Während der Klingelton dudelte, sah ich seiner Statue dabei zu, wie sie langsam vom Himmel auf die Erde zu fiel und schließlich krachend zerbarst. Und mit ihr ein Teil von mir. So sind wir beide gefallene Engel, Chris und ich. Und gleichzeitig wurde ein neuer Teil in mir geboren, der nicht so viel Hoffnung und Leidenschaft in die Welt steckt, wo es vergebens ist. Allem Anfang wohnt ein Zauber inne, doch auch jedem Ende.