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Dorit David: Die Pause 

Ich habe noch eine Viertelstunde. Fünfzehn Minuten. Die brauche ich auch. Ausatmen, Karin, befehle ich mir. Es ist der schnellste Weg, wieder zu mir zu finden, wenn ich mich mit meinem eigenen Namen anspreche. Ich gehe zum Fenster und öffne es. Einatmen, Karin. Ich gehe fünf Schritte quer durch den Raum, bücke mich und und ziehe das cremefarbene Spannlaken über der Matratze wieder glatt. Ein Fleck. Siehst du ihn Karin? Speichel vermutlich. Roger. Sehr rührend, wie er so still dalag. Das hat er noch nie getan. Deshalb habe ich ihn auch nichts mehr gefragt. Ich meinte sogar, er wäre eingeschlafen. Ich stelle schnell das Kissen auf den Fleck. Das Laken müsste runter. Ich bücke mich und zögere. Nicht jetzt, Karin, das ist deine Pause. Nachher, wenn du Feierabend hast. Gut, dass Roger nicht meine ganze Zeit in Anspruch genommen hat, denn der Neue jetzt wird anstrengend. Der Doktor. Wenigstens ist er der Letzte. Acht hintereinander sind eigentlich zu viel, jedenfalls für mich. Du hättest ihn nicht nehmen müssen. Du hättest nein sagen können. Hast du aber nicht, Karin, warum?

Er ist wie Tim. Vielleicht deshalb. Letzte Woche, als er das erste Mal hier war, wirkte er so sanft. So trügerisch sanft. Aber unter seiner Schale aus Friedsamkeit brodelte noch etwas anderes. Etwas Vulkanisches. Ich merke das schnell. Seine äußere Erscheinung aus fließenden Gesten und weichem Sprachtonus lassen ihn sehr smart erscheinen. Sein Gesicht hingegen wirkte wie ein Gefäß mit einer winzigen Öffnung, aus der von Zeit zu Zeit ein ziemlicher Überdruck entweicht. Zwei Öffnungen, - um genau zu sein: Seine Augen. Zwischendurch beißen sie richtig. Töpfer heißt er. Dr. Friedrich Töpfer und ich habe seine verkappte Angriffslust bei unserem ersten Treffen sofort gespürt. Du hättest ihm für immer absagen können, Karin. Du bist frei in deiner Entscheidung. Gezögert hab ich, ja, - einen kurzen Moment, aber nicht, weil ich Angst hatte. Aggression macht mir lange schon keine Angst mehr. Das war einmal. Dieser wunde Punkt gehört der Vergangenheit an. Diese plötzlich ausbrechende Wut bei meinem Gegenüber, wer immer es auch gewesen sein mochte, war es, die mich jedes Mal erstarren ließ. Lange Zeit. Jeder beliebige Mensch, der mich aus heiterem Himmel anschrie konnte mich außer Gefecht setzen. Es ist vorbei Karin, es war nur ein Tier. Tim. Dein eigener Hund und du warst gerade erst vier geworden , als du ihn an deinem Geburtstag wie immer einfach nur streicheln wolltest und er plötzlich bellend und beißend über dich hergefallen ist. Sei froh, dass du es rausgefunden hast, sei froh, dass Bonnie dir geholfen hat beim Erinnern. Aber jetzt bist du hier, jetzt ist alles vorbei. Du musst es nicht heraufbeschwören.

An der Stelle bin ich immer noch wund, aber ich habe über die Jahre gelernt, damit umzugehen. Es ist zwar anstrengend, doch die Furcht ist vorbei. Schließlich ist das hier mein Job. Jede von uns hat diese Schwachstellen, irgendwas, wo wir angreifbar bleiben. Man muss die Punkte akribisch raus fischen und damit umgehen lernen. Wer das nicht schafft, ist irgendwann raus. Ich muss schon wieder an Bonnie denken und ihren Suizid. Ein paar von ihr kommen jetzt zu mir. Keine gute Sache, auch wenn sie mich akzeptieren. Soweit wie Bonnie darfst du es einfach nicht kommen lassen, Karin.

Ich schließe die Augen, stelle mich dicht vor das weit geöffnete Fenster und sauge langsam die eisige Novemberluft durch meine Nase ein, bis sie sich an den Innenwänden meiner Schleimhaut erwärmt hat. Nicht zu hastig, Karin. Eine Erkältung kannst du dir im Moment gar nicht leisten. Vor Weihnachten ist die Bude hier immer voller als sonst. Und dann noch die extra Leute von Bonnie. Ich lächle. Die Bude. Ich muss aufpassen, was ich denke. Besser: Wie ich denke. Irgendwann passiert es und es rutscht mir heraus. Das darf ich mir nicht erlauben. Du bist schon viel zu lange dabei, Karin.

Ich weiß. Die Verschleisserscheinungen haben nicht lange auf sich auf sich warten lassen. Müde Haut, Konzentrationsstörungen und Schatten unter den Augen sind noch das Wenigste. Du bist zu schwach geworden, zu alt, zu dünnhäutig für diese Hingabe an jemand anderen. Ja. Ja. Ich weiß. Aber nur die ersten Treffen sind derartig anstrengend. Ich muss doppelt da sein, schnell sein, die Neuen in ihrem Wesen erahnen, bevor sie es selbst tun. Es passiert mir. Es geschieht intuitiv: Ich entschlüpfe in den ersten unberührten Minuten unserer Begegnung meinem Selbst, löse mich von mir los und tauche in die Seele meines Gegenübers ein, nur, um die Welt mit seinen Augen zu sehen. Auch mich. Unbedingt mich. Es ist wichtig, dass ich sehe, wie mich mein Gegenüber sieht. Eine Gabe die mich gut macht. Sie verbraucht zwar meine ganze Kraft, sie laugt mich aus, aber das verlange ich mir ab. Das ist Berufsehre und die Empfehlungen sprechen für mich. Ich werde weitergereicht. Zwar hinter vorgehaltener Hand, aber immerhin. Sie kommen zu mir, weil ich gut bin. Lächerlich. Ich rücke das Kissen wieder zurecht und schlage einen Knick hinein. Ein wenig zu heftig. Spüre ich da Wut in mir? Ja, Karin, los hau drauf das Kissen! Schreie es an, beiße hinein, Karin, los! Sie schämen sich, wenn sie kommen. Fast alle. Diese, in meinen Augen überholte Scham ist so zäh und hartnäckig. Ich schlage den Knick noch tiefer und wende mich wieder zum Fenster. Die Strasse da unten. Der Kiosk. Mohammed hat ihn seit gestern mit pulsierenden Lichterschläuchen umwickelt. Es wirkt von hier oben so, als ob jemand seinen Umriss ausgeschnitten hätte und nur noch eine schwarze Silhouette hinter der Scheibe hockte. Ein Schattenmännchen in einem blinkenden Passepartout, ein kleiner dicker friedlicher Araber in meinem Alter, der mir am liebsten sein Herz ausschütten würde. Jemand schiebt sich davor und bezahlt irgend eine TV- Zeitung, die von weit weg so aussieht wie ein Tittenblatt. Der Kunde klemmt sich die Zeitschrift unter den Arm, verdeckt mit dem Ellenbogen das Gesicht der Hochglanzfrau, so dass nur noch ihr Brustansatz zu sehen ist. Dann verschwindet er um die nächste Ecke. Das Dekoltee leuchtet bis zum Schluss. Ein heller Fleck in der Vorweihnachtszeit. Das pinke Lichtblut der Bude pulsiert und macht mich langsam nervös. Zu  i h m  geht jeder. Zu mir geht man inkognito. Muss auch eine wie du mit leben können, Karin. Mohammed erspäht mich durch sein fettig verklebtes Kioskfenster, und sein Schatten beugt sich vor, bekommt ein Gesicht und er winkt mir zu. Hat keine Probleme mich zu kennen. War ja auch noch nie hier oben. Von außen ist alles einfacher. Ich winke zurück.

Ich sehe ihn kommen. Den Doktor. Er biegt in den Volgersweg ein, wechselt kurz die Strassenseite, weil gebaut wird, überquert, ohne nach links und rechts zu sehen, die Fahrbahn und steuert direkt auf meinen Hauseingang zu. Der Doktor ist etwas zu zeitig dran. Ich straffe mich.  Meine Pause ist vorbei. Mir ist kalt. Ich bin noch nicht ganz zurück. Es ist der Letzte Karin, los! Früher ist mir das besser gelungen, dieses Ein- und Aussteigen aus mir selbst. Es ist nichts weiter als eine Theatervorstellung, Karin. Nichts weiter als das: Begrüßung - Akt – Verabschiedung. Augen zu und Atmen, tief Atmen. Bei dir sein, bis er kommt. Dann: Tür auf - Fenster zu - Begrüßung und das Spiel beginnt. Schon wieder muss ich lächeln. Vielleicht ist die Vorstellung des Ganzen als ein Spiel eine erstrebenswertere Sichtweise. Sie macht mich irgendwie freier. Nein Karin! Niemals. Das ist Selbstbetrug. Eher hörst du auf.

Es klingelt. Er ist angekommen. Herr Dr. Töpfer. Ich konzentriere mich auf meinen Leib, richte mich auf und versuche eine körperliche Entspannung zu erzeugen. Eine echte Entspannung.

Wenn ich gut bleiben will, muss mir das gelingen. Mein Erfolg begründet sich in meiner Echtheit. Ich gehe durch den Flur, betätige den Summer im Erdgeschoss und lehne meine Tür an. Ich höre seine Schritte die Treppen hinauf hasten. Schnell und leicht. Das Echo teuer gearbeiteter Ledersohlen. Der Doktor hat mich gebeten, ihn niemals unter seiner Privatnummer anzurufen, auch nicht bei Terminverschiebungen. Lieber käme er vergeblich. Heute bist du da Karin, leider, denn du hast nicht abgesagt ...

Ich bin da. Gleich bin ich da und wenn die ersten kräftezehrenden Treffen mit ihm vorbei sind, das von mir vermutete Tier in ihm endlich ausgebrochen ist und Freilauf hatte, könnte ich mir sogar vorstellen, dass er möglicherweise wirklich so sanft und weich ist, wie er es vortäuscht. Vielleicht ist da noch etwas anderes in ihm, etwas, das gestreichelt werden möchte. Ich wittere so was. Seit der Sache mit Tim. Und meine Nase ist so gut wie meine Erfahrung. So lange wie ich im Geschäft bin. Geschäft. Zynisch werde ich langsam. Du solltest wirklich aufhören. Nach Herrn Dr. Friedrich Töpfer solltest du wenigstens ernsthaft daran  d e n k e n  aufzuhören. Aber wie lange wird das noch dauern? Drei Jahre? Da er kein Kassenpatient werden möchte, sondern selbst bezahlen will, rechne ich mal mit hundert Stunden. Hundert Stunden TPT - Tiefenpsychologisch fundierte Gesprächstherapie. Bei mir. Aber wenn sich herausstellt dass er vielleicht doch noch eine Analyse bräuchte, hätte ich sehr gute Empfehlungen für ihn. Dann könnte ich vielleicht doch eher kürzer treten.

 

Er steht vor mir. Äugt auf mein Messingschild. Frau Karin Kerkhoff Psychologische Psychotherapeutin. Genau wie beim letzten Mal hält er inne und schaut sich verhalten im Flur um. Mir geht es jetzt besser. Ich bin tatsächlich entspannt. Authentisch entspannt. Ich lächle über meinen Gedanken und schicke das Lächeln zu ihm herüber. Ein Händedruck. Mein Lächeln ist echt und meine Hand warm. Seine hingegen, ist kühl und unbeweglich. Sie erinnert mich an eine Brieftasche aus Kunstleder. Ich gehe ihm voraus und er folgt mir zögernd in den Therapieraum. Die Schritte von ihm sind leise, wie die eines Tieres, das sich über meinen Teppich von hinten heranschleicht. Ausatmen. Wir biegen rechts ab und treten ein. Das letzte Mal heute Abend: Dein Ritual, Karin: Fenster zu. Tür zu. Blickkontakt.

„Wo möchten Sie Platz nehmen?“ Misstrauisch beäugt der Doktor jeden Winkel meines kleinen, überschaubaren Zimmers, als sähe er es zum ersten Mal. Sein Blick gleitet über das Herbstblumenarrangement in der Ecke gegenüber dem Fenster, dann über den, mit einem Wolltuch verhängten Pezziball, er streift den, in weißes Holz gefassten Spiegel an der Wand und hängt sich kurz an der Matratze auf dem Boden auf. Mustert den Knick im Kissen, wie mir scheint. Eine Mischung aus Unwillen und Erstaunen huscht über sein Gesicht, verschwindet aber sofort wieder. Eine Erinnerung? Letzte Woche hatte er mich gefragt, warum ich keinen Schreibtisch besäße, jeder Therapeut hätte einen, sagte er. Ich hatte erwidert, er täusche sich. Mein Schreibtisch stände im Zimmer gegenüber. Dort erledigte ich Dinge. Hier im Therapieraum erledige ich keine Dinge und auch keine Menschen. Gelächelt habe ich bei diesen Worten nicht. Das Tier war in seinem Blick aufgeblitzt.

Heute jedoch, sagt er gar nichts. Ist ruhig. Steht nur unschlüssig im Raum und ich warte geduldig, bis er sich für den blauen Sessel entscheidet, jenen, der nicht mit dem Rücken zur Tür und am weitesten entfernt zur Matratze steht. Ich wusste es bereits, bevor er den Raum betrat. Ich wusste, dass Herr Dr. Töpfer sich erst längere Zeit umblicken würde mit einer Aura, die mir signalisieren soll, dass ich störe und dass er sich dann für diesen Platz entschiede. Mein Therapieraum ist ihm zu kindisch. Zu bunt. Zu naiv. Alles sehe ich bereits mit seinen Augen.

Ich sehe mich auf meinen Sessel zugehen, mich hinsetzen, sehe meinen offenen Blick ihm gegenüber, der ihm sofort erscheint wie eine geballte Provokation aus ungewollter Nähe. Ich sehe, wie ich die Beine übereinanderschlage, was ihn wiederum etwas beruhigt, denn diese Geste wirkt seriös und distanziert. Etwas, das er braucht. Ich höre mich fragen, worüber möchten Sie heute reden? und meine Stimme klingt förmlich und kühl. Seine Schultern fallen minimal nach unten. Ich erkenne es daran, dass sein Jackett oben bleibt, weil er fest mit dem Rücken im Sessel lehnt, als würde er mit ihm verschmelzen wollen. Er wirkt in seinem Anzug ein wenig geschrumpft. Ich rieche das Wachs seiner Schuhe. „Könnten Sie das Licht etwas dimmen?“ Seine erste Frage an mich.

„Ja, natürlich, kein Problem“ Ich stehe auf. Ich sehe mich mit seinen Augen gelassen zur Tür gehen und den Schalter um eine halbe Drehung verstellen. Das Licht wird dünner und fahler, bis es versiegt. Durch das Fenster pulsiert es nun grell-rötlich herein. Das pinke Lichtblut dringt ungehemmt über die Netzhaut in meine Sinne ein. Es ist nicht meines. Ich verlasse mich. Tausche die Körper. Wechsle die Perspektive.

Die Frau, die ich für ihn bin, geht nun zurück durch den Raum. Sie ist nicht mehr warm-bedrohlich. Sie ist jetzt mehr ein Schatten ohne direkten Blick. Sehr diskret. Ihre Kontur sieht mäßig attraktiv aus und ist nicht besonders vielversprechend. Aber deshalb ist er nicht hier. Die Frau, die ich für ihn bin, soll ihm helfen. Sie ist ihm empfohlen worden. Von einem Freund. Einem Mann. Er selbst hätte keine Frau gewählt. Die Frau, die er sieht, setzt sich ihm gegenüber in den Sessel zurück, schlägt erneut die Beine übereinander, wendet den Kopf zur Seite und schickt ihren Blick zum Fenster hinaus. Lässt ihn dort. Schweigt. Lange Zeit. Sie schaut ihm nicht in die Augen, sie streichelt ihn nicht mit Worten. Sie lässt ihn in seiner Dunkelheit, damit er endlich frei sprechen kann. Die Frau, die er sieht, ist längst bei ihm. Ihre Hingabe hat begonnen.