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Elisabeth Klar: Undis 

"Ausnehmen wollen sie einen", hat Undis' Mutter immer gesagt, "Im richtigen Leben nehmen sie einen aus, merk dir das." Das hat sie gesagt, als Undis noch ein Kind gewesen ist. Gegen das richtige Leben wollte sie Undis warnen. Jetzt, wo Undis im richtigen Leben oder doch zumindest an seiner Schwelle steht, sagt ihre Mutter: "Ein liebes Kind bist du gewesen. Immer im Wasser. So verträumt." Und sie erzählt von dem Urlaub beim Onkel, den man ja dann auch, sagt sie, ausgenommen hat bis auf die Knochen, aber damals der Urlaub beim Gardasee. Schön ist der gewesen.

Undis stimmt ihr zu. Sie sitzen gemeinsam in der Loggia, blicken auf den Innenhof hinunter. Von einem See ist nichts zu sehen, zumindest regnet es aber. Undis hat ihren linken Arm in ihrem Schoß, wo er schwer aufliegt.

"Es ist schad' drum, dass du mit dem Schwimmen aufgehört hast", sagt die Mutter, "So oft bist du früher schwimmen gegangen. Willst du da nicht endlich etwas machen, wegen der Hand?"

Ähnlich hat sich ihr Hausarzt auch kürzlich ausgedrückt, "Wir müssen uns allmählich etwas überlegen", hat er gesagt, "wegen Ihrer Hand. Wenn sich das nicht bald verbessert, müssen wir uns etwas überlegen."

Undis fragt sich, was es da noch zu überlegen gibt, derart eingeübt ist sie. Die größte Hürde ist gleich zu Beginn das An- und Ausziehen der Hosen gewesen, alles andere ging danach im Vergleich viel leichter. Sie hebt die Tasse schlammigen Tees, draußen tritt der vom Regen aufgeweichte Schlamm des begrünten Innenhofs über die mit Pflasterstein umgrenzten Ufer.

"Glaubst du denn, dass mich das am Schwimmen hindert?", fragt sie. Auf was für Ideen ihre Mutter kommt.

Lernen musste sie eigentlich vor allem, ihren Mitmenschen geduldig zur Seite zu stehen, sie zu stützen und darin zu leiten, etwas zu übersehen. Meistens behält sie die Hand in der Manteltasche, oder sie lässt den Arm an sich herabhängen, hinter einer Gewandfalte verschwinden. Beim Fahren in der Straßenbahn legt Undis sie eng an ihren Bauch, das beruhigt. Das hat sie schon als Kind beruhigt. Sich zur Wand drehen, sich zusammenrollen, die linke geschlossene Hand an den Bauch legen. Um das herum hat sie sich krümmen wollen.

 

Und ihre Familie hat tatsächlich eine kleine Zeit gebraucht, es zu bemerken. Wie leicht das anfangs war. Aber dann ist doch allmählich der Blick gewandert, verstohlen. Dann erst hat man nachgefragt. Nach beruhigenden Antworten hat man gefischt.

"Hast du dir weh getan?"

"Nein, nein."

"Ist dir vielleicht kalt?"

"Nein, nein."

"Tut dir die Hand weh, hast du dir da weh getan?"

"Nein, nein."

 

"Das hast du schon als Kind hin und wieder gemacht", sagt die Mutter jetzt, "Das mit der Hand, kannst du dich daran erinnern? Manchmal hast du dir das eingebildet."

Undis nickt.

"Aber damals hat man dich doch auch davon abbringen können", sagt die Mutter, "Wieso fängst du jetzt wieder an, mit dieser kindischen Geschichte?"

Diese kindische Geschichte, denkt Undis. Ob es die jemals gegeben hat.

"Was hast du Tante Ine für Schauermärchen erzählt?", fragt sie stattdessen zurück, "Sie glaubt, dass das ein Krampf ist. Sie hat mich gefragt, ob ich es operieren lasse."

"Irgendetwas muss ich ja sagen", meint die Mutter.

Aber nein, Mama muss nichts sagen. Undis muss ja auch nichts sagen. Das Schweigen stört sie nicht. Sie hätte auch nur mit Mama Tee trinken und dem Regen zuhören können. Sie dreht die Hand zu sich. Wie flach die Finger aufliegen. Dort, beim Daumen, den sie wie einen Deckel auf den Hohlraum aufgelegt hat, den die Finger formen, sind Spalten geblieben. Dort kann man ein wenig ins dunkle Innere sehen.

Bei der Diplomprüfung vor drei Monaten ist die Hand schon geschlossen gewesen. Undis hat am Gang auf einem Klappsitz zwischen anderen Klappsitzen gewartet, bis man sie holte, hat mit dem Fuß gewippt und ihre Finger betrachtet. Da hat sie es bemerkt. Da ist etwas, dachte sie, da ist doch etwas. Sie hob die Hand, drehte sie hin und her, und da fiel aus der Ritze zwischen Daumen und Handfläche eine kleine Feder. Im langsamen Fall drehte sie sich, wurde hierhin und dorthin vertragen, bis sie auf Undis' Schoß landete, dem kratzigen Stoff des Hosenanzugs. Undis beugte sich noch tiefer, um die Feder zu betrachten. Ganz Flaum war sie, weiß, an den Spitzen schimmerte sie blau. Und als sie aufblickte, merkte sie, dass auf dem Boden und den Sesseln des Ganges eine dicke Schicht Schlamms klebte, dass sie selbst auch im Schlamm saß. Sie wischte vorsichtig mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die Sessellehne neben ihr, es tropfte zähflüssig herunter. Sie musste ja gar nicht weglaufen, merkte sie. Nein, sie konnte diesmal sitzen bleiben, zum ersten Mal konnte sie bleiben. Die Flaumfeder balancierte indessen auf ihrem Hosenanzug bis man Undis' Namen rief und sie aufstand, dann nahm sie ihren Fall wieder auf.

 

Die Mutter blickt verstohlen hin, kaut dabei an ihren Nägeln. Dann sieht sie zurück auf den Innenhof, nimmt die Tasse schlammigen Tees und führt sie zu den Lippen, statt zu trinken, beißt sie allerdings nur auf deren Rand herum.

"Weißt du noch", sagt sie.

Ja, Undis weiß noch. Der Urlaub beim Onkel. Ins stille Wasser ist sie gesprungen. Der Onkel kam am Nachmittag mit der Angel über der Schulter von seiner Bootsfahrt zurück, mit einem zuckenden Fisch im Kübel. Die anderen drehten sich weg, Undis aber wollte beim Ausnehmen zusehen, wo ihre Mutter doch so viel davon gesprochen hatte, davon, dass das im richtigen Leben auch mit einem geschieht. Sie kletterte auf dem Küchentisch und verfolgte jeden Messerschnitt, jeden Handgriff aufmerksam. Und selbst als der Onkel schon beim Herz angekommen war, zuckte es noch. Undis biss sich auf die Lippen. Und beugte sich noch tiefer hinunter.

"Möchtest du es vielleicht halten?", fragte der Onkel, "Das kleine Herz?"

Undis machte ihre Hand ganz flach. Und der Onkel nahm das Fischherz und legte es auf diese Hand, wo es pochte.

 

"Meine Mutter erzählt ganz seltsame Geschichten", sagt sie zum Mag. Bräuner, der sie gefragt hat, was sie heute denn auf dem Herzen hätte.

Sie denkt an jenen Abend, an das Abendessen mit ihrem Bruder und ihrer Mutter. Da ist die Hand schon gerade so lange geschlossen gewesen, dass darüber geredet worden ist.

"Weißt du noch", hat die Mutter gefragt, "als du als Kind einmal aufgehört hast zu sprechen?"

"Nein", hat Undis gesagt, "Ist das denn so gewesen?"

"Für ein paar Wochen", hat die Mutter gemeint, "hast du kein Wort gesagt. Da warst du fünf Jahre alt. Gott sei Dank hat sich das beim Schuleintritt gleich aufgehört. Geplappert hast du da, als müsstest du aufholen. Du glaubst gar nicht, wie erleichtert ich war. Was du dir damals alles eingebildet hast."

"Ich weiß nicht, woher sie die alle hat", sagt Undis jetzt, "all diese Geschichten. Mein Bruder kann sich auch nicht daran erinnern."

"Ihr Bruder ist jünger als Sie nicht wahr?"

"Mein Bruder lässt mich mit der Sache in Ruhe."

 

"Ist das denn nicht unhygienisch?", hat die Mutter am selben Abend noch gefragt.

"Wie meinst du denn, unhygienisch?", fragte daraufhin der Bruder.

"Naja, wie wäscht sie sie denn?"

Der Bruder zuckte mit den Schultern. "Sie wird schon eine Möglichkeit finden", sagte er.

"Es ist so schade", sagte die Mama, "Du bist ein so tolles Mädchen, und dann das. Eine Hand nicht mehr benützen können, von heute auf morgen. Als Kind hast du das schon gemacht."

Undis legte das Messer zurück auf den Teller und griff unter den Tisch. Sie umgriff mit der rechten Hand ihre linke Hand, drückte mit der rechten die linke zusammen.

"Können wir nicht mal über was anderes reden?", fragte der Bruder.

Die Mutter schüttelte den Kopf.

"Das muss man doch operieren können.", sagte sie.

Undis griff ins Feuchte. Sie blickte hinunter in den Schoss. Dort, da lief etwas aus. Es floss eine dunkle Flüssigkeit aus den Spalten zwischen den Fingern, aus dem Spalt zwischen Daumen und Handfläche. Klebrig, fast schwarz.

Im Bad lehnte sie die Stirn gegen den Spiegel, während das Wasser über ihre geschlossene Hand lief und was dort ausrann wegspülte. Ein wenig übel war ihr, aber das konnte auch vom Essen kommen. Das würde bald vorüber gehen. Nichts würde ersticken. Sie schloss die Augen und dachte an den Vortag, da war sie Rad gefahren, als mit dem Fahrtwind violette Blüten aus ihrer geschlossenen Hand gerieselt waren und in den Fahrtwind hatte sie die Hand gehalten und laut gelacht hatte sie, weil sie eine Spur von violetten Blüten hinter sich ließ.

 

"Glauben Sie denn auch, dass es eine Behinderung ist?", fragt sie den Bräuner jetzt.

"Hindert es Sie daran, Dinge zu tun?", gibt er zurück.

Die Bewerbungsgespräche meint er wohl.

"Es ist keine Behinderung", antwortet sie, "Das ist nicht der Punkt."

Das ist vielleicht der Punkt für ihre Mutter, oder für ihre Tanten. Aber es braucht doch keine geschlossene Hand, um nicht mit Personalleitern sprechen zu wollen. Ausnehmen wollen sie einen. Als sie sich tief über den ausgenommen Fisch gebeugt hat, hat sie das auf eine von Mamas Geschichten hin getan. Aber wie unwahr ist sie denn geblieben?

"Was müsste geschehen", fragt er, "damit Sie Ihre Hand wieder öffnen könnten?"

Noch eine Frage, auf die Undis keine Antwort findet. Einmal, da hat er sie gefragt, ob sie sich denn vorstellen könnte die Hand wieder zu öffnen, wenn sie wüsste, dass sie sich auch ohne ständig geballter Faust verteidigen kann.

"Sieht das denn für Sie wie eine geballte Faust aus?", hat Undis daraufhin gefragt, "Sieht das denn aus, als könne man damit gut zuschlagen, als könne man damit jemanden verletzen?"

Er hat zugeben müssen, dass es nicht so aussah.

 

"Was denken Sie", fragt er, "Wäre es denn rein hypothetisch besser für Sie, wenn Sie gar keine linke Hand mehr hätten, wenn man sie Ihnen amputieren würde?"

"Was sollte daran denn besser sein?", fragt sie.

"Dann müssten Sie nicht mehr darüber nachdenken", sagt er, "Sie ist auch jetzt kaum mehr als ein Stumpf."

Ein Missverständnis. Sie sollte ihm einmal alles gründlich erklären, damit er nicht auf solche Ideen kommt. Heute schüttelt sie aber nur den Kopf.

"Aber ich verwende die Hand doch", sagt sie.

 

Und dann schlägt er vor, ein wenig über ihren Onkel zu sprechen und sie meint, darauf ließe sie sich schon ein.

Er sei dann ertrunken, meint sie.

"Man hat das Boot in der Mitte des Sees gefunden, ihn auf dem Seegrund. Er hat die Taschen voller Steine gehabt und den Mund voller Schlamm."

Da sei sie schon volljährig gewesen, sonst hätte man ihr vermutlich noch mehr verschwiegen.

"Das ist noch nicht lange her, nicht wahr?", fragt er.

Nein, noch nicht so lange.

"Meine Mutter ist der Meinung, wir hätten uns gut verstanden", sagt sie, "Sie meint, ich erinnere sie an ihn. Mir ist nicht ganz klar, was sie mir damit sagen will."

"Haben Sie ihn denn oft gesehen?", fragt er.

"Nein", sagt Undis, "gar nicht oft, das ist es ja. Meine Mutter meint, sie hätte schon gewusst, dass wir ein Herz und eine Seele sind, da sei ich noch ein Säugling gewesen. Wie soll das denn gehen?"

Er fragt sie, was sie selbst über den Onkel denkt, aber die wenigen Male, als sie ihn gesehen hat, hat sie immer nur zu ihm aufgeblickt und sich gefragt, wie das denn gehen soll.

"Hab ich denn überhaupt etwas zu sagen gehabt, in dieser Geschichte?", fragt sie.

"Ein paar Erinnerungen habe ich an ihn. Richtig kennengelernt habe ich ihn nicht. Dazu hatten wir nicht die Zeit."

"Wenn heute Nacht ein Wunder geschieht", fragt er, "was ist dann morgen anders?"

Sie reicht ihm zum Abschied die rechte Hand, schließt die Tür hinter sich und geht zu Fuß die dunklen Gassen heim. Sie geht über den Beton, sie geht durch den Schlamm und hinterlässt leicht zu verfolgende Spuren.

 

Sie umarmt ihre Mutter zum Abschied, streichelt ihr mit der flachen Hand den Rücken, klopft an bei ihr mit der geschlossenen. Die Mutter drückt sie fest, drückt ihr die Finger in den Rücken, atmet ihr ins Ohr und in den Nacken.

"Sag mal, Judith", fragt sie dann, "Wie geht es denn eigentlich voran?"

Die Therapie meint sie wohl.

"Ja", sagt sie, "Danke. Es bedeutet mir viel."

"Mit der Physiotherapie hast du ja auch aufgehört. Judith, Ich mache mir einfach Sorgen um dich", sagt die Mutter, "Niemand wird das verstehen."

Vermutlich hat sie Recht. Niemand wird das verstehen, und Undis möchte es ja auch gar nicht erklären, nicht einmal ihrem Therapeuten möchte sie es erklären.

"Du siehst doch", sagt sie, "dass ich mein Leben im Griff habe."

Es regnet noch immer, als sie auf die Straße tritt, und die Erde der Begrünung hat die Bäche am Straßenrand braun gefärbt. Was ist, wenn heute Nacht ein Wunder geschieht? Aber sie hat doch schon genug Wunder gewirkt für zwei Leben. Sie hebt die geschlossene Hand aus der Manteltasche, in den Regen, der ihr nichts anhaben kann. Manchmal spürt sie, wie etwas gegen ihre Handinnenfläche tapst, als hocke da drinnen ein kleines Tier. Ein anderer Mensch hätte es längst fallen gelassen. Undis lässt es nicht fallen. Wenn sie in der Früh aufwacht und sieht, ihre Hand hält es noch immer, dann macht sie das lächeln. Was will man mehr?

Sie hebt die geschlossene Hand und legt sie dicht an ihr Ohr.

Sie horcht natürlich auf das Pochen.