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Doris Hillebrand: Janis Joplin und ich 

Das mit der Katze hätte nicht passieren dürfen. Als grundsätzlich besonnenem und nachdenklichem Wesen hätte mir bereits Auge in Auge mit der kleinen Schwarzen klar sein müssen, dass das keine gute Idee ist. Eigentlich war es gar keine Idee, schon gar kein Plan.

Tatsache ist, sie hat mich gereizt. Oder habe ich sie missverstanden? Sitzt sie da einfach starr vor Angst und hofft, ich würde sie in Ruhe lassen, wenn sie sich nicht bewegt? Ich will nichts von ihr, aber wie sie so provozierend zwei, drei Meter, einen Sprung entfernt vor mir kauert, packt mich der Ehrgeiz. Erwische ich sie wirklich mit einem Satz? Ein rein sportliches Interesse. So, wie möglichst hoch Markierungen zu pinkeln. Als ich sie dann mit meinen Zähnen halte, nur einmal kräftig geschüttelt, hängt sie schon schlaff zwischen meinen Kiefern. Ich lege sie ab ins Gras, sie zuckt nur kurz, kaum sichtbar, dann ist das Leben  aus ihr gewichen. Das Ganze dauert nur ein paar Sekunden und ehrlich: Eigentlich wollte ich das gar nicht.

Schuldbewusst und zerknirscht hoffe ich, dass niemand meine Untat beobachtet hat. Aber offenbar hat das Adrenalin zuallererst meine Ohren verkleistert oder die Hörnerven betäubt. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie mein Zweibein Hanna mich anstarrt. Mit einem Gesicht, verzerrt wie auf dem Munch-Plakat über meinem Schlafplatz, will sie schreien. Der Schrei steckt irgendwo zwischen Kehlkopf und Mundhöhle fest und kommt nicht weiter. Er verhindert aber auch, dass Hannas Lunge Luft einsaugen kann. Hannas Gesicht verfärbt sich rot, ich habe Angst, sie wird gleich platzen. Mit einem einzigen Blick in ihre aufgerissenen Augen groß wie Taubeneier habe ich die Situation erfasst. Hanna hat geschrien, hat mich zurückgerufen, hat vorhergesehen, was passieren würde. Aber ich habe sie nicht gehört, ich habe sie einfach nicht gehört. Und nun ist sie entsetzt, stinksauer, traurig über meine Mordtat. Und darüber, dass sie sie nicht hat verhindern können. 

Ich habe es vermasselt, habe alles versaut, habe Hannas Liebe verspielt. Versager, denke ich, ich bin wirklich nicht mehr integrierbar. Benehme mich wie ein Henker, nicht wie ein sozialverträgliches Mitglied der Gemeinschaft. Zusammenleben ist kein Ego-Shooter-Game. Nach über zwei Jahren auf der Straße, die nicht schlecht, aber auch sehr anstrengend waren, ist es doch angenehm gewesen, endlich ein ruhiges Plätzchen gefunden zu haben. Essen, trinken, einigermaßen erträgliche Gesellschaft, auch wenn Cora ziemlich arrogant daherkommt und sich nicht wirklich für mich interessiert, es sei denn es ist etwas in meinem Futternapf, was sie haben will.

Es gab keinen Grund, der es gerechtfertigt hätte, der Schwarzen das Lebenslicht auszublasen.

Paradox. Zum gesellschaftlichen Konsens der Zweibeine gehört, dass ein Wesen, das sich außerhalb des sozialen Gefüges stellt, etwa indem es, so wie ich, ohne akzeptablen Grund tötet, ausgeschlossen wird, indem es eingeschlossen wird. Für jemand, der sich extrem daneben benimmt, kann es nur Knast geben. Ich hätte diese Strafe gern angenommen. Schlechtes Gewissen habe ich genug. Und ich weiß, dass ein Verbrechen gesühnt werden muss.

Hanna neigt zum kurzen Prozess. Sie ist spontan, reagiert generell schnell, handelt aus dem Bauch heraus, und liegt damit meist richtig. Auf diese Weise ist sie effizient und bewegt eine Menge. Sie verschwendet keine Zeit mit abwägen. Und jetzt habe ich sie bitter enttäuscht. Ihr Vertrauen in mich ist in den Grundfesten erschüttert. Alles ist ins Rutschen geraten. Auf diesem Geröll lässt sich nicht mehr aufbauen. Das weiß Hanna innerhalb von Nanosekunden.

 

Ich verstehe, dass sie auch Angst um Merlin, Paul und Sissi hat. Dabei würde ich den dreien niemals eines ihrer seidigen Tigerhaare krümmen. Das wissen sie auch, so selbstsicher wie sie vor meiner Nase auf die Anrichte springen, um dort zu speisen, wo ich nicht hindarf. Aber okay. Die Familienordnung und die Tischgepflogenheiten habe ich unverzüglich akzeptiert. Ich wollte meinen Frieden. Und ja, die Katzen und Cora waren vor mir da. Also heißt es: Füg dich ein, mach keinen Stress, dann kannst du bleiben. Ich habe von Anfang an  allen zu vermitteln versucht, dass ich die Spielregeln kenne und keine Variationen einführen will. Ich habe mich auf den Rücken geworfen, habe allen meine verletzlichste Seite gezeigt, meinen Bauch, und mich um Integration durch Kapitulation bemüht.

 

Und jetzt das. Nachdem der Schrei, der halb erstickt und nun ganz klein ist, endlich Platz macht für die Luft, die Hanna dringend zum Atmen braucht, kommt er kläglich und schwach durch die angespannten Lippen gekrochen.  Nur mehr ein resigniertes, hilfloses Krächzen. Dann Hannas Urteil, intuitiv gefällt und im Augenblick der Verkündung rechtskräftig: Komm her, du Monster! Außer sich vor Zorn befielt sich mich zu sich, damit ich den Strafausspruch entgegen nehme. Mit eingezogenem Schwanz und hängenden Ohren trotte ich in Zeitlupe zu meinem Zweibein. Es geht ihr nicht schnell genug. Kommst du her!!!Sitz! brüllt sie mich an. Ich setze mich langsam. Mache keine Anstalten, vor Hanna wegzulaufen. Hanna indessen rennt zu der Schwarzen, streichelt behutsam den eingefallenen Körper, spürt sofort, dass keine Hilfe mehr möglich ist. Ich habe ganze Arbeit geleistet. Ich bin wahrlich nicht stolz auf meine Mordtat, vor allem, wenn ich sehe, wie Hanna die Tränen über die Wangen laufen. Sie liebt jede Kreatur, schlägt nicht einmal Fliegen tot. Ich habe richtig Mist gebaut. Niemals hätte ich der gutmütigen Hanna weh tun wollen.

 

Aber jetzt fährt sie auf, rastet aus. Hau ab, du blödes Vieh, du Mörderhund, du undankbares Scheusal! Ich dachte du hättest kapiert, dass Miezen auch ein Recht auf Leben haben. Du würdest dich wohl in einem günstigen Augenblick auch auf Merlin, Sissi oder Paul stürzen, nur weil sie dir den Blick verstellen. Verschwinde, asoziales Stück!

Sie geht auf mich zu, bückt sich, nimmt mir das Halsband ab. Dann nochmal: Hau ab! Sie zeigt mit ihrem rechten Arm die Straße entlang dorfauswärts. Schleich dich, du gehörst doch nicht hier her, ich hab mich getäuscht!

 

Als sie das Halsband aufmacht, ist das Urteil, die lebenslange Freiheitsstrafe, vollstreckt. Mir ist eiskalt, mein zuletzt untrainiertes Herz rast, in meinem Hirn klirrt es, wie splitterndes Glas.

 

Freedom is just another word for nothing left to lose. Janis Joplin hat recht. 

 

Ich renne los, nicht aus Angst vor Schlägen oder Tritten. So etwas tut mein Zweibein, nein sie ist ja nicht mehr "mein" Zweibein, so etwas tut Hanna nicht. Voller Scham will ich unsichtbar sein, im Erdboden versinken, wie Zweibeine so bildkräftig sagen. Ich beeile mich fortzukommen, Richtung Dorfausgang, wo die schmale Straße nach einem knappen Kilometer in die Hauptstraße mündet. Ich versuche mich zu konzentrieren und gegen die im Bauch wummernde Panik anzurennen. Jetzt wieder die alten Fähigkeiten aktivieren. Mäuse fangen, Fasanennester finden, Eier von Bodenbrütern knacken. Vielleicht ein Freudenmoment vor dem Nest eines Rebhuhnes. Die legen besonders viele Eier. In so einem Gelege habe ich einmal zwanzig lauwarme, angebrütete Eier gefunden. Viel zu verlieren habe ich jetzt wirklich nicht mehr.

 

Klüger wäre gewesen, mir den Ausflug in die Bequemlichkeit zu ersparen. Aber hinterher ist man ja immer schlauer. Für sechs Wochen Kost und Logis habe ich nicht nur mit meiner Freiheit, sondern auch mit meinen Eiern bezahlt. Das war nicht absehbar, als ich bettelnd vor Hannas Tor stand und mich von Cora anblaffen ließ. Die Kastrationswunde ist gerade verheilt, mein Kopf ziemlich verwirrt. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit meiner verstümmelten Männlichkeit mit anderen Waldkämpfern zurecht kommen werde. Die riechen sicher meilenweit gegen den Wind, dass ich nicht vollständig bin. Die beste Strategie wird sein, möglichst allem aus dem Weg zu gehen. Vielleicht entlastet es mich aber auch. Ich muss jetzt nur noch für Nahrung, Wasser und bei schlechtem Wetter ein Dach über dem Kopf sorgen. Die Mädels werden mich nicht mehr ernst nehmen, das erspart mir Gedankenarbeit, Kämpfe und Aufwand für Eroberungen. Sollen es doch die anderen Jungs machen.

 

. . . nothing left to lose.

 

Was habe ich noch zu verlieren? Eigentlich nur noch mein Leben. Meinte Janis Joplin das wirklich so? Nur frei, wenn man keine Angst vor dem Tod hat? Oder tot ist? Keine Ahnung, ich habe das Lied schon lange nicht mehr gehört.

Sie fragen sich zurecht, woher ich als mittelmäßig gebildeter Hund und Kind dieser komischen Nullerjahre Janis Joplin kenne. Bevor ich mich als Autodidakt zum Straßenköter weitergebildet habe, lebte ich mit Heinz. Heinz war sanft, wollte mit Zweibeinen nichts mehr zu tun haben, war nur für uns beide da. An die Zeit vor Heinz habe ich keine Erinnerung. So gesehen fing alles mit Heinz an. Leider ging es mit ihm auch bald zu Ende. Keine drei Jahre lebten wir zusammen. Vielleicht waren das die besten Jahre meines Lebens. Heinz hörte ständig Musik. Seine Göttin Janis. Seine Hymne "Me and Bobby McGee". Meistens waren wir in seinem cremefarbenen Opel Admiral unterwegs. Er hatte sich Bose-Lautsprecher für seinen CD-Spieler eingebaut. Diese Anlage passte so überhaupt nicht zu dem aus der Zeit gefallenen Auto mit der Unfarbe. Der Stilbruch war krass. Und in dieser Kiste hörten wir "Pearl" rauf und runter. Die beste Scheibe der Plattengeschichte. Das hat Heinz jedesmal euphorisch verkündet. Ich glaube nicht, dass Heinz einen Mercedes Benz gewollt hätte. Er war vernarrt in seinen Opel, obwohl der am Schluss ganz schön versifft war. Heinz hatte keine Energie mehr, die Kutsche sauber zu halten. Und eigentlich war es folgerichtig, dass Heinz in diesem Auto starb. Er hatte mal wieder zuviel drin. Traurig. Ich bin rausgeflogen durch den Aufprall, habe mir einige Rippen gebrochen, die Lunge gequetscht. Hing ein paar Wochen ziemlich rum. Aber schlimmer war, dass ich von einer Sekunde zur anderen auf mich selbst gestellt war. Ich hatte sofort kapiert, dass Heinz nicht mehr aufwacht. Hat alles ziemlich weh getan. Aber ich schweife ab. Ich wollte ja nur erzählen, woher ich Janis Joplin kenne.

 

Seit gut zwanzig Minuten bin ich jetzt unterwegs. Ich denke es ist klug, Richtung Gewerbegebiet zu laufen. Bei den Müllcontainern von Rewe und Aldi habe ich früher immer etwas Fressbares gefunden. Und auf dem Parkplatz kann ich Zweibeine anbetteln. Ich muss nur aufpassen, dass ich nicht an so ein tierliebes Wesen gerate, das mich schnell ins Auto zerrt, um mich ins nächste Tierheim zu schaffen. Armer, armer Straßenhund.

 

Ich laufe in ziemlich gleichmäßigem Tempo im Straßengraben, für die Autofahrer auf der Staatsstraße durch eine struppige Buschreihe und die Leitplanke verdeckt. Gefällt mir, dass ich die Geschwindigkeit wieder selber bestimmen kann. Das Leinegehen ist so eine Sache. Schon schön zu wissen, dass am anderen Ende der Leine ein Zweibein hängt, das sich um einen kümmert. Aber Hanna hat nie richtig verstanden, wenn ich stehenbleiben musste. Eine Geruchsspur lesen musste. Hanna ist immer ungeduldig. Ich sagte ja bereits, dass sie ungern Zeit verschwendet. Selten geht ihr etwas schell genug. Deshalb hatte ich auch nie richtig Zeit, meine "Morgenzeitung" zu lesen, die Markierungen der anderen Jungs aus dem Dorf, die vor allem immer nachts unterwegs waren. So eine Markierung muss ordentlich bearbeitet werden, das bedeutet erschnüffelt, verstanden und mit einem Kommentar versehen. Und das braucht seine Zeit. Ich frage mich, warum ich Hannas Tempo einfach akzeptiert habe. Jetzt fällt mir noch eine Songzeile aus der Anlage im alten Admiral ein. Westernhagen, Freiheit ist die einzige, die fehlt. Bei Hanna bin ich nie auf die Idee gekommen, dass mir was fehlt. Seltsam. Jetzt werde ich die Muße haben, so lange zu schnüffeln, bis der Magen knurrt.

 

Lebenslange Freiheit als Strafe. Mir wird Angst. Ich denke an den letzten Winter vor der Zeit bei Hanna. In der kältesten Nacht hatte es minus zweiundzwanzig Grad, und meine Schneehöhle war nicht dicht genug, so dass ich  fast erfroren wäre. Ich kann nur auf einen milderen Winter hoffen. Und es ist auch ein bisschen verlockend, gelegentlich ungestraft die eigene Schnelligkeit mit der einer Katze zu messen. Das nicht vernünftige, nicht moralische, nicht gezähmte Leben hat seinen Preis. Freiheit ist nur durch die Negation zu definieren. Durch den Wegfall von Begrenzung. Freisein, ohne zu wissen wovon? Schwer vorstellbar.

 

Von hinten höre ich ein bekanntes Motorgeräusch. Ich bin mir sicher, Hannas Pick-Up zu erkennen. Sie fährt etwas hochtourig, der falsche Gang. Das heißt, sie ist aufgeregt, in Gedanken. Der vertraute Klang kommt nur langsam näher. Hanna ist nicht so schnell unterwegs wie sonst. Es kann nur bedeuten, dass sie mich sucht. Hat sie mich schon begnadigt? Oder die Strafe umgewandelt in lebenslanges Gefängnis? Nie mehr ohne Leine. Nie mehr jenseits des Zaunes unterwegs zum entspannten Schnüffeln. Leben im abgezirkelten Geviert des Hausgartens mit Coras Duft und der Katzenpisse. 

 

Was mache ich jetzt? Ich habe drei Möglichkeiten. Fair und vernünftig wäre, mich jetzt blicken zu lassen. Über die Leitplanke springen, Schnauze Richtung Hannas Auto, mit dem Schwanz wedeln. Ihr zeigen, wie sehr ich mich freue, wenn sie mir verzeiht. Hallo Halsband, hallo Leine . . .

 

Oder ich bleibe im Graben. Lege mich hin. Krieche unter einen Busch, wo ich mit meinem rötlich-brauen Fell zwischen den herbstlichen Blättern recht unscheinbar bin. Aus dem Wagen heraus kann sie mich so keinesfalls entdecken. Sie wird vorbeifahren, mich nicht sehen. Willkommen Wildnis, welcome waste . . .

 

Oder ich halte mich noch ein bisschen versteckt. Lasse Hanna herankommen. Sie fährt langsam, daher könnte sie wohl bremsen, wenn ihr etwas vor die Räder kommt. Also muss ich warten, bis sie fast neben mir ist, fast gleichauf, erst dann aus meiner Deckung kommen. Los, jetzt, sei kein Feigling, Heinz war es doch auch nicht, raus, über die Leitplanke unmittelbar vor den Kühler. Die Höchststrafe für Hanna wäre, mich zu überfahren.

Hannas Wagen nähert sich. Ich schätze, er ist nur noch 30 bis 40 Meter entfernt. Wenn ich springe, bin ich wirklich ein Monster. Bin ich so grausam, ihr das anzutun? Wäre diese theatralische Inszenierung primitive Rache oder Freiheit in letzter Konsequenz?

Mir bleibt höchstens noch eine Sekunde.

Und ich höre die Stimme von Janis und ihre Gitarre . . .