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Kerstin Nethoevel: Rennbahn 

In seinem Zimmer bedecken Stammbäume und Fotos die Wände. Duke Ellington, Prix de l’Arc de Triomphe, Longchamp, 1976, daneben ein Bild von Eclipse mit dem Spruch des Besitzers darunter: „Eclipse first, the rest nowhere.“ Oder Bel Ami mit der Gräfin Batthyany. St. Leger, Budapest, 1971. „Das war ein Finish!“, grinst er und zeigt mit dem Finger auf ein Foto von sich. „Wir zwei haben uns im Rudel versteckt. Wir waren fast am Ende des Feldes. Die Führung haben wir den anderen überlassen.“ Er macht eine Pause und blickt gespannt über die Schulter zu ihr hin. Den Finger hält er dabei immer noch auf das Foto gedrückt. Draußen quietschen Reifen. „Aber dann, dreihundert Meter vor dem Ziel, haben wir alle Plätze aufgeholt“, fährt er fort. „Zweihundert Meter vor dem Ziel waren wir in der vorderen Linie. Wir konnten am längsten warten und waren die Ersten am Zielpfosten, mit einem Vorsprung von vier, fünf Längen vor dem Feld. Die anderen haben ihre Pferde zu früh in Front gebracht. Der alte Fehler!“, ruft er. „Die haben Kräfte vergeudet, aber wir zwei, wir konnten warten. Nerven musst du haben!“

 

Sie kennt sie alle, die Geschichten. Sie kennt die Bilder, Namen und Sieger, seit sie Kind war. Sie hörte immer zu, als würde sie sie zum ersten Mal hören, und er erzählt immer, als würde er sie zum ersten Mal erzählen. Auch jetzt hört sie zu. Vor ihm liegen Kalender, Listen, Pläne und Tabellen. Er notiert, radiert, streicht aus und schreibt neue Zahlen darüber. Immer wieder korrigiert er und notiert neu. Das Geschirr vom Mittagessen hat er beiseite geschoben. Er will wissen, warum sie erst jetzt kommt. Ihre Lieblingszeit sind die frühen Morgenstunden, wenn der Nebel noch über den Weiden liegt und die Stallungen leer sind, weil auch die letzte Trainingsgruppe zur Morgenarbeit auf der Sandbahn aufgebrochen ist und die ersten Lots etwa in knapp einer Stunde wieder auf dem Hof eintreffen werden. Vierzig bis fünfzig Pferde sind es ungefähr. Junge und unerfahrene Tiere arbeiten in den Trainingsabteilungen mit älteren zusammen. Bei der Arbeit hört man nichts außer dem Hufschlag auf dem Boden, dem Quietschen der Ledersättel und dem Atem der Tiere. Hat man den Atem der anderen im Nacken, will man ihm entkommen. Immer ist es der Atem, der einen antreibt. Vielleicht ist es auch der eigene. Mit der Rückkehr der dampfenden Tiere in den Hof hat sich eine Spannung gelöst, die Konzentration ist verflogen.

 

Seine an den Ellenbogen abgewetzte Tweedjacke hängt über dem freien Stuhl. Ohne dass sie hineingreift, weiß sie, dass er in der rechten Jackentasche seine Stoppuhr hat. „Stoppuhren sind zuverlässiger als jede Lichtschranke“, sagt er oft. Er teilt den Tag noch immer in Zehntelsekunden, Hundertstelsekunden und Tausendstelsekunden ein. An der Garderobe hängen einige Trikots in den Rennfarben der Besitzer, für die er an den Start gegangen ist. Gelbe Oberteile mit schwarzen, roten oder blauen Punkten, Schachbrettmuster, Rauten und Karos in allen Farben, grüne Oberteile mit einem diagonal verlaufenden weißen Streifen auf der Brust und auf dem Rücken, der wie eine Schärpe aussieht, oder ein roter Renndress mit gelben Ärmeln. Früher hat sie zwischen den Trikots an den Garderobenstangen Versteck gespielt. Geliebt hat sie das. Nebeneinander und übereinander waren die Stangen an den Wänden befestigt und ragten von beiden Seiten in die kleine Kammer hinter seinem Büro, sodass sie nur einen schmalen Mittelgang freigaben. Wie Bonbonpapier schimmerten die Farben in diesem Raum. Es war wie ein Blick durch Gläser von Rotwein oder Grenadine. Oder wie in ein Kaleidoskop. Sie steht auf und lässt die bunten Stoffe durch die Hände gleiten. Die Farben sind längst verblichen.

 

„Butterfly“ – „Baden-Baden, 1973.“ „Marlboro“ – „Gran Premio di Milano, 1973.” „Pythagoras“ – „Champion Stakes, Newmarket, 1978.” „Don Giovanni” – „Eclipse Stakes, Surrey, 1948.“ „Secretary“ – „Goodwill Cup, 1979.” Er braucht nicht lange, um zu antworten. Die großen Namen vergisst er nicht. Früher ging das Spiel umgekehrt. „Das schwebende Pferd“, räuspert er sich, „das ist ein ganz besonderes Phänomen.“ Sie steht an die Wand gelehnt und wartet. Eine Tür schlägt zu. Besucher kommen und gehen. Draußen herrscht immer reges Treiben. Irgendwo spielt leise ein Radio. „Im Schwebezustand, da vergisst du alles um dich herum. Dann gehört sie dir, die Rennbahn, wenn das Tier alle vier Hufe gleichzeitig in der Luft hat“, schwärmt er. „In der Schwebephase berührt das Pferd die Erde nicht mehr. Dann weißt du, dass du soweit bist. Dann weißt du, dass du es schaffen kannst.“ Sein Blick geht durch sie hindurch.

 

In seinem Büro hat sie ihre Schulaufgaben gemacht, während er im Hof mit Besitzern, Züchtern und Jockeys diskutierte, Distanzen, Gewichtsklassen und Gegner abwägte, um passende Rennen auszuwählen. Er beobachtete Gegner so lange, bis er sie besser kannte als sie sich selbst. Er urteilte sicher, wenn er Favoriten gegeneinander abschätzte. Er hat ihr erklärt, in welchem Alter ein Tier auf welcher Distanz startet. Sie hat gelernt, dass eintausendsechshundert Meter auf der einen Bahn nicht genauso lang sind wie eintausendsechshundert Meter auf irgendeiner anderen Bahn und dass dasselbe für zweitausendzweihundert Meter und zweitausendvierhundert Meter gilt und auch für jede andere Distanz. Jede Strecke ist anders. Jede Bahn hat ihre Eigenheiten. Sie weiß, dass es auf die Art der Linienführung ankommt und darauf, welches Geläuf vorherrscht und ob auf den Bahnen mit Rechtskurs oder Linkskurs geritten wird. Sie weiß, dass ein Jockey zwei Längen vor dem Ziel noch alle Hände voll zu tun hat. Sie weiß, dass ein Pferd mehrere Rennen braucht, damit man es genau bewerten kann. Und dass zu alldem noch die Stallform kommt, das weiß sie auch. Wenn das schlechteste Pferd aus dem Lot in die Placierung läuft, ist ein ganzer Stall in guter Form. Eine bestimmte Art von Kommunikation scheint es zu geben zwischen den Tieren untereinander und auch zwischen Tieren und Menschen. Gefühlsregungen und leiseste Stimmungen wie Wohlbehagen oder Unbehagen und Nervosität scheinen übertragen zu werden. Irgendetwas gibt es, das sich nicht erklären lässt. Sie hat neben dem angekippten Fenster gesessen und Gespräche belauscht, die niemand hören sollte. Sie sieht ihm zu, wie er in seinen Listen radiert und mit vollen Backen die Radierflusen wegpustet. Draußen gibt jemand ungeduldig Anweisungen. Eilige Schritte sind zu hören. Seine Hand streicht über die Papiere, die vor ihm liegen. Misstrauisch schirmt er sie mit dem Körper ab, wie um sie gegen fremde Blicke zu schützen. „Komm“, sagt er, als die Schritte sich draußen entfernen und seine Schultern sich wieder entspannen. „Ich zeig dir was.“

 

„Er ist jetzt zwei“, hört sie ihn. „Wir haben ihn in Training genommen und bauen ihn langsam auf.“ Er sieht sich nach ihr um. „Ein gutes Alter, um damit anzufangen“, sagt sie schnell und tritt an seine Seite. Seine Hand hängt in der Luft, als berührte sie etwas. „Auf die Augen musst du achten. Groß müssen sie sein, groß und ausdrucksstark und dunkel mit dichten Wimpern.“ Sie weiß nicht, was er sieht. Sie sieht immer nur sich selbst im Auge des Tieres gespiegelt. Sie spürt die Wärme, die sich plötzlich zu stauen scheint. In der halb leeren Sprudelflasche beschlägt Kondenswasser den Hals des Glases. „Willst Du?“, fragt er, und sie sieht ihn an und denkt: Was denn? und kann die Frage gerade noch zurückhalten, um die Begeisterung nicht von seinem Gesicht zu verscheuchen. „Ich weiß nicht“, sagt sie zögernd und glaubt, einen Schatten von Enttäuschung um seine Mundwinkel zu erkennen. „Der wird seine Qualitäten erst im Endkampf ausspielen“, ruft er und kneift die Augen zusammen, während er den Blick fest auf sie gerichtet hält. „Du musst ihn lange zurücknehmen.“ Sie will etwas sagen und findet nicht die Worte. „Rheingold“ – „Grand Prix de Saint Cloud, 1977.“ „Monseigneur“ – „Nijinski Stakes, 1979.“ „Skatbruder“ – „Washington DC International, 1952.“ „Dr. Schiwago“ – „Epsom Derby, 1977.“ „Schlitzohr“ – „Prix Gladiateur, Deauville, 1971.“ Er lässt sich nicht ablenken. Wieder nickt er zufrieden, als hätte er irgendeine Gewissheit erlangt, als hätten seine Antworten irgendetwas bestätigt, und sieht sie herausfordernd, vielleicht auch triumphierend an. Sie zählt die Fliesen. Ihr fällt auf, dass sie sie noch nie gezählt hat. Fünf Kacheln senkrecht und neun Kacheln waagerecht. Fünfundvierzig weiße Kacheln mit Spiegel über dem Waschbecken hinter ihm, und der Wasserhahn tropft. Stimmen dringen herein. Jemand schrubbt die Stufen unter dem Fenster, klatscht den nassen Aufnehmer gegen die Hauswand. Er wendet sich ab und horcht nach draußen. Vielleicht erinnert ihn die gleichmäßige Bewegung der Bürste an das Geräusch der Reisigbesen auf den Pflastersteinen, wenn die Stallburschen den Hof fegen.

 

Auf den letzten Metern wird sie geführt. Mit hoch angewinkelten Knien hat sie in den Bügeln keine Kontrolle mehr über das Pferd. Der Trainer bringt sie vom Führring zu den Startboxen. Er muss sich mit aller Kraft gegen das Tier stemmen, sonst kann er es nicht lenken und ihm die Richtung vorgeben. Es zerrt so sehr am Arm, dass er sich fast an die Trense hängt. Aus der Ferne sieht es so aus, als schleife das Tier etwas neben sich her. Irgendwann dehnt sich die Weite vor ihnen aus. Eintausendsechshundert Meter, denkt sie. Aber wie viel Meter sind das schon, wenn man vorher nicht weiß, wie lang sie sind? Es ist jedes Mal anders und jedes Mal gleich. Auf der Innenfläche des Ovals verteilen sich Hecken, Mauern oder andere Hindernisse, die wie Spielzeuge aussehen, und ganz hinten, am Horizont, liegt der Waldrand. Sie hat die letzten Anweisungen im Ohr. „Versteck dich im Feld.“ – „Geh den Schlussbogen langsam an.“ Und das einzige, was sie denken kann, ist: Wie weit entfernt ist der, wie entsetzlich weit entfernt. Manchmal muss sie das Tempo eines Rennens selbst bestimmen. Dann sehnt sie sich danach, dass jemand ihr hilft, die Möglichkeiten der Gegner einzuschätzen, um so zu taktieren, dass sie unterwegs Kräfte vergeuden und ihre Reserven im Endkampf nicht ausspielen können. Verausgabt sie sich dabei, fällt sie zurück, und die anderen ziehen an ihr vorbei. Manchmal kann sie sich hinter die Frontpferde legen und abwarten, um erst dreihundert Meter vor dem Ziel hervorzukommen. Sind die Geraden der Rennbahn besonders kurz, muss sie sich rechtzeitig eine gute Ausgangsposition sichern. Gleich ist es soweit. Gleich wird sie in den Steigbügeln stehen. Den Sattel braucht sie nur unmittelbar vor dem Rennen und nach dem Rennen. Sonst steht sie in den Bügeln. Der Augenblick in der Startbox dehnt sich wie eine Unendlichkeit. Irgendein Tier weigert sich immer hineinzugehen. Alle müssen warten, bis die Klappe hinter dem letzten Reiter verschlossen werden kann. Ihr Herz krampft sich zusammen. Sie schaut nicht nach rechts und nicht nach links, weiß nicht, wer neben ihr steht. Niemand sucht den Blickkontakt. Die Gerade der Rennbahn liegt vor ihr. Endlich löst der Starter den Kontakt aus. Die Eisen blitzen kurz in der Sonne auf. Einen orientierungslosen Augenblick lang sieht es so aus, als stehe die Zeit still. Etwas verlangsamt sich oder wird zurückgehalten, wie durch den Auslöser einer Fotokamera an Ort und Stelle gebannt. Wer jetzt an Boden verliert, wird die ersten Meter nie mehr aufholen. Nach hundertfünfzig Metern dürfen die Pferde an die Rails herangebracht werden. Nach zwei-, dreihundert Metern schlägt ihr pure Freiheit entgegen. Und nie, wirklich nie, ist dieses Gefühl so intensiv wie im Wettkampf. Das Tempo lässt alles um sie herum verschwimmen. Sie reißt den Mund auf und verschlingt die Luft wie beim ersten Atemzug. Sie geht auf im Tempo und will es steigern, die Geschwindigkeit auskosten. Sie folgt den Bewegungen. Das gleichmäßige Trommeln der Hufe gibt einen Rhythmus vor, den sie finden muss. Den Schmerz in den Beinen spürt sie nicht. Alle jagen hinter etwas her, das stets eine Handbreit unerreicht bleibt. Alle gemeinsam und jeder für sich. Jeder taktiert anders, um den Rhythmus zu finden. Sie wundert sich jedes Mal, wie präzise sie in diesem Augenblick analysieren kann. Sie beugt sich weiter nach vorn, sitzt fast auf dem Hals des Tieres. Sie will den Takt verstehen. Sie will mit den Ohren an den Hufen horchen. Erdklumpen fliegen durch die Luft und streifen ihr Gesicht, was sie wie eine Begrüßung empfindet oder wie ein Wiedersehen mit einem alten Freund, den man aus den Augen verloren hat. Sie will sie fliegen sehen, die Hufe, und lehnt sich noch weiter vor. Sie fühlt den Rhythmus, von dem sie nicht mehr weiß, ob es ihrer oder der des Tieres ist, weil sie eins geworden sind. Sie müssen ihre Position sichern, die sie für den Endkampf brauchen. An dritter, vierter Stelle läge sie günstig. Nur wenn sie eine Einheit bilden, haben sie eine Chance, wenn der Kampf um die Plätze beginnt. Sie wartet auf eine Lücke und nimmt das Tier in jedes Loch hinein, sobald einer zurückfällt. Alles ist möglich. Sie spürt die Hufe nicht mehr, weil sie den Boden nicht mehr zu berühren scheinen. Und dann wird das dumpfe Trommeln zu einem Rauschen in den Ohren, das ihren Körper überschwemmt, bis sie es irgendwann nicht mehr zu hören scheint.

Sie würde ihm gern mehr davon erzählen. Aber nicht heute. Er ist wieder eingenickt. Sie zieht die Decke über seine Beine und schiebt den Rollstuhl ans Fenster, bevor sie leise das Zimmer verlässt.