Home       Locations       Events       Unternehmen       Lesungen       Kontakt       Impressum       English      

Ruth Kornberger: Automatentiere 

Eine SMS von Linda, sie hat beschlossen, vor der Kälte in die Provence zu fliehen. Ob ich eine gute Freundin sein und mitkommen will?
Meine
Antwort ist vorgespeichert:Leider habe ich keine Zeit.

Ich
muss vor Kaugummiautomaten lauern. Den Dienstplan von Heinz, der sie befüllt, kenne ich wahrscheinlich besser als er selbst, und das ist ein Witz, wenn man bedenkt, dass ich nie eine geregelte Arbeit hatte.

Heute ist der erste Mittwoch des Monats, und ich sitze an meinen Fensterplatz imEckstübchen, einer ranzigen Vierundzwanzigstundenkneipe, den Automaten an der gegenüberliegenden Hauswand immer im Blick. Rechts kann man Kaugummi ziehen, links Kapseln mit Spielzeug darin, aber diese Kammer ist leer. Gleich wird Heinz mit neuer Ware kommen. Eine Kapsel kostet 50 Cent. Der halbe Euro ist auch gut, um die Augen von Stofftieren zu bedecken, wenn einen nachts die Paranoia packt. Früher drehte ich meine Sammelteddys zur Wand, heute bemünze ich sie wie tote ägyptische Könige, denn 50-Cent-Stücke belegen jede freie Fläche in meinem Zimmer, stecken anstelle von herausgebröckelter Fugenmasse zwischen den Badezimmerkacheln und verbeulen die Taschen meiner sämtlichen Kleidungsstücke. Meine Finger kennen ihren Umfang, und während ich hier warte, ziehe ich ohne hinzusehen aus ihnen einen doppelten Schutzwall um meine Kaffeetasse herum.
Ein
neuer Gast kommt herein, Anfang Zwanzig, schmaler Schnäuzer. Der muss sich verirrt haben. Er möchte einen Schein klein machen. Angela sagt, sie sei keine Wechselstube, wenn er Zigaretten will, muss er bei ihr welche kaufen. Er möchte keine Zigaretten und sieht sich suchend um. Mit dem Unterarm fege ich die Münzen in den Schoß meines Pullovers und schüttele bedauernd den Kopf.
In
den Cafés, die ich früher mit Linda besuchte, bezahlte man per Handy. Auf den Tischen standen Laptops, die  der einzig sichtbare Hinweis auf die Arbeit waren, die dort verrichtet wurde. Linda und ich gehörten zur digitalen Bohème, wir verdienten Geld über das Internet, entwarfen Websites für Kunden, die wir nicht zu Gesicht bekamen, formulierten Texte, deren Inhalt wir sofort wieder vergaßen, und managten virtuelle Shops, deren Produkte nie durch unsere Hände gingen. Zwar hielt die ständig nachdrängende globale Jugend den effektiven Stundenlohn auf Ferienjobniveau, aber das nahmen wir in Kauf. Wir wollten lieber frei bleiben, als reich
werden.
Die
Ausschreibung vonMini Toys Unitedlasen wir letzten Herbst. Gesucht waren Entwürfe für Spielzeuge,höchstens 2 mal 1,5 Zentimeter groß
.
Linda
wickelte eine Serviette um ihren Finger, ich sagte:Eine Origami-Schnecke!

Wir
mailten einen Faltplan hin, und am nächsten Tag wollte Mini Toys United unsere Daten und eine Bankverbindung. Sie zahlten 40 Dollar pro Idee, ein Spitzen-Entgelt, wenn man bedenkt, wie wenig Zeit wir investierten. Unsere Spezialität wurden profitable Serien, wie die zwölf daumengroßen Minigolfbahnen, über die man mit einem halben Zahnstocher winzige Bälle stuppste. Mini Toys United nahm alles, die einzige Voraussetzung war, das betonte unser Kontakt Tony gleich zu Anfang:It has to be original.
Das
Spielzeug wurde in Automaten verkauft, soviel wussten wir, und mehr interessierte uns nicht. Welche Kinder ihr Taschengeld für die oft absonderlichen Produkte ausgaben, darüber machten wir uns keine Gedanken.
In
den ersten Wochen sprudelte unsere Fantasie, und mit ihr die Honorare. Nach zwei Monaten mussten wir uns die Ideen zunehmend aus den Fingern saugen. Dummerweise war gerade Januar, die Zeit der nachweihnachtlichen Technikschnäppchen, und deshalb waren wir sofort dabei, als Mini Toys United, nach Fotos von uns fragte, für dieHall of Fame, selbstverständlich gegen Honorar. Lasen wir das Kleingedruckte? Natürlich
nicht.
Kurz
vor Ostern landeten zwei Luftpolsterumschläge im Briefkasten unserer WG. Linda öffnete ihren zuerst. Er enthielt eine Kapsel. Es war das erste Mal, dass wir Muster der Spielzeuge bekamen. Die Kapsel war widerspenstig, Linda teilte sie mit den Zähnen. Dabei muss sie auf den Inhalt gebissen haben.

Bäh!Sie spuckte etwas auf den Boden.
Ich
hielt das Tier zunächst für einen Igel. Es war aus gelbem Silikon, bestand hauptsächlich aus Stacheln, so dick wie die Mienen von Druckbleistiften, und besaß nur ein Bein, das in einem Saugnapf endete. Linda hob es mit spitzen Fingern auf. (Das ist die einzige Art, wie man die Tiere anfassen sollte. Sie scheinen immer Körpertemperatur zu haben, und wenn man eine Faust um sie macht, schmiegen sich die Stacheln in die Hautfalten. Man kann sie nicht quetschen, ohne das ekelhafte Gefühl, sich selbst zu verletzen.)
Linda
und ich standen uns gegenüber, als sie das Tier betrachtete. Spielerisch tippte sie die Stacheln an und durchfurchte sie mit der Spitze ihres Zeigefingers, wie um einen Scheitel zu ziehen. Plötzlich fror ihre Bewegung ein. Ihre Pupillen wurden groß und dann ganz klein. Sie ließ das Tier fallen und wich zurück.Das bin ja ich!

Angesteckt
von ihrem Schrecken, blieb auch ich starr stehen. Wir verharrten wie Passanten vor einem Unfall, bei dem jede Hilfe zu spät kommt.
Die
Sonne kletterte über die Häuserreihen und warf einen Lichtstreifen in unsere Küche. Ich blinzelte. Es war mitten am Tag, und wir fürchteten uns vor einem leblosen Ding? Ich setzte das Tier auf meine Handfläche. Zwischen den Stacheln erkannte ich einen Ameisenköper. Der Kopf war vorn abgeflacht und verfügte über Lippen, Nase und eine Augenpartie, die bis auf den Schwung der Brauen Lindas nachempfunden waren. Das Material war verblüffend fein modelliert. Maschinen hatten es geformt, absichtslose Technik.

Dieser
Gedanke beruhigte mich, und ich brachte ein Lachen zustande, das nur in den Spitzen etwas hysterisch klang.Was für ein Blödsinn. Lass uns einkaufen gehen.
Das
Tier ließ ich auf die Fensterbank fallen. Man kann sie würfeln, die Stacheln halten sie nach dem Ausrollen in verschiedenen Positionen. Linda bewegte sich keinen Millimeter.
Schau genauer hin, ich legte Linda meine freie Hand auf die Schulter.Es ähnelt dir zwar, aber exakt wiedergegeben bist du nicht.

Das
stimmte. Die Wangenknochen der menschlichen Linda stachen weniger hervor. Wir hatten Mini Toys United unsere Abitur-Fotos geschickt, und seit den Aufnahmen waren Jahre vergangen, in denen Linda zugenommen hatte.
Willst du deinen nicht aufmachen?Linda deutete zum Tisch, auf dem der an mich adressierte Umschlag lag. Tatsächlich hatte ich den ganz vergessen.
Das
Gesicht meines Tieres glich mir mehr, als jede andere Abbildung, die je von mir gemacht wurde. Ich bin nicht fotogen, und Spiegel mag ich auch nicht, die einzigen Momente des Tages, an denen ich vor einem stehe, sind die beim Zähneputzen, morgens, mit schlafzerknitterter Haut, und abends mit schweren Lidern, noch nicht oder nicht mehr ich selbst. Das Tier aber, hatte meine Züge, wie ich sie vor meinem inneren Auge sehe. Dabei schmeichelte es mir, jedoch nicht auf plumpe Straßenmalerart (Augen größer, Nase kleiner), sondern auf genau die Weise, die mir vorgeschwebt wäre, hätte ich es in Auftrag gegeben. Da war etwas Souveränes in meinem Ausdruck, und ich erkannte die Andeutung der Grübchen, die ich irgendwann in der Pubertät verloren hatte. Immer wieder habe ich mir gesagt, dass ich bloß durch Zufall so gut getroffen wurde. Die Software, die die zweidimensionalen Fotodaten in dreidimensionale umrechnet, kann sich der Wirklichkeit nur annähern. Ihre Programmierer haben Algorithmen verwendet, vielleicht auch Tabellen mit Durchschnittswerten. Bei manchen kommen sie damit hin, bei manchen nicht. Solche Überlegungen trösten einen jedoch wenig, wenn man sich selbst auf seiner Hand sieht, gemorpht in eine
Igelameise.
Das ist ein schlechter Witz.

Ich
steckte das Tier zurück in seine Kapsel. Darin hatte es kaum Platz, seine Größe war exakt ihrer Ei-Form angepasst. Beklemmung legte sich auf meine Brust, und ich holte es wieder heraus. Ich war es gewohnt, Projekte in die Welt zu werfen, von denen ich nichts mehr hörte. Aber diesmal hatte ich buchstäblich mein Köpfchen verkauft.

Linda ging allein einkaufen. Als sie zurückkam, hatte ich Tony gemailt und wartete auf Antwort . Vielleicht lebte er in Amerika und war noch nicht wach, oder er arbeitete von China aus und schlief schon. Vielleicht warTonynur ein Pseudonym, das er gewählt hatte, weil es sich schnell hinschrieb. Was wusste ich schon?
Am
nächsten Morgen um kurz nach sechs meldete mein Computer eine neue Nachricht. Tony schrieb, ich könne mein Einverständnis zur Verwendung des Fotos leider nicht widerrufen. Meine Tiere hätten die Fabrik bereits verlassen. Er listete Kunden auf, darunter eine Firma, die Automaten in Deutschland
befüllte.
Bei
der Firma kam ich nicht weiter. Sie bestellten die Spielzeugkapseln in 10.000er-Chargen und wollten mir nicht erlauben, ihr Lager zu durchforsten und ihnen einzelne Exemplare abzukaufen. In meiner Verzweiflung bot ich dem Mann am Telefon eine Summe, über die er sich köstlich amüsierte. Bestechungen nähme er nicht an, weil die Firma erstens seinem Vater gehöre und sie das zweitens nicht nötig hätten. Die Geschäfte gingen
glänzend.
Nach
dem Telefonat wollte Linda ein ernstes Gespräch mit mir
führen.
Linda:
Ich mache mir Sorgen um dich.

Ich:
Kann ich klagen?
Linda:
Wir haben die Fotos selbst hingeschickt. Außerdem hast du dasselbe Bild in Facebook.
Ich:
Aber das Tier ist 3D. Wenn man seine Wangen zusammendrückt, macht es einen Schmollmund. Die Leute könnten mich gegen die Wand werfen oder im Klo herunterspülen. Es ist schlimmer als jede Voodoo-Puppe!
Linda:
Du bist seit sechsunddreißig Stunden wach. Geh endlich schlafen.
Ich:
Was sind das für Kinder, die mit so etwas spielen?
Linda:
Versteck dich bei einem Automaten und sieh selbstHey, das war ein Witz. Leg dich hin!
Aber
ich zog schon meine Jacke an. Nach einer Odyssee durch mehrere Stadtteile fand ich den Automaten beim Eckstübchen. Drinnen, bei Angela, schlief ich über dem vierten Bier ein. Angela weckte mich routiniert. Vor Müdigkeit frierend tappte ich auf die Straße. Drei Stunden gewartet, und kein Kind hatte etwas gezogen. Aber die Firma würde den Automaten doch nicht befüllen, wenn nicht hin und wieder jemand Geld einwarf. IrgendjemandIch entdeckte eins meiner Tiere im oberen Drittel der Kammer. Manche Kunststoffe verrotten nicht. Die Vorstellung, mein Tier könne Jahrhunderte in seiner Kapsel überdauern, gefangen, weil es niemand haben wollte, war noch grauenhafter, als alle Misshandlungen, die ich mir ausgemalt hatte.
Ich
verbrachte eine Nacht voll Albträume. Am nächsten Morgen besorgte ich in der Bank eine 50-Cent-Rolle und löste mein Tier aus, zusammen mit zwei Linda-Tieren und etlichen mit fremden Gesichtern. Mini-Spielzeuge anderer Art waren nicht im Automaten.

Linda
verstand mich nicht.Von denen existieren Tausende. Was bringt es dir, wenn du ein paar zurückkaufst?
Ich
schlafe wieder, das bringt es mir. Der Gedanke, eins von ihnen könne ganz in meiner Nähe in seinem Automatenkäfig versauern, ist der Schlimmste. Und seit ich Heinz getroffen habe, weiß ich, wo ich wann zu sein habe. Überhaupt glaube ich nicht mehr, dass die Tiere über die ganze Welt verteilt sind. Außer dem deutschen Unternehmen findet Google keinen von Tonys angeblichen Kunden. Ich vermute, dieHall of Fame-Tiere werden nur in Berlin verkauft, und Tony sitzt in einem nicht allzu fernen Café und fängt mit seiner Ausschreibung Kreative in dieser Stadt. Nach einer Weile macht er ihnen das Foto-Angebot, lässt die Tiere irgendwo billig produzieren und versendet die Muster. Einem Teil der Empfänger wird bei ihrem Anblick unbehaglich, sie rennen los, werfen ihr Geld in die Automaten, und die Befüllerfirma ordert bei Tony nach.
Meine
Ersparnisse reichen nicht mehr lange. Ich kann nur hoffen, dass bald neue Tiere meines ablösen. Oder, dass ein neuer Befreier kommt. Wo ist sie jetzt, die ständig nachdrängende
Jugend?
Ich
sehe auf. Schnäuzer hat mit seinem Schein50 Euro - erfolglos die Runde gemacht und steuert die Tür an. Er trägt ein Leinenhemd, in dessen Tasche sich etwas abzeichnet. Vielleicht hat er sich gar nicht
verirrt.
Warte!Ich deute auf seine Hemdtasche.Darf ich es anschauen?

Er
zieht eine Miene, als habe ich ihn gebeten, die Hose herunterzulassen. Um sein Vertrauen zu gewinnen, ziehe ich eins meiner Tiere aus der Tasche. Zögerlich hält er mir eins von seinen hin. Es ist rot. Unter der Nase prangt ein Schnäuzer.
Heinz kommt gleich. Der Automat ist der Letzte vor seiner Mittagspause.Ich schütte die Münzen auf den Tisch und stehe auf.Das sind mehr als du brauchst.
Schnäuzer
nickt und reicht mir den Schein. Meine Finger umschließen das Papier. Ich renne zur Tür.
Angela
lacht.Da hat sich einer übers Ohr hauen lassen.
Aber
sie irrt, Schnäuzer macht sogar Plus. Es ist nur so, dass manche Automaten blockieren, wenn man nach Einwerfen des Geldes nicht gleich am Rad dreht, und darum verschwinde ich ohne Abschiedsgruß, ziehe den Vorhang zur Seite, stolpere durch den Flur, stürze die Treppen hinunter, pralle gegen die Tür, drücke die Klinke und falle ans Licht.