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Beate Winter: Spaghetti dürfen nicht kleben 

Spaghetti dürfen nicht kleben. Spaghetti müssen auf den Punkt genau gekocht sein. Sonst schmecken sie nicht und landen in der Kloschüssel. Günstigenfalls. Oder an den Fliesen. Also muss ich eben aufpassen.

 

Das Schwierigste daran ist die Soße dazu. Meine Freundin wirft alle Zutaten wie Sahne, Knoblauch, Petersilie einfach in einen Topf und rührt dreimal um. Fertig. Ich dagegen wäge sorgfältig ab, kein Gramm darf zuviel sein oder zu wenig. Alles muss zuverlässig und genau sein. Das liebt er, wenn alles zuverlässig und genau ist. Eigentlich ist die Freundin eher eine Bekannte als eine Freundin. Was brauchst du eine Freundin, sagt er. Sei nicht dumm, du hast ja mich, sagt er.

Man darf nicht dumm sein. Ich versuche so wenig dumm wie möglich zu sein.

 

Meine Hände zittern. Ich rühre die Spaghetti, es wäre fatal sie aus den Augen zu lassen. Neulich habe ich das Chili zwei Minuten aus den Augen gelassen. Zwei Minuten. Einhundertzwanzig Sekunden, die einen Tag verändern können. Oder ein Leben. Einhundertzwanzig Sekunden. Währenddessen kann man viel tun. Zum Klo gehen beispielsweise. Aber nur für Klein, für das große Geschäft reicht es nicht. Oder sich die Haare kämmen. Er liebt es, wenn ich schön für ihn bin. In der Zeitung nach Sonderangeboten schauen, das geht nicht, das dauert zu lange. Chili setzt an, wenn man es Einhundertzwanzig Sekunden aus den Augen lässt.

 

Die Waage. Ich befürchte schon längst, sie funktioniert nicht mehr genau. Drei-Komma-Acht Gramm Knoblauch. Auf keinen Fall mehr. Wenn ich mehr als dreikommaacht Gramm Knoblauch nehme, stinkt er, sagt er. Ich will doch nicht, dass er stinkt, sagt er. Ich wollte wissen, ob der Knoblauch gewogen wird, wenn er noch im Stück ist, oder wenn ich ihn bereits gequetscht habe. Dumm, sagte er. Du bist dümmer als alles, was ich jemals erlebt habe, sagte er.

 

Nicht dumm sein. Ich gebe mir Mühe, doch es hilft nichts. Wobei Dummheit proportional gegenläufig zur Meinung seiner Betrachter steht. Sei nicht dumm und pass auf, sagte mein Vater, wenn ich in der Schule schlechte Noten schrieb. Mach keine Dummheiten und pass auf, sagte meine Mutter, wenn ich ausgehen wollte. Ich halte Dummheit für eine selbstverschuldete Angelegenheit.

 

Wie neulich. Als ich das Chili kochte. Und der Schuh im Topf landete. Einhundertzwanzig Sekunden. Oder war es das Buch? Ständig nimmt er andere Gegenstände. Bald kann ich mich nicht mehr daran erinnern, welche er wann benutzt. Nein, es war das Buch, ich entsinne mich. Die Fontäne aus roter Soße landete überall. Auf dem Herd, an den weißen Kacheln, über der Arbeitsfläche, auf dem hellen Holzboden. Auf meiner neuen, teuren, rosa Bluse. Die mit dem kleinen Ausschnitt. In der ich so sexy aussehe. Sagt er.

Kannst du nicht zur Seite gehen? Deine Bluse ist versaut, sagte er. Ich gehe den ganzen Tag arbeiten und du kannst nicht aufpassen. Ständig ruinierst du alles. So viel Blödheit hätte er noch nie gesehen, sagte er.

Der Rückendeckel des Buches ragte aus der roten Soße. …ntane Effi Bri… konnte man noch erkennen. Ich hätte es gern zu Ende gelesen. Lesen bildet, sagt er. Doch das gilt nicht für mich. So etwas Dummes wie mich gibt es auf der ganzen Welt nicht mehr, sagt er. Ich lese wohl nicht genug. Und sehr langsam. Daran mag es wohl liegen. Wäre ich schneller im Lesen, hätte ich dieses Buch schon durchgelesen, dann wäre es egal, wenn es in der Soße landet. Ich muss schneller werden im Lesen und alles begreifen, dann würde ich auch klüger sein; und keine Fehler mehr machen. Doch dann schaffe ich meine Arbeit nicht. Dann sind die Fenster nicht geputzt und der Boden nicht gesaugt. Das wäre dumm.

 

Den Begriff Dummheit habe ich neulich einmal im Wörterbuch nachgeschlagen. Es bezeichnet einen Mangel an Intelligenz und sei der Gegensatz zur Weisheit, als das Unvermögen, aus Wahrgenommenem die richtigen Schlüsse zu ziehen. Richtige Schlüsse ziehen. Ich ziehe Schlüsse und rühre meine Spaghetti um. Es wäre dumm, sie verkochen zu lassen.

 

Benimm dich doch einmal wie ein zivilisierter Mensch, sagt er. Auch dieses Wort stand im Wörterbuch. Das lag noch nicht in der Soße. Weil ich es unter meiner Unterwäsche versteckt habe. Es sei die Fähigkeit die Folgen der eigenen Handlung zu erkennen, die Vorgänge innerhalb anderer Menschen zu verstehen und Rückschlüsse daraus zu ziehen. Das habe ich verstanden. Für mich. Für mich gelten diese Schlüsse. Vorwärts, nicht zurück. Da stand noch mehr, aber das habe ich nicht begriffen.

 

Anschließend tut es ihm Leid. Meistens. Dann weint er. Ich kann es nicht ertragen, wenn er weint. Seine braunen Augen haben dann diesen quälenden Schimmer. Verzweifelt schaut er dann. Ja, verzweifelt und quälend. Er sieht dann so lieb aus, dass ich ihn streicheln muss. Er liebt es, wenn ich ihn streichle. Du hast doch nur mich, sagt er dann. Das stimmt, ich habe nur ihn.

 

Die Schublade stand ein Stück weit offen, als ich das Chili kochte. Das weiß ich noch. Daran kann ich mich erinnern, dass diese Schublade offen stand. Die Messer bewahre ich darin auf. Scharfe Messer. Sehr scharfe Messer.

 

Ich stelle mir vor, wie ich eines dieser Messer aus der Schublade nehme und mir an den Arm setze. Oder an den Hals. Je nachdem. Ein kurzer, scharfer Schnitt. Ob es das gleiche Gefühl ist, wie wenn er mir seine Hände um den Hals legt? Ich bin so dumm, dass ich noch nicht einmal diese Winzigkeit weiß. Ich weiß nur, dass ich zwei Minuten und sieben Sekunden die Luft anhalten kann. Das habe ich mitgezählt. Heimlich übe ich, ich bin sicher, dass ich auf drei Minuten kommen kann.

 

Das Messer. Es blitzt kurz auf, wenn man es in die Sonne hält. Und schimmert so silbern. Wie die Kette, die er mir zum Geburtstag geschenkt hat. Kleine silberne Blitze. Sie blenden mich für einen winzig kleinen Moment. Dann kann ich nichts sehen. Nicht die Spaghetti im Topf und nicht das Chili. Vor allem nicht das Messer. Wenn ich die Kette an diesem Tag nicht getragen hätte, würde ich heute keinen roten Striemen am Hals haben. Wie dumm kann man sein, sagte er. Da hast du selbst Schuld, sagte er.

Man kann mit diesem Messer perfekt den Fisch von den Gräten befreien. Filettieren nennt man das, glaube ich. Und den Braten in kleine Stücke schneiden um Gulasch daraus zu machen. Mein Gulasch ist das beste Gulasch überhaupt, sagt er. Dazu nehme ich dieses Messer.

 

Wenn das Chili nicht ständig gerührt wird, dann spritzt es. Überallhin. Die Spritzer der roten Soße verteilen sich auf den Kacheln, tanzten an den Fliesen und verschwimmen vor meinen Augen.

 

Meine Bluse ist ruiniert. Er kauft mir bestimmt keine neue. Das kostet zu viel Geld. Den ganzen Tag bin ich allein hier. Weil er viel arbeiten muss, um mir neue Blusen zu kaufen, sagt er. Ich bin selbst Schuld. Dumm.

Ich fahre mit den Fingern über die roten Spritzer auf den Fliesen. Kleine Herzchen. Allerliebst. Sie dürfen nur nicht in die Fugen gelangen. Aus den Fugen gehen sie nicht mehr heraus. Dann schrubbe ich wieder zu lange und schaffe es nicht mehr die Fenster zu putzen und seine Hemden zu bügeln. Er sieht immer so schick aus in seinen weißen Hemden. Dann bin ich so stolz, wenn er mit seinen Freunden unterwegs ist. Keine einzige Falte ist in seinen Hemden.

Sind die Spaghetti schon fertig? Ich darf es nicht verpassen sie heraus zu nehmen.

 

Die Soße tropft auf den hellen Holzfußboden. Ich schaue zu, wie sie sich in ein Muster verwandelt. Wie bekomme ich das Holz wieder sauber? Rote Soße wird fast schwarz, wenn sie nur lange genug auf dem hellen Holzfußboden verbringt. Und größer. Rundherum verkrustet der Rand. Ich kratze mit dem Finger daran herum. Meine Mutter könnte mir helfen. Sie wüsste, wie man einen hellen Holzboden wieder sauber bekommt. Und meine Bluse. Ich darf die Spaghetti nicht vergessen.

Doch meine Mutter wohnt weit weg. Sie kann mir nicht helfen. Er wird wütend werden, wenn er die Soße auf dem Boden sieht.

Warum werden meine Beine kalt? Ich friere. Eiskalte Füße. Die Kälte zieht die Waden hoch. Ich spüre die Kälte in den Oberschenkeln, aber meine Füße nicht mehr. Bestimmt sind meine Füße noch da, obwohl ich sie nicht mehr sehen kann.

Wenn ich mit diesen kalten Füßen zu ihm unter die Bettdecke krabble, schubst er mich bestimmt wieder weg. Dann drehe ich mich immer um und tue so, als ob ich schlafe. Ich bemühe mich dann, nicht zu weinen.

Wenn ich meinen Kopf hebe, kann ich bestimmt meine Füße sehen. Mein Kopf ist so schwer. Etwas Schweres liegt auf meinem Kopf. Ganz bestimmt.

 

Meine Mutter wüsste einen Rat. Sie kann mir nicht helfen, sie ist weit fort. Sie würde sagen: Liebes Kind, deine Soßenflecken musst du allein vom Boden waschen. Und deine Bluse auch.

Soll ich Zahnpasta für die Fugen nehmen? So dumm bin ich, dass ich nicht mehr weiß, ob meine Mutter gesagt hat, ich soll Zahnpasta für die hellen Fugen nehmen. Oder war es Soda?

Sahne. Habe ich genug Sahne in der Soße? Wenn nicht genug Sahne an der Soße ist schmeckt sie bestimmt nicht. Dann wird das Klo mit Sahnesoße gefüttert.

 

Mein Kopf. Was ist mit meinem Kopf. Ich kann nicht mehr denken. Als ob alle meine Gedanken mit der roten Soße auf den hellen Holzfußboden getropft sind. Ich wische mit den Fingern in dem Fleck herum. Es sieht aus wie ein Schwein. Male vier Beine und zwei Ohren dran. Es ist ein Schwein. Ganz bestimmt.

Mit meinem Soßenschwein bin ich ganz allein hier. Ich lege meinen Kopf zu meinem Soßenschwein und betrachte es von der Seite. Es scheint zu leben. Und füllt sich mit noch mehr Soße. Halt. Man sieht gar nichts mehr von den Ohren, das muss ich ändern.

 

Die Spaghetti sind bestimmt fertig. Ich muss sie abgießen, damit sie nicht kleben. Meine Beine kleben am Boden fest. Die Schweinesoße klebt meine Beine am Boden fest.

Ich gebe meinem Schwein eine Soßenfamilie. Vier kleine Ferkelchen. Drollig. Putzig, wie sie so hin- und herlaufen in ihrer Soße. Keinen Vater. Ich habe keinen passenden Fleck für einen Vater. Was mache ich, wenn der Vater nicht lieb zu den kleinen Ferkelchen ist? Dann kann ich nichts mehr ändern. Dann ist er da und lässt sich nicht mehr wegwischen. Wenn man das feuchte Innere innerhalb der verkrusteten schwarzen Ränder sorgfältig genug wegkratzt, dann sehen die Schweine fast rosa aus. Wie meine Bluse einmal. Wenn ich den Kopf etwas neige kann ich zusehen, wie immer mehr Soßenflecken auf meiner Bluse entstehen. Schade, ich kann auf meiner Bluse keine Schweine malen. Die Soße läuft mir die Arme entlang. Da kann man die blauen Flecken kaum noch erkennen. Es tut ihm Leid, sagte er. Er könne nichts dafür, sagte er. Ich kann doch keine weinenden Männer mit braunen Augen ertragen.

Das Blau passt gut zur Soße. Ich könnte mir den Topf mit der roten Soße zu mir herunter holen und noch weitere Bilder malen. Hier auf dem Boden. Als Kind habe ich auch immer auf dem Boden gemalt. Mit einem Blatt Papier zwischen mir und dem Boden. Ich habe kein Papier. Er kommt bestimmt bald nach Hause. Bestimmt gibt er mir ein Blatt Papier, damit ich malen kann.

Bestimmt habe ich die Schweinesoße zu mir auf den Boden geschüttet. Alles um mich herum ist rot. Mein Kopf fühlt sich plötzlich so leicht an. Als ob nichts mehr in ihm vorhanden ist. Wie Watte fühlt sich das an. Wie weiche, warme Watte. Rote weiche, warme Watte. Es schimmert. Vor mir schimmert ein Rest von Watte. Ich pule darin herum, zupfe in der Watte, bis sie ganz groß ist. Weich und warm fühlt sie sich an. Bestimmt dringt sie mir aus dem Kopf. Sieht aus wie ein Mann. Stark. Wie ein starker, kräftiger Mann. Er liegt da. Sein Penis zwischen seinen Beinen. Groß und kräftig. Ein großer, kräftiger, starker Mann.

Ich habe die Ringelschwänzchen der Schweinchen vergessen. Ringelschwänzchen in roter Soße.

 

Warm. Mir wird warm. Warum wird mir warm? Meine Beine waren eben noch eisig kalt. Nun sind sie fort. Bestimmt sind sie allein fortgelaufen, ohne mich. Ich kann sie nicht mehr spüren. Ich stelle mir vor, wie meine Beine ohne mich die Treppe hinunterlaufen. Vielleicht steht die Haustür unten offen, dann könnten sie spazieren gehen. Im Grünen. Die Sonne würde sie wärmen, dann wären sie nicht mehr so kalt. Er liebt meine Beine, sagt er. Ich habe so schöne Beine. Die darf ich aber nur zeigen, wenn er dabei ist. Dann ist er stolz. Auf meine Beine, sagt er. Wenn andere Männer gucken, dann bekommt er immer diesen stolzen Ausdruck in seinen braunen Augen. Wenn ich allein spazieren gehe, kann er es nicht ertragen, wenn andere Männer gucken, sagt er.

 

Ganz leicht fühle ich mich. Ich fühle den Sex mit ihm in mir, in meinem Körper, zwischen meinen Beinen. Ein schönes Gefühl. Es soll nicht aufhören. Beim Sex mit ihm kann ich alles vergessen. Keine blauen Flecken, kein Luftanhalten, kein Chili, keine Spaghetti. Keine Schweine mit roter Soße.

 

Ich fühle mich auf einmal so frei. Ganz leicht, als ob ich schwebe. Fühlt sich so die Freiheit an? Ich schwebe bis zur Decke, ganz allein bin ich hier oben. Ich möchte mit meinen Armen schwingen, wie ein Vogel mit seinen Flügeln, doch meine Arme bewegen sich nicht ein Stück. Ich schaue von hier oben zu, wie ich an der Watte aus meinem Kopf herum zupfe.

 

Watte. Da war ein Geräusch. Bestimmt war da ein Geräusch. Wenn nur diese verdammte Watte nicht wäre. Durch die Watte kann ich nichts hören. Ich versuche meinen Kopf von meiner Schweinefamilie zu lösen. Sie halten mich fest. Halten mich mit ihren Ringelschwänzen fest am Boden gefesselt. Halten mir mit ihren Soßenbeinen die Ohren zu. Stecken mir ihre Schweinesoßenohren in den Mund. Versuche zu schreien. Mit Schweinesoßenohren im Mund kann man nicht schreien. Eine Sirene. Die Soßenschweinebeine stecken zu tief in meinen Ohren. Kann nicht hören. Sehe ein weißes Hemd. Durch bodenschweinerote Soße sieht man nicht gut. Keine Soßenflecken auf dem weißen Hemd. Darauf achtet er. Man muss immer darauf achten, gut auszusehen, sagt er.

Er kommt zu mir. Bestimmt kommt er zu mir. Den hellen Holzfußboden muss ich sauber wischen. Die Sahnesoße schmeckt bestimmt nicht. Ich habe vergessen den Knoblauch dazu zu geben. Spaghetti dürfen nicht kleben…