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Claudia Kollschen: Früher habe ich Möwen gemocht 

Ich stehe am Fähranleger, die Tasche gepackt. Allein stehe ich dort, weil ich es so wollte. Ein paar Meter entfernt ein älteres Ehepaar, Skandinavier, ich verstehe kein Wort von dem, was sie sagen, aber das macht nichts, es ist nicht für mich bestimmt. Mit dem Rücken zu ihnen ein junger Mann, vielleicht achtzehn, mit Musik in den Ohren und ganz und gar für sich. Ich kann nicht hören, was ihn so vereinnahmt, aber ich mag es, wenn Menschen abtauchen können.

Ich konnte es auch, jetzt nur noch in die Untiefen meiner Gedanken, die mich im Kreis drehen, hinein in eine Spirale des Nicht-mehr-weiter-Könnens. Zu viel Angst, zu viel Ausgeliefertsein. Deshalb muss ich weg. Will ich weg. Das Gefühl des Erstickens von mir nehmen.

 

Langsam schiebt sich die Fähre in den Hafen, hoch wie ein Haus und weiß wie der Sitz des Präsidenten von Amerika. Ich starre hinauf. In meinem Magen flattern die Nerven, vor meinen Augen tanzen Sterne, dabei ist es noch hell.

Autos, Menschen, Gepäck setzen sich in Bewegung, kaum ist das Schiff vertäut. Wie ferngesteuert. Alles geht jetzt schnell, ich schwimme mit. Keine Gelegenheit mehr, darüber nachzudenken, ob das Vorhaben nicht irrsinnig ist und ich den letzten Halt kappe. Alles ohne Plan B. Ich habe nie einen gehabt.

Als Letzte in der kurzen Reihe der Passagiere setze ich meinen Fuß auf die Gangway, aber ich stolpere und gerate ins Stocken.

Es ist die Rolltasche, die sich verhakt hat. Wer baut einen Gully an diese Stelle? Ich ziehe und zerre. Ich lasse mich von einem Stück Eisen (-- oder ist es Stahl?) nicht abhalten, nicht nach der Zugfahrt und drei Meter vor dem Schiff.

Wut setzt die Tasche in Bewegung. Schritt für Schritt zwinge ich sie mit mir hinüber, meine Durchhalteparole „Ich will, ich kann, ich will, ich kann" hat mich bis hierher gebracht und sie bringt mich auch noch weiter.

Der Wind zerrt an meinen Haaren, ich ducke mich, überquere das Deck. Ich bin erschöpft. Schon jetzt. Die Tasche rollt brav hinter mir her, ich sehe mich nicht um. Links das Restaurant, rechts einige Plastiksitze in Reihen. Weiter hinten führt der Gang zu den wenigen Kabinen. Es stinkt nach Diesel.

Dröhnend kommt der Schiffsmotor in Gang, jedes Teil an Bord erzittert und dann spüre ich im Magen ein leichtes Rollen – das Schiff wendet. Ich lasse die Tasche fallen und haste zurück an Deck.

Wir fahren und der Hafen, Heimat, alles Bekannte bleiben zurück. Ich bin allein auf diesem Schiff, ich fahre in ein Land, dessen Sprache ich nicht spreche und in dem mich niemand erwartet. Ich war noch nie allein. Auf mich selbst angewiesen. Aber wenn ich das überlebe, überstehe ich auch alles andere. Was das andere ist, daran will ich nicht denken.

Ich betrete das Bordrestaurant, das wie ein Imbiss auf einer Hafenbarkasse aussieht. Linoleum. Furnierholz. Gemütlich. Ich lächle. Es ist nur mäßig gefüllt und erwartet Selbstbedienung.

Meine Tasche reserviert mir einen Platz am Fenster. Ich schlendere an den Tresen entlang, genehmige mir zur Feier meines Aufbruchs ein ungewohntes Glas Wein und fülle mir von allem, was ich nicht kenne, einen großen Teller.

Das Panoramafenster gönnt mir einen Blick in den Abend und einen vorbeiblinkenden Leuchtturm. Ich genieße es. Das ist es wert.

Was mein Sohn wohl sagt, wenn er erfährt, wo ich bin? Andererseits, woher soll er es erfahren? Er hat mir zugeredet und sein unerschöpflich-unerträgliches Verständnis über mir ausgebreitet, solange ich mich gefügt habe in das, was er beschlossen hat. Wann haben wir die Rollen getauscht?

Da ist es wieder, das Denken, das Grübeln, immer und immer im Kreis, es ermüdet mich und der letzte Schluck Wein erinnert mich daran, dass ich noch ein Plätzchen für die Nacht brauche.

Viel Auswahl habe ich nicht, aber mit einem Schlafsack gepolstert (-- von meinem Enkel geliehen, er weiß nichts davon, doch er wird ihn eher vermissen als mich), der Tasche als Fußhocker sind die Sitzschalen auf dem Gang gar nicht mal so ungemütlich. Der junge Mann, noch immer von Musik begleitet, hat sich auch eingefunden, ein kurzes Lächeln, ich muss merkwürdig auf ihn wirken, eine alte Frau im Schlafsack, und dann fallen mir die Augen zu, trotz Dieselgeruchs und stampfender Maschinen. Morgen früh werden wir ankommen. Und was wird dann?

 

Erst einmal scheint die Sonne und ich beschließe, das als gutes Omen zu nehmen, als ich mit der Rolltasche (-- sie gehört meiner Schwiegertochter, aber die hat so viele, es wird ihr gar nicht auffallen, dass eine fehlt) die Planke hinunterschwanke. Boote gehören verboten. Auch wenn mein Sohn mich korrigieren würde, ich weiß, das würde er, für mich ist es ein Boot, Fähre hin oder her, es schwankt wie ein Ruderboot, eine Nussschale, ein Segelboot auf der Alster. Ich kenne alle diese Wörter, aber Boot gefällt mir. Es gefällt mir, in Oberbegriffen zu reden. Zu unspezifisch, sagen sie, aber sie haben keine Ahnung. Es macht vieles leichter und wer sagt, dass man es sich nicht leichter machen darf?

Hinter mir poltern Taschen und Passagiere über die metallene Zugbrücke auf den Anleger. Er ist kleiner als der, von dem wir abgelegt haben. Ein Ableger also?

Ich kichere in mich hinein und es ist mir egal, ob es jemand sieht. Ich bin bis hierher gekommen. So dumm und unselbstständig kann ich nicht sein.

Der Wind zieht eisig durch den Mantel hier, das ist das Erste, was ich bemerke. Ich will meine Mütze hervorsuchen, aber dann kann ich mich nicht mehr erinnern, ob ich sie überhaupt eingepackt habe, es musste schnell gehen, also gehe ich weiter, ein paar Schritte den Ableger hinunter. Ein paar Quadratmeter kleiner und er wäre aus Holz, hieße Steg. Ich grinse und schaue mich um.

Es gibt nicht viel zu sehen außer Wasser, rundum. Die Passagiere zerstreuen sich rasch in alle Richtungen – es gibt nur eine –, und dann steht da noch ein Imbisswagen, Fisk steht dran, er ist geschlossen.

Ich spüre meinen Magen. Die fette Nudelsoße von gestern Abend oder Hunger? Ich hatte schon lange keinen Hunger mehr. Nicht, dass ich mich erinnern könnte.

Vielleicht sind es die Medikamente, die dafür sorgen. Die Medikamente, die ich nicht mitgenommen habe. Ich hielt das für eine gute Idee, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Kein Krankenhaus, keine Medikamente. Ich war schon ewig nicht mehr ohne. Nicht darüber nachdenken, ich atme tief ein.

Die Kälte riecht nach Schnee. Kälte riecht nicht nach Schnee, sagt mein Sohn, Kälte riecht überhaupt nicht. Er ist Physiker, aber mein Enkel wusste es besser und ich auch. Immerhin der Junge, er hat mich verstanden. „Wir sind ein Team, Oma“, hat er immer gesagt. Bis auch er erwachsen wurde.

Ich schüttele den Kopf und beschließe, an etwas anderes zu denken. Denk praktisch, sage ich mir, während ich an der Mole entlanggehe und in Richtung Inselzentrum blinzele. Das dürfte mein Ziel sein. Ich brauche eine Unterkunft.

Eine Möwe lenkt mich ab. Ein großer stolzer Vogel, der mich an meinen Sohn erinnert. Er streckt seine Flügel gegen den Wind und schreit. Früher habe ich Möwen gemocht.

 

Der Weg in den Ort ist weiter, als ich gedacht habe. Ich bin schon nach der Hälfte der Strecke außer Atem und muss auf der Tasche rasten. Ich hoffe, es geht nichts kaputt.

Über was man sich alles Gedanken macht. Sind das die wichtigen Dinge, von denen immer alle reden? Ich muss lachen. Ich sehe mich sitzen auf dieser lächerlichen, praktischen Rolltasche auf einer Insel mitten im Nichts, sprachlos, atemlos, am Rande der einzigen Straße, auf dem Weg in den einzigen Ort, wo niemand weiß, dass es mich gibt. Was denkt jemand, der mich im Auto überholt?

Ich schaue nach rechts und links. Kein Auto weit und breit, keine Müllabfuhr, kein Trecker (-- es gibt hier keine Felder, ich weiß das), kein Bus. Wie halten die Leute es hier bloß aus?

Für einen Moment überschwemmt mich die Angst. Schnapsidee. Quatsch, Freiheit. Habe ich das gerade gedacht? Ich?

Ich drehe mich mit dem Rücken zum Wind und schaue zwischen zwei Häusern, Schuppen eher, abgewrackten Bootshäusern, die Fischerei läuft wohl nicht mehr, hindurch aufs Meer. Es riecht nicht nur nach Schnee, es riecht nach Tang, nach See, nach Fisch. Ich habe es nicht vergessen, obwohl ich schon lange nicht mehr am Meer war. Und dann Freiheit.

Freiheit riecht nicht, wie dumm bist du eigentlich, ich höre es genau, aber ich weiß es besser. Mein Enkel hat es vergessen, aber er lebt es. Sein Vater weiß es schon lange nicht mehr. Seit er erwachsen ist, wie er es nennt. Er hat keine Ahnung, aber das habe ich schon lange aufgehört, laut zu sagen. Das macht es nicht besser, habe ich gemerkt. Erfahren eher. Sonst wäre die Flucht nicht nötig gewesen. Und eine Flucht ist es.

Hirnrissig werden sie es nennen, meine Schwiegertochter wird diesen speziellen Blick aufsetzen, aber ich nenne es eine Entscheidung treffen. Egal wie unerwünscht, es ist meine eigene und das zählt. Ich habe so viel verpasst und so wenig Zeit.

Mein Sohn würde mir widersprechen, aber er versteht nichts davon. Ich habe nicht länger als eine winzige Stunde gebraucht, um eine halb gedachte Idee in die Tat umzusetzen. Ich bin stolz darauf und jetzt bin ich hier.

Ich komme wieder auf die Füße. So weit ist es nicht mehr und von meinem Körper lasse ich mir ebenso wenig etwas sagen wie von den Menschen um mich herum. Ich habe immer alles hingenommen. Niemand hätte sich vorstellen können, dass ich so weit kommen würde. Das ist das Gute, denn hier werden sie nicht nach mir suchen.

 

Zwanzig Minuten später erreiche ich den Ort. Ich klopfe mir selbst auf die Schulter. Nach weiteren zehn Minuten habe ich ein Zimmer in einer Pension. Ich wusste nicht, dass leben so einfach ist. Wovor habe ich mich all die Jahre gefürchtet?

Ich ruhe mich nicht lange auf dem schmalen Bett aus. Ich bin nicht hier um zu schlafen, das hätte ich bei ihnen auch gekonnt, sogar dort, wohin sie mich bringen wollten. Nein, mich zieht es hinaus, die Insel erkunden, das ist doch wohl das, was man tut. Ich weiß es nicht mehr, mein letzter Urlaub ist lange her. Da hieß es noch Ferien und der Krieg des Braunen hatte noch nicht angefangen. Seitdem nichts mehr.

Der Weg zum Meer führt sanft hinab. Asphalt wird Sandstrand. Der Strand ist breiter als die Straße. Ich laufe. Ich renne. Meine Haare flattern im Wind.

Hier ist alles rau und trotzdem gut. Wilde Elemente und dennoch friedlicher als jede Großstadt. Hier will ich bleiben. Alles andere verblasst, wird klein und unwichtig angesichts des Meeres, des Strandes, des Windes, des Schnees, der plötzlich loslegt, als gäbe es kein morgen und vielleicht stimmt das sogar.

Ich bin vollkommen allein am Strand, aber das stört mich nicht. So bei mir selbst habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Ich breite die Arme aus. Lasse den offenen Mantel flattern. Lache. Schreie. Huste. Lache wieder. Verrückt, die Frau. Aber damit können sie mich nicht meinen. Es trifft mich nicht. Alles fällt auf sie selbst zurück. Aber auch das wissen sie nicht, kapieren sie nicht. Ich aber, ich weiß es.

Ich stand zu lange am Ufer und habe zugeschaut, vom Rand beobachtet statt mittendrin zu sein. Das Leben ist ein Fluss und dieses Meer ist meine Chance.

Ich streife die Schuhe ab, laufe weiter, auf Strümpfen den Strand entlang, fühle einzelne Steine unter den Fußsohlen. Es ist nicht die Jahreszeit für Quallen.

Eine zerborstene Holzkiste, leer, mit fremden Buchstaben darauf, wird mein Ankerplatz. Ich hebe den linken Fuß (-- der fällt mir leichter) auf die Kiste, krempele das Hosenbein hoch bis zu den Knien, dann, langsamer, die andere Seite, schließlich zerre ich mir die Strümpfe von den Füßen. Besser.

Es sind nur fünf Schritte vom Strandgut bis zu den ersten Wellen. Sie sind so kalt, dass ich fürchte, mir bleibt das Herz stehen, aber dann gefällt es mir. Ich fühle mich lebendig. Ich gleite mit den Zehen durch braungrünen Tang und grinse.

Immer noch Beobachter vom Rand aus, aber ich nehme schon teil. Ich habe immer versucht, eine Brücke zu bauen, die über den Fluss führt, ohne Risiko, in Sicherheit. Es hat nicht funktioniert, es hat nicht funktionieren können. Das Leben will mehr. Auch ein Boot führt nicht zum Ziel, ich hasse Boote, sie schwanken, man ist zu weit entfernt. Alles Krücken, Illusion. Mittendrin muss man sein, aller Angst vor Untiefen, Stromschnellen und dem Sog zum Trotz.

Ich wage mich bis zu den Knöcheln vor, fühle mich sicherer und wohler. Das weiß schäumende Meer umspült meine Füße, leckt an den Waden. Ich gehe ein Stück weiter hinein.

Alles fließt, alles ist mit allem verbunden. Ich habe keine Zweifel, dass es stimmt und dass es das ist, warum ich hier bin.

Ich ziehe die Hosenbeine so weit hoch, wie ich kann. Gut, dass niemand zu sehen ist. Gut, dass ich mich immer gegen ein Handy gewehrt habe. Man könnte mich orten. Ich habe davon gelesen. Aber ich will nicht geortet werden. Ich will an diesem Ort tun, wozu ich hergekommen bin, ohne dass ich es wusste.

Bis zu den Knien stehe ich im Wintermeer, ich spüre es, ich bin nicht senil, auch wenn das alle glauben.

Ich wate noch ein Stück weiter hinein, was gar nicht so einfach ist, weil der Untergrund jetzt steinig wird, sodass ich hier und da wegrutsche, einmal knicke ich um, aber die Steine tun mir nicht weh, mir tut gar nichts mehr weh, denn ich begreife, dass Tod und Leben gar nicht so verschieden sind und dass viel zu viel Gewese darum gemacht wird. Es geht nur um Freiheit und die kann man im Leben finden oder im Tod.

Sie werden den Kopf schütteln, mich hinfällig nennen und verrückt und wünschen, sie hätten mich schon eher dorthin gebracht, wohin sie mich bringen wollten. Aber ich bin nicht verrückt, ich habe noch niemals klarer gesehen.

Ob das die Luft macht? Der Schnee? Das Meer? Es muss die Natur sein, die Abwesenheit von Menschen, Zivilisation nennt man das, wenn ich mich recht erinnere. Ich gehöre nicht mehr dazu. Ich nehme eine Auszeit.

Bis zu den Oberschenkeln stehe ich im Wasser und es fühlt sich lustig an, wie die Wellen versuchen, mich umzuschubsen. Als wären sie ein wilder Hund, vielleicht auch nur ein junger, der spielen will. Ich kichere und schubse zurück. Er geht nicht unter, ich aber auch nicht. So weit habe ich es geschafft, ich schaffe es auch noch weiter.

Bald stehe ich bis zum Bauch im Meer. Vom Bauchnabel abwärts kann ich mich nicht mehr sehen. Der Dreck wird auch immer schlimmer, aber was macht das, ich kann mich noch fühlen und ich fühle mich großartig.

Ich schlage mit den Händen auf die Wellen, ich kraule den Hund hinter den Ohren. Er schmiegt sich in meine Hände und heult. Vielleicht ist es auch der Wind, aber das macht keinen Unterschied.

Als ich bis zur Brust in den Wellen stehe, fällt es mir schwer, die Arme zu heben, und ich kraule den Hund unter dem Bauch. Ich kichere, aber er ist nicht kitzelig. Er schmiegt sich an mich und die Kälte vergeht.

Es ist ein großer Hund, vielleicht sind es auch mehrere. Sie spielen mit mir, locken mich weiter, laufen voraus, schauen zurück, wo ich bleibe. Nicht so schnell, ich habe nicht so junge Beine wie ihr.

Sie warten geduldig und ich tue ihnen den Gefallen – ich folge ihnen. Ich schaue nicht zurück, ich gehe einfach weiter. Und dann bin ich da.