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Christoph Kastenbauer: Schweben

Onanieren ist eine Sache, die in München keinen Spaß macht. Oder zu viel Spaß, das kommt dann aber auf dasselbe raus. Kathi räkelt sich. Wir sind im Englischen Garten und das Wasser plätschert. Kathi trägt einen kurzen Rock und einer dieser furchtbar quälenden Spaghetti-Tops, die sich quasi von selbst bei jeder Gelegenheit den Bauchnabel nach oben schoppeln. Ihr Bauchnabel ist klein und weiß und duftet nach frischem Gras. Durchatmen, an dicke Menschen mit Hängebrüsten denken, das dürfte gerade hier nicht schwer fallen. Ich lehne mich betont cool zurück, blinzle in die Sonne. Der Monopteros rammt seine weiße Kuppel in den weit geöffneten, blauklaren Himmel. „Hey, ist dir das aufgefallen? Der Prof ist heut rumgestanden wie ne Teekanne mit Darmverschluss, und viel mehr als gepresste Luft kam da auch nicht raus.“ Ich pfeife wie einer dieser alten Dampfkochtöpfe. Kathi lacht. Der Scheiß gefällt ihr. Nach dem nächsten Kalauer suchen, das lenkt ab und bringt einen nach vorne, das kann man sich einreden. In Wahrheit bringt einen hier nie was nach vorne, eher nach unten.

„Du bist lustig“, sagt Kathi. Sie dreht sich wohlig in der Sonne wie ein in der Pfanne gewendetes Schnitzel. Sie findet mich lustig und dreht sich. Mehr gibt es nicht. Nicht hier, wo es zu schön ist, um sich festzuhalten. Das gibt dann alles nach, wie wenn man in einer Ikea-Werbung lebt und auch noch denkt, das wäre wirklich schön, das alles. Kathis nackte, weiße Füße streicheln das Gras, als kitzle sie die Wiese und nicht umgekehrt. Wenn sie über den Boden läuft, berührt sie ihn kaum. Das ist schlimm, weil es dann so rüberkommt, als würde sie schweben, und dann will man unbedingt ein Stück ab davon, dass man auch schwebt, wenigstens ein bisschen.

In München wirkt alles, als würde es schweben. Grade im  Sommer, wenn alles grün ist und der Wind Italien über die Alpen bringt, und man im Café am Odeonsplatz sitzt oder gleich im Hofgarten, an einer der Hecken gelehnt, der Boden ganz nah und der weiß-blaue Himmel über einem, als würde er ganz dir gehören, nur er gehört dir eben nicht, und du schwebst auch nicht, nur alles um dich herum schwebt. Du selbst klebst dort fest in dieser schwebenden Welt und deine einzige Chance mit abzuheben, dazuzugehören, diese unsichtbare Trennlinie aus Fliegen und Fallen zu überwinden, sind diese schwebenden Geschöpfe, die mit dem ersten warmen Lufthauch des Jahres aus allen Winkeln der Stadt zu strömen beginnen, als hätten sie wie tausende Dornröschen den Winter in ihrem zugewachsenen Schloss verbracht und wären nun befreit worden vom ersten Kuss des Frühlings.

Kathi studiert Sozialpädagogik an der LMU im zweiten Semester, was bedeutet, dass Sommer ist und dass der ihr fast ganz gehört. Sie betritt den Schatten des Hörsaals nur, um sich über die Professoren lustig zu machen, und um mich zu treffen, ihren besten Freund, der wichtig alles mitschreibt, in Seminaren so etwas von sich gibt wie „Soziokulturelles Milieu im Wandel des Konsum-Imperialismus“ und auch sonst alles tut, um zum Deppen des Jahres gewählt zu werden. Kathi findet mich süß und nett und all dieses schlimme Zeug. Ich mache ihr den Clown, das hilft wohl dabei. Und wahrscheinlich auch meine Notizen, die ich ihr dackeltreu jedes Mal nach der Vorlesung kopiere. „Danke“, sagt Kathi und bläst sich lächelnd ihre blonden Flatter-Wimpern aus den Augen. „Du bist ein echter Freund.“ Ich lächle dann immer zurück hinter meiner wichtigtuerischen, in Wahrheit absolut schwulen, mit schmalem Plastik umrahmten Designerbrille, während ich mich eigentlich in  die Isar stürzen will, von allen Münchner Brücken gleichzeitig. Der beste Freund von schwebenden Geschöpfen zu sein, bedeutet ihnen immer nur beim Schweben zuzusehen. Und das bringt einen um mit der Zeit, grade hier an diesem Ort, wo man als Nichtflieger allein am Boden zurück bleibt.

Kathi hat einen  Freund. Natürlich. Also einen echten, keinen wahren oder besten, einen, der bei der Flugshow in der Maschine sitzt und nicht auf den billigen Tribünenplätzen. Ich bin der auf dem billigsten Platz. Als bester Freund hast du immer diesen schlechtesten aller Plätze, wer glaubt, als bester Freund wäre man sowas wie der Copilot, der hat entweder keine Ahnung oder wohnt in einer dieser ehemaligen Hippie-Lahmficki-bis-zum-Tode-Kommunen, wo man so viel dummen Sex mit so viel dummen Leuten hat, das man es schon herbeisehnt, das Nirwana.

Ich bin der, der immer zusieht. Und sich schämt, fürs Zusehen. Wir gehen weg, zu dritt, das geht wohl auch nur in dieser Stadt, wo beste Freunde mittlerweile zum Repertoire gehören wie das Einmal-im-Jahr-Dirndl im Schrank oder die ledernen Flip-Flops, die man abends zum weißen Sportsakko auf der Münchner Freiheit spazieren trägt. Pascal grinst blöde in eben diesem Yuppie-Fetzen, hat grade einen Pina Colada auf Ex geleert, und verabschiedet sich mit seinem obligatorischen Satz „Ich geh‘ mal kurz meine Leute begrüßen“. Wichtigtuerische Blödfresse. Pascal studiert Sportökonomie, und das sind die schlimmsten, die Sportökonomen, Mutationen aus Bewegungsfanatikern und den üblichen BWL-er Geldkramscheißern, was ja wieder „in“ ist mittlerweile, im Zuge der Wirtschaftskrise, Ellbogen raus und einer von denjenigen sein, die trotzdem noch gewinnen. Pascal geht seine Leute begrüßen. Typen wie er haben wirklich in jedem Schuppen dieser Stadt ihre Leute sitzen, Kontaktinflationäres Arschloch, soviel Bekanntschaften wie möglich und je weniger wert desto besser.

Pascal ist jedenfalls weg und lässt uns allein. Es ist ihm egal. Das ist wohl mit Abstand der größte Schamfaktor für mich. Er sagt mir so Dinge ins Gesicht wie „Habt ihr nur euren Spaß“ oder „Ich kenne keine Eifersucht“ und grinst dazu mit leuchtend weißen Zahnreihen. Ich grinse zurück und rühre in meiner schlechtgemixten Rumcola. Hass, durchatmen, Kathis Lächeln. Schweben können, das wäre es jetzt, einfach nur schweben können. Eine kühle Sommerbrise weht durch die Münchner Freiheit, bringt den Duft mit vom Englischen Garten. Kathi lächelt. Ich lächle zurück. In ihren grünschimmernden Augen spiegeln sich sanft die grellen Lichter, als könnten ihre Augen alle Wucht aus den Dingen nehmen, die nächtliche, lärmende Schönheit dieser Stadt abdämpfen und auf meinen Level hinab stufen, dass ich es auch hören kann, diese stille Musik in dem dunklen, weiß-blauen Himmel über uns.

Kathi räkelt sich. Ihre Haare riechen nach Lachen und Regen und im Regen immer weiter Laufen. „Pascal ist ein echt geiler Typ, oder?“ Sie kichert, hell und aufgekratzt. Der echt so geile Pascal habe einen Einser-Schnitt, könne den Kilometer unter drei Minuten laufen, und ein hervorragender Salsa-Tänzer sei er oben drauf. Pascal ist sowas wie ein getunter Porsche, Sechs-Gang-Schaltung. Kathi kichert, laut und schrill, wie das Pinkkostüm am Nebentisch, das sein Iphone befingert, als wäre es ein Türschloss und dahinter die Welt.

Wir laufen. München läuft leise rauschend an uns vorbei. Nachts ist die Stadt am schönsten, dann, wenn die laute Hitze des Tages nur noch eine Erinnerung ist. Kathi läuft vor mir die Klenzestraße hinauf Richtung Gärtnerplatz. Sie hat ihren Arm um den beulenartig ausufernden Pascal-Superkörper gewunden und trippelt mit langen, weißen Beinen barfuß über den Asphalt. Ich dahinter, T-Shirt, Schweißfleck, schwere Füße. Kathi dreht sich kurz zu mir um. „Kommst du?“ Ich komme nicht, kann nicht kommen. Bin zu weit weg. Kathi trippelt keine drei Schritte vor mir in dem warmen Licht der weißen Häuserfassaden, so leicht als würde sie schwimmen, und ich gehe hinter ihr unter, kann nichts tun, kann nur schauen und untergehen und mich noch ein bisschen mitziehen lassen, von diesem im Gleichschritt trippelnden Pärchen, das absolut nichts mit mir zu tun hat, das wie ein Bild ist, wie eine vage Erinnerung, bei der man sich nie sicher ist, ob das jemals Wahrheit war.

Helle, bunte Lichter fliegen am Gärtnerplatz durch die Luft. München feiert Jubiläum und hat sich schöner gemacht, als es eigentlich noch geht. Ein kleines Riesenrad dreht sich vor den beleuchteten Säulen des Theaters. „Hey, du bist ja doch gekommen, das finde ich ja supi, hab‘ ganz lang auf dich gewartet, Burnershow hier, ich sag’s dir, echt Burner…“ Wer zu oft das Wort „Burner“ benutzt, hat davon keinen im Arsch, das ist erwiesen, auch wenn er süß ist, dieser Arsch, der sich jetzt an Pascals Brust der breiten Öffentlichkeit präsentiert. Die Burner-Queen heißt im Übrigen Jessica, wie wir jetzt plappernd von Pascals Schultern herab erfahren, ist eine von seinen Sportskanonen-Bekanntschaften, aber viel mehr noch, „beste, nein allerbeste Freunde“, wie bei mir halt, nur mit schöneren Titten und auch nicht ganz so schüchtern.

Pascal stellt Jessica zurück auf die Füße. „Das ist übrigens Kathi.“ Kathi kichert, hell und laut und wimpernflatternd. Sie hat nichts dagegen, dass ihr Freund bei ihrer Vorstellung nur wage in ihre Richtung winkt. Ich persönlich werde nicht vorgestellt, hebe nur im Hintergrund wenig motiviert die Hand, was das schwarzgelockte Tittenwunder auch nur aus den Augenwinkeln wahrnimmt und nicht mit weiteren Reaktionen quittiert. „Komm‘, mein großes Baby, lass uns Riesenrad fahren!“ Jessica nennt Pascal tatsächlich „großes Baby“ und zerrt ihn jetzt an der Hand Richtung erleuchteter Riesendrehscheibe. Kathi kichert ihnen hinterher: „Habt ihr nur euren Spaß“, ruft sie fröhlich winkend, während ich mir auf den Handrücken beiße, um nicht laut loszubrüllen.

„Alles okay mit dir? Du wirkst ein bisschen angespannt?“ Kathi lächelt besorgt. Das ist schön ihr Lächeln, und dass sie es nur für mich angeknipst hat, macht es nochmal dreimal so schön, aber trotzdem geht das hier alles nicht mehr. München blinkt und sommert vor sich hin, in warmer Luft und hellen, unbeschwerten Klängen, während Kathi lächelt und nach süßer Seife und dem saurem Schweiß eines langen Sonnentages duftet, und ich atme ihren Duft ein, atme sie ein, nur noch sie, aber das reicht nicht zum Luftholen, die Luft wird dünn in diesen Höhen, in denen die einen fliegen und die anderen nur hinunter fallen. Und ich atme und kriege keine Luft mehr und alles dreht sie, wie das Riesenrad, in dem nun Pascal mit Jessica sitzt und ihr rein freundschaftlich die Zunge reinschiebt, und Tittenwunder Jessica lächelt dazu, ganz leicht, nur angedeutet, wie schwebende Geschöpfe eben generell lächeln, und das Riesenrad dreht sich, und meine ganze Welt dreht sich dazu im trudelnden Sturzflug. „Was ist mir dir…? Mein Gott… Hilfe…“ Kathi soll nicht mich ansehen, sie soll sich umdrehen und die drehenden Zungen und befummelten Freundschaftstitten sich ansehen, während der drehende Boden auf mich zurast, als säße ich in einem abstürzenden Flugzeug, den unumgänglichen Crash vor Augen, mit dem einzigen Ziel, sich kreiselnd und brennend und röhrend wenigstens noch einen guten Abgang zu verschaffen.

Das erste, was ich sehe, als ich die Augen wieder aufmache, ist Pascals breite Grinsefresse. Der dickbäuchige Sanitäter packt bereits sein Blutdruckmessgerät wieder ein. „Bleib‘ noch n bisschen liegen, Jungchen, nichts Ernstes, nichts Ernstes“, murmelt er noch, bevor er sich durch den ringsum gebildeten Spannerkreis zurück nach draußen schiebt. Pascal grinst. „Solltest mehr Sport treiben, mein Lieber, das hält fit und bildet den Charakter.“ Okay, jetzt reicht’s. Kathi kichert, den Kopf an Pascals Beulenbrust, mich mit zugekniffenen Augen betrachtend, als wäre ich nach meinem Absturz schon außer Sicht. Jessica steht leicht versetzt hinter Pascal, die nackten Beine geöffnet, das vom Minirock spärlich bedeckte Becken keck nach vorne gedrückt. Sie lächelt, nur ein bisschen. Alles lächelt, nur ein bisschen, die spärlichen Lichter, die alles weicher machen, die Luft, die nicht Stadt ist, aber auch nicht Natur, die Menschen, die mit schwindendem Interesse um mich herum stehen, die da sind und gleichzeitig ganz woanders, alles ist nur eine Andeutung, auf die niemals wirklich etwas folgt. Hinter Pascals breitem Rücken spielt Jessica mit seiner Hand. Pascal grinst. Kathi lächelt. Ich hole einmal tief Luft, stehe dann auf und schlage ihm ohne Andeutung in sein grinsendes, blinkendes Perlweißgesicht.

Pascal hockt sich wimmernd wie ein Kleinkind auf dem Boden, sich den lädierten Kiefer reibend. Ich starre auf meine Hand, die brennt wie Hölle. Kathi starrt auch darauf, als wäre es etwas absolut Fremdes, was plötzlich uneingeladen alles verändert. „Mein großes Baby, hat dir der böse Junge Aua gemacht, mein großes, liebes Baby.“ Jessica stürzt sich geradezu auf Pascal, ihn mit Küssen und Streicheleinheiten überwalzend. Kathi starrt. Sie schwebt nicht mehr. Sie starrt nur noch. Der Kiefer kann nicht so schwer verletzt sein, so vehement, wie Pascal ihn nun an Jessica ausprobiert.

Ich nehme Kathi am Arm, führe sie weg, aus den Lichtern und den Menschen und den Lärm, der sprachlos weiter vor sich hin plappert. Kathi schweigt. Sie trippelt schweigend über den Asphalt, als suchten ihre nackten Zehen auf den Pflastersteinen nach Spuren, die sie einst darauf zurück gelassen hatte. Die Corneliusstraße liegt da wie verlassen, uns still begleitend wie jemand, den man am Wegesrand trifft, und von dem man nie mehr als den Namen erfahren wird. Das Wasser der Isar rauscht leise wie ein fernes Meer. Der dunkle Kies knirscht wie Sand unter unseren Füßen. Ich setze mich, tauche meine brennende Hand in den kühlen, sanft strömenden Fluss. „Danke“, flüstert Kathi jetzt und lächelt. „Du bist ein echter Freund.“ Ich lächle zurück, während sie meine nasse Hand nimmt, um ihr weinendes Gesicht darin zu verstecken.