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Julia K. Stein - Der Münchner bin ich

Letztens ist mir mein erstes „Grüß Gott“ herausgerutscht. Ohne dass sich dieser Moment irgendwie angekündigt hätte, war er plötzlich da. Sowas passiert aufgrund meines mir schon von der Grundschullehrerin bescheinigten großen Empathievermögens. Ich kann mich besonders gut in andere hineinversetzen, lästig, weil man bei jeder drittklassigen TV- Schnulze mitheulen muss, an sich aber eine nette Eigenschaft. Allerdings ist sie bei mir mit dem zwanghaften Wunsch dazuzugehören gepaart, was darin mündet, dass ich meine Persönlichkeit für verschiedene Zwecke weitestgehend umgestalten kann. Ich bin charakterlos, ein Anpasser, ein Fähnchen im Winde, ein Opportunist, je nach Missgunst oder Wohlwollen des Betrachters, weshalb das Schicksal wahrscheinlich nichts dabei fand, mich aus einer Kleinstadt im Ruhrgebiet über San Francisco, nach Bonn, nach Paris, nach Berlin, nach München zu katapultieren. „Bei der ist das doch eh wurscht“, wird sich das Schicksal gedacht haben.

Ich war gerade in ein Taxi gestiegen, als besagtes jungfräuliches „Grüß Gott“ über meine Lippen kam und weiß nicht, wer danach mehr schockiert war: der Taxifahrer oder ich. Schließlich stand dieses Taxi nicht in München, sondern in Berlin. Ich blickte danach betreten zu Boden und murmelte etwas von „Hackerscher Markt“ krampfhaft nicht erwähnend, dass ich dort lange gewohnt hatte, zwar ein Wessi, aber immerhin schon, als es den Begriff „Wessi“ irgendwie noch gab. Welche schicksalhaften Wendungen aber hatten zu diesem Moment geführt? Vor noch drei Jahren hätte mir niemand, Empathievermögen hin oder her, ein „Grüß Gott“ auch nur im Entferntesten zugetraut. Alles, was diesen Moment ermöglichte, war dermaßen unwahrscheinlich gewesen, dass man wirklich an die Würfel – oder eben Wurschtigkeit des Schicksals glauben muss. Eigentlich hätte ich kettenrauchenderweise, tiefsinnige Gedanken hegend und entsprechende Gedichte formulierend in einer Sozialwohnung leben sollen, das Ganze möglichst in Paris mit Gauloises blonde und einer Rotweinflasche mit Schraubverschluss. Stattdessen aber hatte ich einen reichen Mann geheiratet und war nach Bogenhausen gezogen. Man könnte das Verrat an einem Ideal nennen, aber es war und ist ein wirklich toller Mann und wäre es nicht genauso diskriminierend, ihn nur deshalb nicht zu heiraten, weil er im Gegensatz zu mir in der Lage war, Geld zu verdienen? Wäre das nicht viel unromantischer gewesen? So habe ich als meinen Mut zusammengenommen und bin, die zusammengekniffenen Lippen meiner Berliner Lyrikgruppe ignorierend, der Liebe wegen nach Bogenhausen gekommen.

Meinem Charakter gemäß freundete ich mich rasch mit dem Gedanken an, in die Rolle der reichen, aber intellektuellen Ehefrau zu schlüpfen. Ich würde Salonière sein und malte mir aus, wie ich als eine Art Bogenhausener Caroline Schelling einen literarischen Salon führen und Künstler und Sammler zusammenbringen würde. Die großen Geister dieser Zeit würden zur Sommerfrische in unserem Gartenhäuschen diskutieren oder zwischen Rhododendren auf unserem Anwesen lustwandeln.

Die Enttäuschung bei meinem ersten Besuch in meiner neuen „Hood“ war entsprechend groß. Das heißt, zuerst war ich nicht enttäuscht, sondern fuhr weiter, keinen Gedanken daran verschwendend, dass die dicht aneinander gequetschten Häuser irgendetwas mit Bogenhausen zu tun haben könnten, dem noblen Bogenhausen. Schließlich hatte hier sogar Boris Becker mal gewohnt, als man sich noch freute, auf einer Party neben ihm zu sitzen. So fragten mein Mann und ich irgendwann am Arabellapark eine Passantin, wo denn nun Bogenhausen sei, das laut Makler „noble, stadtnahe Wohnviertel“, wo wir weiterhin alles mit dem Fahrrad erledigen wollten, ganz wie in Berlin-Mitte eben. Die Passantin blickte uns irritiert an, zeigte vage in die Richtung, aus der wir eben gekommen waren und eilte weiter. Wir fuhren noch einmal besonders langsam die selben Straßen ab. Und richtig, zwischen den biederen Einfamilien- und Apartmenthäusern, sah man ab und an stattliche Anwesen, die den Hamburger Reederhäusern an der Alster oder den Berliner Residenzen des gehobenen Bürgertums wenig nachstanden – nur eben ohne Garten. Hier drängelt sich auf kleinstem Raum die gut betuchte Gesellschaft zusammen. Es mag ja sein, dass es in Deutschland nirgendwo so viele Millionäre gibt wie mit München, aber vor allem ziehen nirgendwo in Deutschland Millionäre dermaßen begeistert in Doppelhaushälften.

Inzwischen bin ich nicht nur eine Bogenhausener Ehefrau, sondern, nachdem ich drei Kinder geboren habe (ich hatte ja Zeit, nachdem die Idee mit dem literarischen Salon wegen Platzmangels in unserer Doppelhaushälfte geplatzt war), auch Bogenhausener Mama und hier hat man prinzipiell zwischen drei und sechs Kindern. Mamis sind, wie man gemeinhin weiß, unglaublich uninteressant. Deshalb schreibt auch niemand über sie. Sie leeren Windeleimer und schleifen plärrende Kleinkinder hinter sich her, die sich bei Tengelmann auf den Boden werfen, um einen Lutscher zu bekommen. Dabei haben sie strähnige Haare, Fettpölsterchen und tragen eine fleckige Bluse. Wenn ich mich, hinter das Lenkrad gekauert und meine Augenringe mit einer dunklen Sonnenbrille getarnt auf den Weg mache, um meine Sprösslinge im Kindergarten abzuliefern, sehe ich jedoch eine andere, ganz eigene Spezies: Die Bogenhausener Mama.

Eine Kolonne von Frauen mit winzigen blonden Köpfen in übergroßen Jeeps mit drei bis vier Kindersitzen kommt hier nach französischen Parfum duftend mit glattgeföhnten Haaren und lackierten Nägeln ihre Kinder abliefern. Den Jeep braucht man, um jederzeit spontan in die Berge oder an diese ganzen Seen mit Trinkwasserqualität zu fahren. Auf den hohen Freizeitwert ist man ja besonders stolz. Deshalb pinkele ich im Sommer auch grundsätzlich in den Starnberger See, damit sich die Münchner nicht immer so viel einbilden auf ihre Seen. Während des Tages erkennt man Bogenhausener Mamas nicht etwa an den Kindern, die sie dabei hätten, sondern an der Figur: knackiger Po, flacher Bauch, keine Falten, auffallend runder, geradezu verdächtig geradestehender Busen. Nicht, dass in München, Babykriegen schöner macht. Aber in Bogenhausen kommen Babys mit zwei Nannys (eine für die Nacht und eine für den Tag), einem Personal Trainer, einer Powerplate und einer post-partum-Dysport-Behandlung zur Welt. Dysport ist Botox, Dysport-Behandlung klingt aber netter, wenn Frauenarzt, Internist oder Proktologe – Botox spritzt hier jeder - die Kanüle in der Stirn versenkt. Deshalb sieht man den Bogenhausener Mamas ihren Lifestyle-Stress nicht an: Pilates und in den Sommermonaten Hypoxi, wo man in einer Art Raumanzug die Speckrolle am Bauch wegbrennt, während man auf dem Laufband latscht und Gala liest, bevor man den Bikini rauskramt, das Haus zuschließt und nach St. Tropez braust. Dazu kommen blonde Strähnchen (vier Stunden!), Pediküre und Maniküre, dann bei Wax in the City die Bikinizone richten lassen (alles weg, einen Streifen stehen lassen, Muster?), zuletzt stylische Klamotten für vier Kinder und sich selbst kaufen. Außerdem ist die Bogenhausener Mama berufstätig, meist im Bereich Design, Inneneinrichtung oder Kunst. Das merkt man auch an den Elternabenden, wo die gestressten Mamas die Väter schicken, die mehr Zeit haben, da der ein oder andere schon in Rente ist. Diese „Viagra-Väter“, wie ich sie mal nennen will, sind aber gemeinhin eine Bereicherung für die Abende, da sie mit ihren Töchtern leckere Muffins backen und den Kindergärtnerinnen, die im Alter ihrer Kinder aus erster Ehe sind, in väterlichem Wohlwollen Lob aussprechen, anders als die gestressten, perfektionistisch-kritischen Terrier-Mütter.

Schnell kam der Tag, als meine erste Bogenhausener Party steigen sollte und ich fiel in eine stärkere Pré-Geburtstags-Depression als sonst. Eine kleine Depression gibt es immer: Einmal werde ich älter und alle kriegen es mit und dann sind meine Partys ohnehin etwas schwieriger aufgrund des schon erwähnten Empathievermögens. Das zeigt sich daran, dass die meisten meiner Gäste überhaupt nichts miteinander anfangen können, obwohl ich mit allen gut befreundet bin und dass die Liste meiner stets geladenen Ex-Freunde vom Dauer-alkoholisierten-möchte-gern-Schauspieler bis erfolgreichem Jungunternehmer alles beinhaltet. Es geht bei meinen Partys primär darum, die Gäste schnellstmöglich abzufüllen, damit sie nicht merken, dass sie sich nichts zu sagen haben. Ich dachte also, ich könnte diesmal zumindest die Versorgung durch einen Anruf bei Käfer outsourcen. Im Ruhrgebiet richtet schließlich jeder, der das Geld hat und auf sich hält, seine Party durch Käfer aus. Als ich meine Nachbarin über den geplanten Käfer-Anruf informierte, rief sie entsetzt: „Also Käfer kann du wirklich nicht bringen! Jeder hier erkennt Käfer-Canapés schon bei Blindverkostung!“ Ich vereinbarte also ein Probeessen bei einem coolen Bio-Caterer in Haidhausen. Die Häppchen schmeckten nach Fischöl und waren sicherlich gesund und da mein Geburtstag inzwischen nur noch einen Tag entfernt war, schlich ich am Nachmittag doch noch zu Käfer. Ich habe die mitgelieferten zweihundert Cocktailservietten mit Marienkäfern in den Müll geworfen und durch Servietten mit japanischen Schriftzügen ersetzt, ein paar Accessoires aus dem Asia-Markt Motorama dazugekauft – ich glaube niemand hat etwas gemerkt.

Ansonsten war die Party nicht viel anders als der nachbarliche Neujahrsempfang vor ein paar Monaten: Jeder rätselt für einen Moment, woher der andere eigentlich soviel Geld hat, dass er sich hier ein Haus kaufen kann. Das klärt sich in der Regel aber schnell. Eilig werden bevorzugte Urlaubsziele (Sardinien, Kampen, St. Tropez, Long Island), Ferienwohnungen (Andratx) und Wochenendhäuser in Kitzbühel aufgezählt, Probleme bei der diesjährigen Urlaubsplanung bekakelt ( „Unser Haus in den Hamptons hat dieses Jahr leider Madonna gemietet“ ) und das Geheimnis um die Kohle („Wir machen in Süßigkeiten“) wird einem ungefragt um die Ohren geballert. In einer Ecke rotten sich derweil die Nicht-Münchner zusammen. Man erkennt uns nicht an anderen Klamotten, weniger Ferienhäusern oder geringerem globalen Gehabe, sondern daran, dass wir uns über die Schickeria und bayrische Bräuche beschweren und darüber, dass man letztens im Bus wieder angepöbelt wurde, weil man den Busfahrer nicht verstanden hat. Ihn mit dem Satz „Ich versteh‘ kein bayrisch“ endgültig auf die Palme gebracht hat und sich nur wünschen könnte, hier wäre einem ein „Grüß Gott“ herausgerutscht, das wahrscheinlich einiges hätte retten können.

Wenn ich dann in Ambach beim Bierbichler in der Sonne sitze, Semmelknödel mit Schwammerln esse und auf den See und die Berge schaue, kurz, wenn ich mich ertappe, mich doch noch in München zu verlieben, dann mache ich den Friedhofstest, um Gewissheit zu erhalten. Denn werden nicht die einzig wichtigen Entscheidungen ohnehin nur in Anbetracht der Ewigkeit gefasst? Ich frage mich also: Schön hier. Aber möchte ich hier begraben werden? Kann ich mir vorstellen, auf so einem ordentlichen, von bayrischen Milchbauern gepflegten Grab zu liegen? Mit Geranien und mit einem dieser riesigen Kreuze? Die Antwort ist ein laut schreiendes NEIN!. Allerdings ist mir beim letzen Friedhofstest aufgefallen, dass dieses laut schreiende NEIN! nicht auf Münchner Gräber begrenzt ist. Auch in Berlin, vor einem mit Efeu überwucherten Grab und einem Stein mit mühsam weggekratztem Graffiti schreit in mir ein lautes NEIN! – trotz preußischer Vorfahren. Ich würde im Zweifelsfall lieber in meinen Geburtsort Dinslaken zurückgehen, alle angeheiratete Verwandtschaft inklusive meinem Ehemann zurücklassen und mich gemütlich zur Oma legen. Vielleicht taugt der Test für unsere entwurzelte Generation einfach nicht mehr.

Es kam also letztlich wie es für eine Empathie-geschädigte Person wie mich kommen musste und das Schicksal machte den Sack zu. Vor ein paar Wochen verbrachte ich einen Tag mit meiner Kölner Freundin, die ich auf einer Party kennengelernt hatte, weil sie auch mal in Berlin-Mitte gelebt hatte und das übliche Berlin-ist-arm-und-sexy-München ist-reich-und- naja-jedenfalls-nicht-sexy-Gehabe drauf hatte. Wir durchwühlten gemeinsam den Gucci-Laden nach Sonderangeboten. Sie erzählte mir, dass ihr Mann jetzt wieder in Köln arbeiten würde, sie sich aber trotzdem dazu entschieden habe, hier zu bleiben. Mir fiel vor Schreck die Gucci-Römersandale aus der Hand und knallte zu Boden.

„Aber du wolltest doch immer nur weg weg weg?“

„Ach weiste, beim letzten Besuch kam mir Köln ganz schön usselig vor. Ist ziemlich heruntergekommen. Ich meine, du musst dir mal die Musikschule ansehen, wo Mia [ihre Tochter] hier in München Klavierunterricht bekommt. Sie lernt auf einem Steinway. In Köln muss sie bei so einem hutzeligen Musikstudenten in einer nach Qualm stinkenden Bude hocken. Nee, wir bleiben erstmal hier und Thomas muss pendeln.“

Während sie das sagte, streichelte sie einen Samtstiefel mit goldenem Keilabsatz und vermied meinen Blick. Zurecht. Sie erinnerte mich an unseren Nachbarshund, der keifend bellt und durch den Lattenzaun hindurch knurrt, wenn ich am Nachbarshaus vorbeigehe. Als aber einmal der Zaun repariert wurde und er wohl versehentlich doch in den Garten gelangt war, stand er plötzlich, knurrend und vor Wut sich wie gewöhnlich überschlagend, direkt vor mir. Ohne Zaun. Er konnte mich angreifen und hinrennen, wo er wollte. Nach kurzer Besinnung ließ er den Schwanz lasch nach unten fallen, latschte zurück in seine gemütliche Hundehütte und machte ein Nickerchen. Meine Kölner Ex-Freundin und ich haben jedenfalls nicht mehr viel miteinander zu tun, weil unsere Freundschaft darauf basiert hatte, gemeinsam über München herzuziehen. Als ich aber am selben Abend andere Freunde treffen wollte, um ihnen von meiner Kölner-Verräter-Bekannten zu erzählen und die Gucci-Stiefel auszuführen, änderte sich sowieso alles. Anders als sonst bestimmte ich den Ort unseres Treffens, und da mir nichts anderes einfiel, schlug ich das Schumann‘s vor. Man muss dazu sagen, meine beiden Freunde kommen aus München, die eine ist sogar gebürtige Bogenhausenerin. Beide kommen etwas zu spät, noch mit geröteten Wangen. Sie hatten einen Ausflug zu einer kleinen Alm gemacht. „Wo du immer hinwillst“, sagen sie, als sie das Schumann‘s betreten und sich umschauen. „Wieso?“ frage ich. „Wollt ihr auch einen?“ Ich halte meinen Bellini hoch. Bettina und Max starren auf den Bellini und meine neue Moncler-jacke, die ich mir heute noch gegönnt habe. Die Kinder sind beim Kindermädchen und ich habe schließlich frei.

Sie schütteln den Kopf. „Du bist ja ulkig. Du lästerst immer über die reichen, satten Münchner und dann geht’s du ins Schumann‘s, trinkst Bellinis und hängst mit deinen zugezogenen Freunden im Gucci-Laden rum.“

Ich starre auf meine Boots und ihre Wanderstiefel, meine Moncler-Jacke, den Bellini. Sie lächeln mich an. Sie sind gute Freunde und sehen über meine München-Tiraden großzügig hinweg. Aber es lässt sich nicht mehr ignorieren: den Münchner, über den ich immer lästere, gibt es gar nicht. Der Münchner über den ich lästere, ist nämlich gar kein Münchner. Nein, der Münchner – bin ich.