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Jannis von Oy: Anna Elisabeth Schiller, Münchnerin

Ein Gefangener Münchens. Ein Freigänger, das ja, aber alle zwei Wochen muss er zurückkehren und sei es nur, um ihn zu erinnern, dass er es eben nicht ist, frei, auf unbestimmte Zeit nicht sein wird. Gefesselt an eine Stadt, die er hasst, Berufung nicht eingelegt, Urteil akzeptiert.

Ein Gefangener, murmelt Alexander leise, als sei ihm das Bild gerade erst eingefallen, und nicht sein Begleiter seit mehr als einem Jahr.

 

Nur langsam hebt er den Kopf, als der Jubel neben ihm aufbrandet und starrt auf die Leinwand. Mario Gomez hat gerade das 1:0 geschossen, stemmt seine Hände in die Hüften und schaut triumphierend in den Himmel. Alexander schüttelt den Kopf. Früher war Gomez nicht so unsympathisch. Es ist nicht nur seine Wahrnehmung. Spieler verändern wirklich ihre Persönlichkeit, sobald sie zu den Bayern wechseln, als sei diese Veränderung geheimer Vertragsinhalt.

 

Missmutig schaut er auf die Currywurst und die vermanschten Pommes vor ihm, 4,40 Euro hat er dafür ausgegeben. Er versteht nicht, dass die Münchner für dieses Lokal schwärmen. Im Bergwolf haben sie die beste Currywurst der Stadt, haben sie ihm gesagt. Und nun sitzt er hier, umgeben von so genannten Bayern-Anhängern, und ärgert sich über das rausgeworfene Geld. Er schaut auf die Uhr und bestellt ein zweites Augustiner, er hat noch eine knappe Stunde, bevor er Anna treffen muss.

 

Zwei Jahre ist es nun her, dass er das erste Mal in München gewesen ist. Damals hatte er Fabian besucht, der sechs Monate zuvor nach München gezogen war und sie wollten ein entspanntes Saufwochenende verbringen.

Am ersten Abend waren die einzigen sympathischen Menschen, die sie trafen, die fetten, zahnlosen Frauen im Leopardenkostüm, mit denen sie auch dann noch Discofox tanzten, als Andrea Berg schon in Dauerschleife lief. Das war im Roy, wo sie aus Verzweiflung gelandet waren, nachdem sie in drei Clubs und zwei Kneipen abgewiesen worden waren, sogar in der Favorit Bar, die Fabian als seine Stammkneipe bezeichnet hatte.

 

Am zweiten Abend lernte er Sabina kennen, auf einer halbprivaten Party im K&K. Die Produktionsfirma, bei der Fabian arbeitete, feierte die abgeschlossenen Dreharbeiten an einer Fernsehserie über deren erbärmliche Qualität sich alle Mitarbeiter im Klaren waren. Doch sie schienen zufrieden zu sein. Hauptsache, sie arbeiteten in den Medien und konnten 24/7 die gleichen Klamotten und Frisuren tragen. Sie bewegten sich in einer Welt von Ihresgleichen, und wo auch immer sie waren trafen sie verschiedene Ausführungen von sich selbst. Die Jungs hatten sich ihre frisch gewaschenen Haare ins Gesicht gekämmt und die Mädchen strahlten eine Sauberkeit und Unschuld aus, die nur ein Leben hervorbringen kann, in dem Dramen nicht vorgesehen sind.

 

Sabina war anders. Inmitten all dieses Jungmädchengetues wirkte sie schmutzig und erwachsen. Als sie ihn ansah und lächelte wirkte ihr Lächeln nicht nur kokett wie das der anderen, sondern tatsächlich sexuell implizit.

 

Sie kam auf ihn zu und sprach ihn an: “Du siehst verloren aus”. Und, als sei sein Auswärtigsein auf dem ersten Blick ersichtlich: “Gefällt dir München nicht?”.

“Bis eben habe ich es gehasst”, antwortete Alexander. “Man ist von faschistischen Türstehern abhängig und wacht morgens mit dem schlimmstmöglichen Ohrwurm auf. Jeder hier scheint das als normal zu empfinden, doch das ist es nicht”.

Sie lachte und zog ihn an sich: “Lass uns gehen.”

Alexander nahm ihre Hand und sie gingen.

 

Im Flaschenöffner küssten sie sich, an der Reichenbachbrücke zog er ihr den Slip aus, auf einer Kostümparty schlossen sie sich im Badezimmer ein.

 

Als er am nächsten Morgen aufwachte, ihr rechter Arm um seine Hüfte, ein Bein zwischen seinen, wunderte er sich über den fehlenden Fluchtimpuls.

Sie fragte ihn, ob er Frühstück wolle. Er wollte und blieb. Sie setzte Kaffee auf, deckte den Tisch und erzählte ihm von ihrer Doktorarbeit, von Termiten, die Ackerbau betreiben und dem Schlafverhalten der Stockenten. Es wurde Abend und sie fragte, ob er Abendessen wolle. Er wollte und blieb. Sie schnitt Gemüse klein, die Paprika in kleine Stücken, die Zucchini in lange Streifen und erzählte ihm von der Anpassung japanischer Krähen an urbane Lebenswelten. Und er hörte zu und streichelte mit seiner Hand ihren Rücken entlang und sie drehte sich um, das Messer noch in der Hand, legte ihren Kopf an seine Brust und ließ sich in den Arm nehmen und drücken, als hätte sie seit Jahren darauf gewartet.

Am nächsten Tag begleitete sie ihn zum Bahnhof, sie küssten sich, als er in den Zug stieg, zurück nach Berlin, und er sah ihr nach, als sie ging, zurück in ihre Wohnung in der Astaller Straße, die er zwei Tage nicht verlassen hatte. Und er dachte an sie, als er sein Gesicht an die Scheibe lehnte und hinaussah.

 

Geboren in Wolfratshausen, die Großeltern mit den Stoibers befreundet, zur Schule gegangen mit den Kinder der Starnberger Society, kleine Sternchen in München und Umgebung, die verglühen, sobald sie ihre bayerische Umlaufbahn verlassen, ein erstes, abgebrochenes Studium der Kommunikationswissenschaften. Alexander empfand es als Wunder, dass aus diesen biographischen Daten ein solcher Mensch hervorgehen konnte. Ein Wunder, ja, und er schloss die Augen und ließ die Dörfer an sich vorbeiziehen. Dörfer, in denen Menschen lebten, die mit seinem Leben nichts zu tun hatten.

 

Und nun sitzt er hier, im Bergwolf, umgeben von jungen Menschen aus eben diesen Dörfern, aus Oberbayern, der Oberpfalz, Obergiesing, junge Menschen die jubeln, denn Martin Demichelis hat gerade das 2:0 geköpft. Und alle klopfen sich auf die Schultern, prosten sich zu, hurra. Ein weiteres Tor der Michael Bublés des deutschen Fußballs, ein weiteres Tor für die Gewissheit, zu den Gewinnern zu gehören, ein weiteres Tor als Beleg, sich nicht sorgen zu müssen.

Hätte er Sabina nicht getroffen, im K&K, keine 200 Meter entfernt, Alexander wäre heute nicht hier.

 

Nach ihrem ersten Treffen hatte er sie noch einmal in München besucht und sie ihn zweimal in Berlin. Dann erzählte sie es ihm.

Schwanger sei sie, ein kleines bayrisches Leben in ihrem Bauch, von ihm gezeugt als sich sein schwitzender Körper auf ihr bewegte, in ihr, begierig, zugeneigt; ein Unfall nicht wirklich, mehr eine Unachtsamkeit, ein kleines Leben, dass nun darauf pochte, gedeihen zu dürfen, und dieses Recht würde es bekommen, daran gebe es keinen Zweifel und auch dass die Welt in die es geboren würde, keine Kreuzberger sein würde, sondern eine bayrische, wo schon die Großeltern auf ihn warteten und die Urgroßeltern, die Urgroßeltern, die mit den Stoibers befreundet sind, genau die und ob er sich vorstellen könne, nach München zu ziehen.

 

Nein, könne er nicht. Die Antwort kam so schnell, dass sie verletzend wirkte.

Alexander erzählte von seiner Arbeit, die er nicht verlassen könne, nicht verlassen wolle. Eine Lüge. Er hasste seine Arbeit. Er hasste seine Arbeit so sehr, dass er oft schon am Vormittag seine Jungs anrief um sich zu verabreden, auf ein Feierabendbier, irgendwas, auf das er sich freuen konnte, etwas, dass ihn den Tag überstehen ließ.

Seinen Job hinschmeißen, abhauen, das war immer eine Option gewesen; das wenige, was er besaß aufgeben, verschenken oder verkaufen, er hatte ja keine Verpflichtungen, war niemandem verantwortlich. Ins Ausland gehen, dort kleine Marias zeugen oder Ernestos, seinetwegen auch Nadeschdas und Nikitas, sie morgens in die Schule bringen, in ihren Uniformen, in denen sie jeden Montag die Nationalhymne eines ihm fremden Landes singen würden. Oft hatte er sich das ausgemalt.

Weit weg, ja, aber nicht nach Bayern, nicht nach München. Wenn er schon die Freiheit jederzeit verschwinden zu können, verloren habe, dann würde er ausharren, in Berlin, dem einzigen Ort, den er jemals als Heimat empfinden könnte.

 

Sabina fragte nicht weiter. Sie sagte auch nichts, als er sich wochenlang nicht meldete und sie sagte nichts, als sie ein letztes Mal miteinander schliefen, als sie spürte, wie sein Penis in ihr erschlaffte, er von ihr abließ, ins Bad ging und sich einsperrte.

 

An einem Sonntag im März rief sie an: “Es ist soweit“. Er packte seine Sachen, ging zum Bahnhof und nahm den ersten Zug nach München. Er war rechtzeitig da, durchschnitt die Nabelschnur, benachrichtigte seinen Arbeitgeber und blieb zwei Wochen. Er kochte, er räumte auf, er ging mit seinem Baby spazieren. Nur einmal verließ er die beiden, unter einem Vorwand, sah sich in einer Kneipe Fußball an und trank ein Bier.

Nach vierzehn Tagen umarmte er Sabina, gab dem Baby, ein Mädchen, einen Kuss und fuhr zurück nach Berlin.

 

Das ist jetzt 15 Monate her, seitdem kommt er alle zwei Wochen nach München, zu seiner Tochter, die auf ihn zu rennt, wenn sie ihn sieht, lacht, sich in die Luft schmeißen lässt und ihn Papa nennt. Seine Tochter, die er vergisst, sobald er in Berlin ist, als würde er im Zug nicht nur Raum überwinden, sondern auch Bewusstsein transzendieren. Er denkt nicht an sie und spricht nicht von ihr, auch nicht mit seinen Freunden, die ihm Berlin nicht ruinieren wollen mit Fragen nach München.

 

Einmal nur hatte er sie von sich aus ins Gespräch gebracht. Es war bei einem Konzert, er hatte Juliane kennen gelernt, eine Münchnerin, für nur wenige Tage in Berlin, und er erzählte ihr von seiner Tochter in München. Juliane, die nicht überrascht wirkte, erklärte ihm, dass sie das möge: Männer in Verantwortung ohne jede wirkliche Verantwortung.

Da sie ihm gefiel, nahm er sie in eine der wenigen wirklich dreckigen Alkoholikerkneipen, die es in seinem Kreuzberger Kiez noch gab, sie fühlte sich privilegiert und so betranken sie sich für den Gegenwert eines Wodka Red Bulls in einem durchschnittlichen Münchner Club bis in den frühen Morgen. 

 

Ein paar Stunden später, Juliane hatte sich gerade wieder zu ihm ins Bett gelegt, fragte sie ihn, ob er wirklich eine Tochter habe. Sie war nach dem Aufstehen durch die Wohnung gestreift, hatte die Bilder von verlassenen Hotellobbys gesehen, die Zeichnungen nackter Männer am Pool, doch kein Anzeichen eines Kindes, kein Spielzeug, kein Stofftier, nicht mal ein kleines Foto an der Kühlschranktür.

“Nein, habe ich nicht, sorry”, antwortete Alexander, drehte sich um und schlief ein zweites Mal mit ihr, weil er nicht wusste, was er sonst tun solle.

 

Aber auch das ist jetzt schon ein halbes Jahr her und während Alexander noch an Juliane denkt, fällt der Anschlusstreffer, das 2:1. Einige Bayernfans im Stadion beginnen zu pfeifen. Er kann es nicht fassen. Was für ein verwöhntes Pack. Und er hat nun eine Tochter, die aufwächst in dieser Münchner Verdorbenheit.

 

Anna Elisabeth Schiller, 1 Jahr alt, aus München. Es klingt nicht so, als hätte es etwas mit seinem Leben zu tun. Und doch wird er sie heute Abend ins Bett bringen. Und sobald sie schläft wird der Abend ablaufen wie immer. Er wird ein Buch lesen wollen, sich aber nicht konzentrieren können. Er wird stundenlang die Zeitschriften von Sabina durchblättern, den New Yorker oder die italienische Vogue. Irgendwann wird er sich auf die Couch legen, gleich neben Annas Kinderbett und versuchen zu schlafen. Doch er wird wach bleiben, wie jedes Mal, sich vorstellen, wo Sabina ist und wann sie nach Hause kommt und bei jedem Geräusch aus dem Treppenhaus denken, es sei sie.

Erst wenn sie wirklich nach Hause kommt, um zwei Uhr oder um fünf Uhr oder auch um sieben Uhr, wird er die Augen schließen, zuhören, wie sie die Zähne putzt, ein Glas Wasser trinkt, ins Zimmer kommt, sich auszieht und ins Bett legt. Und erst dann, wie sie da liegt und leise atmet, wird er einschlafen.

 

So ähneln sich alle Nächte. Wie sich auch die Tage ähneln. Anfangs hatte er sich noch vorgenommen, München und Umgebung kennen zu lernen. Er besuchte mit Anna Schloss  Nymphenburg, spazierte am Flaucher entlang, fuhr einmal sogar mit der BOB nach Schliersee, doch all diese Orte, die Fröhlichkeit, der Wohlstand, die Natur, sie machten ihn unglücklich.

Einzig im Westpark fühlte er sich einigermaßen wohl, auch wenn er nicht genau sagen konnte, weshalb. Aber weil dem so war, hatte er die Tage mit Anna ritualisiert. Windeln wechseln, Brei zum Frühstück, anziehen …leise, leise, psst, psst… Mama nicht aufwecken. Dann mit dem Bus in den Park, Zeit vertreiben, bis um elf Uhr das Café öffnet, sich einen Platz am Wasser suchen, einen Russn bestellen für ihn und einen Kakao für sie. Dann auf die Bank im chinesischen Garten, die Gänse beobachten, die sie beide sehr lieben oder die Schildkröten, die sich auf den immer gleichen drei Steinen sonnen.

Und an guten Tagen schläft Anna mittags in ihrem Kinderwagen ein, so dass er sich daneben legen kann, ins Gras, und sich wegträumen aus München.

 

So wird morgen sein und übermorgen und viele Tage, die folgen, denkt Alexander als er aufsteht um zu zahlen. Er ist spät dran, sie warten auf ihn im Park an der Kazmaierstraße. Sabina wird ihm den Schlüssel zur Wohnung geben, ihn daran erinnern, noch Milch zu kaufen oder Windeln oder Brei, was eben fehlt und dann wird sie gehen, wohin auch immer. Und wie sie geht wird er bleiben, Anna auf dem Arm, auf einem Spielplatz in München.

 

Als er schon an der Tür steht, fällt das 2:2. Er dreht sich um und sieht die entsetzten Gesichter der Bayernspieler. Alexander lächelt. Er weiß, mehr Glück wird er in naher Zukunft nicht empfinden können.