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Anne Bergmann: Roadstory 

Die Landschaft fliegt an mir vorüber, weht durch meine
Haare, prallt in meine Augen und bringt sie zum Tränen. Ich
habe meinen Kopf aus dem Fenster gelehnt, so weit es geht,
obwohl Ramon das nicht gefällt, weil er es für gefährlich
hält, aber er ist weder meine Mutter, noch mein Vater. Erst
recht nicht mein Großvater. In seiner Gegenwart kann ich
tun, was ich will.
Der Geruch unserer Liebe hängt noch in meinen Kleidern,
aber langsam nimmt die Landschaft alle Gerüche mit sich,
auch den Geruch unserer Liebe – nicht aber unsere Liebe
selbst. Haselnußmilch. Wenn ich mich hinunterbeuge, ganz
weit, um die Nase in die Nähe meines Schoßes zu bringen,
rieche ich Haselnußmilch.
Aber wenn ich meinen Kopf wieder hebe und aus dem Fenster
strecke, rieche ich nichts mehr, so schnell weht die
Landschaft an mir vorbei, durch mich hindurch - dann
bekomme ich keinen Geruch mehr zu fassen, so, wie die Augen
nichts mehr zu fassen bekommen, wenn die Bilder zu schnell
an ihnen vorüber rasen.
Irgendwann muß ich den Slip wechseln, denn der wird den
Geruch unserer Liebe behalten und auch den Geruch all der
Tage, da kann die Landschaft noch so schnell durch mich
hindurch wehen.
Ich ziehe meinen Kopf wieder ins Taxi, blicke Ramon an und
sage: „Ich muß mir neue Unterwäsche kaufen.“
„Was?“
„Neue Unterwäsche. Du wirst sonst nicht mehr so viel Spaß
dabei haben, mich zu vögeln.“
Er lacht und sagt: „Dich zu vögeln macht immer Spaß,
Pauline.“
Er läßt sich meinen Namen auf der Zunge zergehen, lutscht
an ihm herum wie vorhin an meinen Brustwarzen, die sich bei
der Erinnerung daran wieder erhärten, als seien sie es, die
sich erinnerten, nicht mein Kopf. Ich finde es schön, wie
Ramon meinen Namen ausspricht. Wie er ihn nicht verkürzt,
verstümmelt, sollte ich eher sagen – zu Pauli oder Paula
oder Line, so, wie viele Leute es tun, obwohl sie wissen,
wie wenig ich das mag.
Ich sage: „Trotzdem finde ich es nicht sehr angenehm, in
den ungewaschenen Klamotten herumzulaufen.“
„Und, was denkst du, von welchem Geld sollen wir dir neue
Sachen kaufen?“
Ich zucke mit den Schultern und verschiebe das Problem auf
später.
Unser Taxi haben wir geklaut, nein, eigentlich nur geborgt,
nur geborgt. Es stand am Rand der Straße, als hätte jemand
es vergessen, sogar der Schlüssel steckte noch.
Na ja gut, eigentlich gehört es Ramons Onkel. Er ist
derjenige, der es vergessen hat. Oder auch nicht. Aber er
fährt sowieso kaum noch, sondern läßt, besser gesagt: ließ
das Taxi am Rand der Straße stehen und verstauben.
Ich wette, es vollführt innerlich gerade Luftsprünge, weil
es endlich wieder einmal fahren darf. Und auch ich mache
innerliche Luftsprünge. Die Landschaft weht durch mich
hindurch und zerzaust mein Haar, ich bin verliebt, ich
fühle mich frei! Mit dem rechten Arm winke ich den Bäumen
zu und rufe: „On the road!“
Ramon lacht und schiebt eine Kassette ins Deck – eine
Melodie quillt heraus und läßt sich von der Landschaft
fortwehen, nachdem sie unsere Ohren gestreift hat.
„Ich könnte für ein paar Tage irgendwo kellnern“, sage ich.
„Hm?“
„Um unser Geldproblem zu lösen. Oder uns zumindest ein
bißchen Geld zu verschaffen.“
„Und wie stellst du dir das vor?“
„Es gibt bestimmt Kneipen oder Bars, die kurzzeitig eine
Aushilfe suchen. So etwas gibt es immer.“
„Wie du meinst“, sagt Ramon. Er sagt nicht wie mein
Großvater: „Mach was Vernünftiges, Mädchen.“
Er kratzt sich am Kinn und sagt, ohne den Blick von der
Straße zu nehmen, die sich vor uns wie Geschenkband
aufrollt: „Ich habe auch eine Idee. Wir setzen uns in der
nächsten Stadt vor ein Kaufhaus und machen Musik – ich
spiele auf meiner Mandoline, du singst.“
„Ich kann nicht singen.“
„Ach, ein paar kleine Melodien wirst du doch wohl noch
hinbekommen. Wir können auch improvisieren.“
„Wenn ich sage, ich kann nicht singen, dann kann ich
wirklich nicht singen. Ich bringe Glas nicht zum
Zerspringen, sondern zum Schmelzen.“
Er zuckt mit den Schultern. „Meinetwegen. Dann spiele ich
eben alleine.“
Der Himmel ist so blau wie das Lieblingskleid meiner Mutter
... aber ich möchte nicht an sie denken.
Ich schließe meine Augen und fege meine Gedanken woanders
hin, dann öffne ich sie, um wieder aus dem Taxi zu blicken.
Der Himmel ist blau wie Lavendelseife; so blau, wie der
schönste Tag meines Lebens sein könnte.
Die Sonne fährt hinter uns her wie ein Verfolger. Ihr kommt
es nicht in den Sinn, uns zu überholen. Sie zieht den
Schatten des Taxis in die Länge. Würde der Schatten nicht
auf der Straße liegen, sondern stehen, würde er umkippen
wie ein Mercedes, der im Elch-Test versagt hat.
Nach einer Weile frage ich: „Warum nennt man das eigentlich
spielen?“
„Was?“
„Musik machen. Man sagt doch: Gitarre spielen, Mandoline
spielen, diese Band spielt heute Abend.“
„Keine Ahnung. Darüber habe ich mir noch nie Gedanken
gemacht.“
„Eigentlich ist Musik machen doch meist gar kein Spiel,
sondern eher ein Kampf oder Ausdruck der Gefühle oder
Kommunikation.“
Ramon lacht und sagt: „Und wieso nennt man vögeln
miteinander schlafen? Eigentlich schläft man doch gar
nicht, sondern kämpft und drückt seine Gefühle aus und
kommuniziert.“
Während er redet, reiße ich unsere letzte Packung Pistazien
auf, hole einige heraus und bewerfe ihn damit. Er lacht,
dann lache ich auch. Sogar das Taxi scheint zu lachen, denn
es schüttelt uns hin und her, aber das kann auch an der
schlaglochübersäten Straße liegen. Lachend fahren wir dem
Sonnenuntergang davon, um den Tag noch ein wenig in die
Länge zu ziehen.
Zur Zeit sind die Nächte lau. Morgens gleicht der Tau einem
leichten Schleier, der kühl im Gras liegt und die Füße
erfrischt. Noch hat der Herbst nicht Einzug gehalten.
Meist schlafen wir am Rande von Feldern, deren Stoppeln
hart durch unsere Isomatten und Schlafsäcke stechen, unter
dem nackten Himmel, von dem uns nicht mehr als die Plane
unseres kleinen Zeltes trennt.
Heute haben wir ein verblühtes Rapsfeld gefunden, das von
außen weicher aussieht, als es ist, aber wir machen es uns
bequem, so gut es geht.
Dann legen wir eine Isomatte vor den Eingang des Zeltes,
setzen uns darauf und blicken zum Horizont.
„Ob das Gewitter zu uns zieht?“, frage ich.
In der Ferne zucken geäderte Blitze über den Himmel, aber
ihnen folgt kein Donnern. Es ist ein Gewitter, das leise
durch die Nacht schleicht wie ein Dieb. Wetterleuchten.
„Keine Ahnung“, gibt mir Ramon zur Antwort. „Es kommt
darauf an, aus welcher Richtung der Wind kommt.“
Er steckt die Spitze seines Zeigefingers in den Mund und
hält sie dann in die Luft. „Zur Zeit geht gar kein Wind.“
Ich grinse ihn an, denn das hätte ich ihm auch sagen
können. Mein Haar, noch zerzaust von der Fahrt, liegt
unbewegt auf meinen Schultern.
Er hält mein Grinsen für ein Lächeln, und das ist gut so,
denn es bringt ihn dazu, seinen Arm um meine Schultern zu
legen.
Nach einer Weile beugt er sich zu mir herab und stempelt
einen Kuß auf meine Lippen. Einen langen Kuß, einen
feuchten Kuß, der mich auf die Isomatte drückt wie eine
leise Kraft, gegen die ich nichts ausrichten kann. Dann
legt sich Ramon auf mich, ich öffne die Beine, und
plötzlich spüre ich sein Begehren, das so hart ist, wie
meines weich ist und feucht. Mit jedem Kuß, mit jedem Mal,
da unsere Zungen sich begegnen, möchte ich ihn dringlicher
spüren, tiefer in mir drin. Er schiebt den Saum meines
Kleides nach oben.
Was ich jetzt spüre, ist seine Hand, die nach meinem Slip
tastet. Nach einer Weile rückt er ein Stück von mir ab und
zieht mir den Slip von den Hüften. Während er mit einer
Hand den Gürtel seiner Hose öffnet, hält er sich den weißen
Stoff meines Slips an die Nase, um meinen Geruch
einzuatmen, dann läßt er ihn zu Boden fallen.
Das Klicken seiner Gürtelschnalle ist lauter als das
Gewitter, das den Horizont noch immer zum Leuchten bringt.
Genauso achtlos wie meinen Slip läßt Ramon seine eigenen
Sachen zu Boden fallen. Seine Lust ragt mir nackt entgegen,
und ich öffne meine Beine, zeige Ramon die Blöße meiner
Lust, bis er sie wieder bedeckt, ihr die Nacktheit nimmt,
indem er in sie dringt. Ich schließe die Augen und koste
ihn aus, sein Gewicht auf meinem Körper, seinen Atem in
meinem Ohr, seine Stöße und seine Lust, die auch zu meiner
Lust wird im flackernden Licht des Gewitters in der Ferne.
Das Gewitter kommt nicht zu uns.
Später in der Nacht liege ich im Zelt, eingewickelt in
meinen Schlafsack, und warte auf das Gewitter, aber es
kommt nicht. Ich liege auf dem Rücken und starre nach oben.
Mein Blick bricht sich an der Zeltplane, die aussieht wie
die Nacht, nur ohne Sterne. Der Boden unter mir fühlt sich
kalt und hart an, aber wenigstens habe ich warme Füße.
Ramon atmet so leise, daß ich ihn kaum hören kann, so kommt
es mir vor, als läge ich allein im Zelt auf diesem Feld,
das überall sein könnte und nirgendwo. In Nächten wie
diesen fühle ich mich verloren, dann sehne ich mich nach
meinem Bett zurück, nach meinem Zuhause, meiner Schwester,
sogar nach meinem Großvater.
Was mich diese Gefühle vergessen macht, ist der Schlaf.
Oder Ramons Nähe, seine Lust, sein Begehren, sein Schwanz
in meiner Mitte ...
Die ersten Nächte haben wir nur gevögelt. Die Nächte, die
kamen, nachdem wir das Taxi geborgt und entschieden hatten,
nicht zurückzukommen. Nur noch zu fahren, wegzufahren,
vielleicht unser ganzes Leben lang, zumindest diesen Sommer
lang. Das hat mich mein schlechtes Gewissen vergessen
lassen und die Gewohnheit, die sich wie Heimweh anfühlte.
Sein Schwanz hat alles in mir ausgefüllt, und seine Lust
hat das Heimweh überschwemmt.
Aber jetzt füllt er mich nicht aus, und ich wage es nicht,
ihn zu wecken, denn er schläft so sanft, so tief.
Ich fahre selbst mit der Hand unter meinen Slip und taste
nach der seidigen Nässe zwischen meinen Härchen, aber bevor
ich auch nur einen Zipfel meiner Lust erwische, schlafe ich
ein.
Das Leben ist schön, wenn die Sonne scheint und das Licht
des Tages das Glimmen der Nacht überstrahlt. Ich erinnere
mich an meine nächtlichen Gedanken und Gefühle nur vage wie
an Schatten.
„Wohin fahren wir heute?“, frage ich.
Die Sonne liegt vor uns auf der Straße und blendet uns. Hat
sie es doch geschafft, uns einzuholen.
„Ich weiß nicht“, sagt Ramon. „Immer der Schnauze des Autos
nach, würde ich sagen.“
„Was hältst du davon, die Schnauze in die nächste Stadt zu
lenken, deren Marktplatz zu suchen und dort ein wenig
Mandoline zu spielen?“
„Und du?“
„Ich bewache den Hut und höre zu.“
Ich lächle ihn an, aber er sieht es nicht, denn mit
zusammengekniffenen Augen blickt er auf die sonnenglänzende
Straße.
„Von welchem Hut redest du?“
Ich zucke mit den Schultern. „Wir könnten einen basteln“,
sage ich. „Aus Papier. Oder wir kaufen irgendwo einen
Strohhut.“
Wir fanden einen Strohhut. Er lag am Rand der Straße, in
der Nähe des Ortseingangsschilds, als wollte er uns in der
Kleinstadt willkommen heißen.
„Halt!“, rief ich.
Ramon zuckte zusammen und sagte: „Was ist los?“
„Hier liegt ein Hut.“
„Mußt du mich so erschrecken?“
Er bremste und brachte das Taxi zum Stehen. Ich sprang aus
dem Auto und hüpfte zum Ortseingangsschild, in dessen
Schatten der Hut lag. Meine letzte bewußte Erinnerung an
ein derartiges Hüpfen liegt einige Jahre zurück, und ich
glaube, damals war es wegen eines Plüschhundes mit einem
rotem Halsband, der heutzutage auf einem höheren Brett
meines Regals verstaubt. Des Regals, das ich verlassen
habe, meine ich.
Der Strohhut war auch verstaubt, aber es war nicht der
Staub der Zeit, der auf ihm lag, sondern der Staub der
Straße.
Ich klopfte den Hut ab und setzte ihn Ramon, der mich
inzwischen eingeholt hatte, auf den Kopf.
„Gut siehst du aus“, sagte ich.
Der Hut hatte eine breite Krempe und warf Ramon einen
löchrigen Schatten aufs Gesicht.
„Besser, wir lassen das Taxi hier stehen und laufen in die
Stadt.“
„Warum?“, fragte ich.
„Hier kennt bestimmt jeder jeden, da wird ein fremdes Taxi
gleich auffallen.“
„Zwei Fremde werden auch gleich auffallen.“
„Aber ohne das Taxi sind wir nicht so verdächtig.“
„Wie du meinst.“
Also ließen wir das Auto am Rand der Straße stehen – wie
Ramons Onkel es auch gemacht hatte. Ich drehte mich zu ihm
um und sagte: „Keine Angst, wir kommen dann gleich wieder.“
Aber es blieb unberührt von meinen Worten.
Ich griff nach Ramons Hand, und gemeinsam gingen wir die
Straße entlang, die in die Stadt führte. Von hinten sahen
wir vielleicht aus wie eine Karikatur des Tramp-Pärchens:
Charlie Chaplin und Paulette Goddard, die Hand in Hand der
Zukunft und dem Ende des Films entgegen gehen.