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Daniel Zipfel: Nakhoda nannten sie mich.. 

Nakhoda nannten sie mich, Gottloser. Nakhoda nannten sie mich, Fährmann.
In der Luft klebt der Duft von Keksen, und zwischen den Polstern liegen alte Krümel. Omids Frau bäckt noch oft Mandelkekse. An der Wand hängen bunte Tücher, und in der ganzen Wohnung hängt Musik von Ahmad Zahir. Sadafs Kinder haben Reis auf den Teppich geworfen, und Omid steigt hinein, als er die Wasserpfeife holt, und den restlichen Abend wird ihm der Reis auf den Schuhen kleben. Das Regal ist verhangen mit roten Tüchern, die blaue Muster haben, ein grünes Tuch hängt über dem Sofa. Die Mandelkekse werden gegen Qabeli ausgetauscht und Sadafs Kinder verscheucht. Das Fenster ist offen, damit die Musik von Ahmad Zahir die europäische Nacht färbt. Aber nur bis zehn Uhr, wegen den Nachbarn. Sadafs Kinder wollen das silberne Tuch vom Glaskasten ziehen und bekommen von Sadaf eine Ohrfeige. Omid bietet mir das Mundstück seiner Wasserpfeife an, «Nimm, Tariq, das ist Tabak von daheim.» Sadafs Kinder plärren Ahmad Zahir ins Wort, bis Omids Frau aus der Küche kommt und ihnen solange Mandelkekse in den Mund stopft, bis sie ruhig sind und sich unter das rote Tischtuch verziehen. Der Tabak ist aus Kabul, und Omid sieht mich an, als hätte er mir Kabul in den Mund gesteckt, dabei schmecke ich hauptsächlich das Gewürz, das im Qabeli war. Sein Tisch ist von Ikea, ich habe ihm geholfen, ihn herzufahren in meinem VW-Lader, als ich den noch hatte. Sadafs Kinder kriechen wieder hervor und hängen sich an die Hosenbeine ihres Vaters, der zwischen den Polstern und Krümeln sitzt und dem Qabeli hinterherseufzt. «Das Gewürz», seufzt er, «meine Frau hat versucht, die Mischung selbst zu machen, aber es war zuviel Kardamom für Qabeli, und dann musste sie alles wegschütten.» «Du bekommst hier keinen guten Kardamom», sagt Omid, und aus seinem Mund kommt Kabul und verhängt die Luft mit Tabakgeruch. «Du bekommst hier überhaupt kein gutes Gewürz, alles zu trocken, weil es importiert wird. Tariq wollte meiner Frau mal frischen Kardamom bringen, als er noch die Gewürze für den Türken herumtransportiert hat, Tariq, was ist aus dem Türken eigentlich geworden? Vielleicht sucht er ja wieder jemanden. Tariq?» Sadaf hört nicht zu, er hängt in dem Geschmack von Qabeli, hat den Kopf zurückgelegt und seine Lippen bewegen sich zu Ahmad Zahir. Seine Finger tasten nach den Zigaretten, russische Marke, haben auch die Kunden oft geraucht. Ich kaue an einem Mandelkeks, aber der Keks kann auch nichts reparieren. «Tariq», sagt Omid und drückt meinen Fingern das Mundstück in die Hand, «du hättest den VW nicht verkaufen sollen, dann wäre jetzt auch alles besser. So ein gutes Auto hätte ich daheim haben sollen, daheim hätte sich ordentlich was damit machen lassen.» Bäcker war Omid daheim, aber für die Lieferungen musste er immer eigene Fahrer anstellen. Omid starrt auf den Teller mit Mandelkeksen, und Kabul hängt in seinem Blick. Sadaf stampft im Takt die Musik aus der Luft in den Boden und schließt die Augen. Seine Kinder spielen mit kitschigen Nachbildungen der Bamiyan-Statuen. Eigentlich haben wir Ahmad Zahir daheim nicht gekannt, aber Omid hat die CD bei einem Pakistani gefunden und ist ganz stolz darauf. Vielleicht hätten wir Ahmad Zahir daheim ja gehört, wenn wir einen CD-Player gehabt hätten. Mir ekelt vor dem Kardamomgeschmack von Omids Speichel auf dem Mundstück und ich lege es weg. «Der VW, Tariq, daheim mit dem VW, Tariq.» Jetzt schließt auch Omid die Augen, damit er nur noch Kabul schmeckt und Ahmad Zahir hört. Ich drehe mich weg von Sadaf, die russischen Zigaretten will ich nicht riechen. Der Aschenbecher ist aus rauchigem Glas, das bricht leicht und schneidet gut. Fährmann nannten sie mich, Gottloser, aber Nejatdehinda war ich, der Retter.

Die Nacht war dunkel, und das war wichtig. Wolken hatten den Mond zugedeckt, und die heiße Luft setzte sich wie ein dicker Mann auf die griechische Stadt. Das Loch im Zaun war derzeit hinter den Müllcontainern, und weil sie nicht ausgeleert wurden, hatte es noch niemand bemerkt. Ich hatte ihnen gesagt, dass sie dort warten sollten, und ich wusste, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als mir zu trauen. Sie warteten also, im Sitzen, so wie ich es ihnen gesagt hatte. Sie schwiegen, damit man sie nicht hörte, und kauerten sich zusammen, damit man sie nicht sah. Reglos, auch wenn ihnen die Ratten über die Hände huschten.
Sechs Kunden, einer Garantie, fünf Pauschal. Einer davon war mein Neffe. Es war eine ganz gute Gruppe, sie machten, was man ihnen sagte. Das war auch notwendig, denn niemand im Lager durfte etwas mitbekommen, irgendwer wollte sich sonst immer anschließen nach Italien. Ein Hazare aus Mazar war mir schon den ganzen Tag gefolgt. Natürlich hatte er kein Geld mehr gehabt. «Wer Griechenland bucht, bekommt Griechenland», hatte ich ihm gesagt, «Das ist auch bei meinen Kunden so.» «Europa», hatte der Hazare ausgespuckt, «Europa habe ich gebucht.» Ich sah auf seine Fingerkuppen, die schwarz waren vom Stempelkissen. Dann zuckte ich mit den Schultern und machte ein paar Umwege. Schließlich hatte ich ihn abgehängt.
Ich vergewisserte mich, dass der Garantiekunde in der Gruppe war, dann raunte ich ihnen zu, «Boote sind fertig», und ging los. Aus dem Schatten der Container liefen sie mir nach, einer nach dem anderen, gebückt und immer wegbleiben vom Licht.
Der Neffe stolperte und fiel hin. Ich hatte schon überlegte, ob ich ihn nicht zurücklassen sollte im Lager, es waren nicht nur die Prellungen, vor allem der  Knöchel machte Probleme. Dabei hatte ich ihm gesagt, das Lager sei sicherer als der Park. Ich zischte ein Weiter. Der Neffe wollte sich aufrichten, tat sich aber schwer mit dem Verband über den zerschnittenen Fingerkuppen und fiel wieder zu Boden. Einen Glasaschenbecher hatten sie gehabt auf dem Polizeiposten, zum Glück, der auch gleich zersprungen war, und mit Scherben, die gut geschnitten hatten. Unbedingt schnell machen, hatte ich ihnen für so einen Fall erklärt. Eine schnelle Bewegung wäre es gewesen, hatte der Neffe später den anderen erzählt. Kurz reißen, abwärts vom Zeigefinger, und dann noch mal extra den Daumen. Unbedingt nicht auf das Blut achten, denken auch nicht unbedingt. So wie ich es ihnen gesagt hatte. Dann war der Schmerz gekommen, und er hatte die Scherben fallen gelassen. Die Polizisten wollten ihn zurückreißen, aber er hatte es tatsächlich geschafft, die zweite Hand auch noch hinein zu stoßen. Der Herr Gelehrte hatte die Nase gerümpft bei der Erzählung, aber die anderen hatten dem Neffen auf die Schulter geklopft und seine Finger verbunden, die noch immer nicht aufgehört hatten, zu bluten. Am linken Zeigefinger fehlte die Kuppe, und beim Mittelfinger sah man den Knochen, aber immerhin hatten sie seine Finger nicht auf das Stempelkissen bekommen. Er hatte dafür die Polizeistiefel in den Magen bekommen, extra weit ausgeholt, und Polizeispucke ins Gesicht, und sein Magen hatte sich zusammengekrümmt und auf dem Polizeiboden entladen. Beim Hinausgehen waren sie ihm noch auf den Knöchel gestiegen, und seitdem humpelte er. Aber seine Fingerabdrücke hatten sie nicht, und der Bauer aus Kandahar, den ich nie schlafen gesehen hatte, steckte ihm eine von seinen russischen Zigaretten zu. Es war wirklich eine ganz gute Gruppe. Der Boxtrainer zog ihn weiter.
Hatten sie die Fingerabdrücke, kam man von Griechenland nicht mehr weg. Sonst war man nicht einmal da gewesen.
Das mit den Booten tat mir jetzt wirklich fast leid.
Hinter den Frachtcontainern würden sie liegen, und es wurde Zeit, die Gruppe vorzubereiten, dann würde nachher alles schneller gehen. Einen Moment lang sah ich sie mir noch an, im Dunkeln, kurz. Einen Augenblick später würde nichts mehr sein mit Schulter klopfen, nichts mehr mit Zigaretten teilen und nichts mehr mit Gemeinschaft. Einen Augenblick später würde jeder wieder allein und auf sich gestellt sein, mit dem misstrauischen, lauernden Ausdruck in den Augen, mit dem ich sie vor zwei Wochen an der iranischen Grenze übernommen hatte.
«In den Booten», raunte ich, so dass es alle hören konnten, «In den Booten ist nicht genug Platz für alle.» Dann achtete ich nur noch auf den Garantiekunden.
Wir kamen gut voran zwischen den Schatten der massigen Container und hatten nach zehn Minuten die Bucht erreicht. Der Boxtrainer zog als erster die Plane weg, gerade so weit, dass man das Boot hervorziehen konnte. Ich hielt den Garantiekunden am Arm fest und sah den anderen zu, wie sie stumm und hektisch an den Booten zerrten, ohne sich dabei anzusehen. Es war ein Organisationsfehler, das gab ich zu. Aber nicht meine Schuld, die Zentrale hatte mit weniger Leuten gerechnet. So etwas kam vor. Der Neffe war zu Boden gegangen, jemand hatte ihm gegen den Knöchel getreten, und der Boxtrainer hatte zusammen mit dem Bauern schon fast ein Boot im Wasser.
Ich zog den Garantiekunden zu unserem Boot, das schon im Wasser lag und löste das Seil. Inzwischen war am Ufer ein Gezerre um das zweite Boot entstanden. Der Restaurantbesitzer aus Herat schien es mit Glück ins Wasser gebracht zu haben, saß auch schon darin und klammerte sich an das Holz, während der Herr Gelehrte seinen Koffer hinein zu hieven versuchte. Wegen seinen Händen und dem Knöchel war der Neffe im Nachteil gewesen, aber jetzt erwischte er den Herrn Gelehrten noch im letzten Moment. Sie fielen zu Boden, und ich sah sie nicht mehr. Dann legte das Boot ab, und der Herr Gelehrte trieb reglos in der Bucht, den Kopf im Wasser, und die Brandung spülte ihn vom Meer zurück ans Ufer.
Aber so etwas konnte nun mal passieren.
 
Kurz vor Sonnenaufgang war die Dunkelheit absolut. Sie schluckte das Wasser, den Himmel und die Uhrzeit. Sie schluckte auch die anderen Boote, die Pauschalkunden darin und den Bug meines eigenen Bootes, wo der Garantiekunde saß. Die Dunkelheit mochte ich, weil sie die Ufer und das Meer verbarg, vor dem ich mich wie jedes Mal zu fürchten begann, ich mochte die Dunkelheit, auch wenn wir in ihr verschwanden.
Neben mir führte ein Seil in die Nacht. Ab und zu spannte es sich und zeigte an, dass die zwei anderen Boote irgendwo in der Dunkelheit noch da waren. Ich hatte den einzigen Kompass, auch wenn ich ihn schon lange nicht mehr brauchte für diese Tour. Solange wir noch in der Nähe von Patras waren, fuhren wir im dritten Gang, das war zwar langsam, aber das Tuckern des Motors war leise genug.
«Wie weit ist das Meer noch», fragte flüsternd der Garantiekunde, und ich antwortete nicht. Der Motor tuckerte und wie jedes Mal fürchtete ich mich. Manchmal wünschte ich mir, die Küstenwache würde uns aufhalten und zurückholen, bevor wir ins Meer kamen. Nichts anderes war das Meer nämlich als ein Vakuum zwischen zwei Ufern, wo es weder Griechenland gab noch Italien, weder Europa noch Afghanistan. Ich fürchtete mich vor dem Moment, wenn die Dunkelheit verschwinden und die Sicht klar sein würde, auf die Absolutheit des Wassers, auf einen unendlichen Zwischenraum, ausgefüllt mit Nichts.
Auf einem der Boote blitzte eine Taschenlampe durch die Dunkelheit. Ich fluchte zwischen zusammengepressten Zähnen. Das Licht sah man über Kilometer, bis Patras würde man es vielleicht sehen können. Der Neffe war es, natürlich der Neffe hatte es nicht ausgehalten. Hoffentlich war das andere Boot nicht so dumm, zurückzuleuchten. Der Lichtkegel der Taschenlampe flog nervös zwischen der Dunkelheit herum, beleuchtete schwarze Wellen und schwarze Luft und suchte hilflos die anderen Boote oder ein Antwortsignal. Alles blieb still. Vielleicht hatte der Neffe Probleme. Vielleicht war ihr Motor kaputt, was weiß ich. Vielleicht gab es den Neffen auch gar nicht mehr, und der Restaurantbesitzer aus Herat wollte panisch wissen, dass da in der Dunkelheit noch lebende Menschen waren. Nicht nur nichts. Das Licht zappelte noch eine Weile einsam in der Dunkelheit, dann erlosch es. Endlich.
Wie geplant erreichten wir die letzten Inseln vor dem Meer im Morgengrauen. Ich sah mich um. Die Küstenwache war schon näher, als ich vermutet hatte. Der Boxtrainer und der Bauer hatten das Schiff auch schon bemerkt und gestikulierten hektisch. In dem Boot mit dem Neffen und dem Restaurantbesitzer blieb es ruhig, ich konnte keinen der beiden sehen. Natürlich war es das Licht gewesen, ohne die Taschenlampe hätte die Küstenwache uns nicht so schnell gefunden.
Sie näherten sich schnell, wie immer, und kurz nachdem man die weiße Farbe ihres Schiffs erkennen konnte, traf uns der Scheinwerfer und ein großer Lichtkegel blieb auf uns kleben. Für einige Sekunden bewegte er sich noch hin und her, suchte nach weiteren Booten und kam dann gleich wieder zu uns zurück. Sie hatten uns früh erwischt diesmal, wegen der Taschenlampe. Früher als sonst.
Der Boxtrainer geriet in Panik und wollte ins Wasser springen, aber der Bauer hielt ihn zurück. Der Boxtrainer schrie und verpasste dem Bauern einen linken Haken, sodass er zurückflog und das Boot fast umkippte. In dem anderen Boot blieb alles still. Der Garantiekunde zitterte und starrte abwechselnd auf mich und auf das Schiff der Küstenwache. Ich wartete. Die Küstenwache ließ ihr Beiboot zu Wasser, dann plärrte das Megaphon. Ich kannte den Zirkus. Das Seil zwischen unseren Booten spannte sich, das war gut, so war es nämlich leichter, und dann schnitt ich. Unser Boot schaukelte für einen Moment, aber dann setzte der fünfte Gang des Motors ein, und ich und der Garantiekunde schossen aus dem Lichtkegel heraus. Hinter uns drehte auch der Bauer in den höchsten Gang, aber nach ein paar Metern spuckte der Motor und blieb stehen, sie hatten nicht genug Benzin im Tank, das war immer so bei Pauschalbuchungen. Dann sprang der Boxtrainer doch noch ins Wasser, sinnlos zwar, aber immerhin noch ein wenig mehr Arbeit für die Küstenwache, ein wenig mehr Ablenkung, zusätzlich. Sie hatten einen Stock mit einem Haken am Ende, und als sie den Bauern zu sich heranzogen, hielt er noch immer den Steuerknüppel des Motors in der Hand und hatte noch immer nicht verstanden, wieso der Tank nicht voll gewesen war.
Ich vergewisserte mich, dass der Garantiekunde da war. Die Tour der Pauschalkunden war beendet. Weit genug entfernt hörte ich das Megaphon wütend plärren, denen unser Boot entkommen war. Bis sie die anderen eingesammelt hatten, würden wir außer Sicht sein. Die Gruppe war ganz gut gewesen, manchmal funktionierte eben alles. Der Garantiekunde sah mich mit großen Augen an, und ich wusste nicht, wie er das meinte. Nakhoda, formte sein Mund. Dann war es egal und ich sah auf den Kompass. Vor uns lag das Meer.

Sadafs Kinder schlafen auf den Polstern zwischen alten Krümeln von Mandelkeksen. Auf dem Boden liegt der Schlauch der Wasserpfeife. Omid ist in seinem Sessel versunken, Kabulgeschmack im Mund und Kabulerinnerung hinter den geschlossenen Augen. Von dem offenen Fenster kommt europäische Nachtluft herein und bläht die bunten Vorhänge auf. Sadaf bewegt noch immer die Lippen zu den Texten von Ahmad Zahir, auch wenn die CD längst gestoppt hat. Ich schwitze und drehe mein Gesicht gegen die Nachtluft. Wir sind noch immer ein Boot auf dem Meer, ohne Ahnung vom Ufer. Dann stehe ich auf vom Sofa und gehe besser schlafen. An der Tür stehen meine schmutzigen Schuhe, von denen sich die Sohle löst. Bevor ich gehe, schalte ich das Licht aus und der Raum fällt ins Dunkle. Ich denke an meinen Neffen, wie jeden Abend.
Nakhoda nannten sie mich, Fährmann. Nakhoda nannten sie mich, Gottloser.