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Robert Weber: Vom Vergessen... 

Berlin, Abreise
Ich stelle mich an den Herd und koche Spaghetti mit Sardellensoße. Es ist Montag und abends geht der Nachtzug. Ich habe einen Platz im Liegewagen. Nachher kommt Michael, zum Trinken aber vorher zum Essen. Er kommt, wir trinken, wir essen, wir trinken und als der Wein alle ist, trinken wir noch jeder zwei Bier und hundert Gramm Wodka im Kino Krokodil. Die Zeit wird knapp, ich muss zum Zug, Bahnhof Lichtenberg. Michael sagt, er bringt mich noch zum Gleis, das ist nett von ihm. Auf dem Bahnsteig merke ich, dass ich vergessen habe, meine Uhr auf Winterzeit umzustellen. Ich bin eine Stunde zu früh. Die Gelegenheit ist günstig, noch Bier und Schnaps zu trinken. Wir entdecken eine kleine Pinte außerhalb des Bahnhofs. 
Tolle Kneipe, sagt Micha mit Blick auf die Getränkekarte und die Preise. Tolle Musik, sage ich, mit halbem Ohr den Schlagern lauschend. Zwei Bier und zwei doppelte Doppelkorn bitte, dann ist es aber wirklich Zeit. Ich schaue auf meine Uhr: Eine Stunde zu spät, also genau richtig.
Der Zug sieht lustig aus, eine alte, polnische Lock eben. Dampf zischt unter den Schienen hervor, so meint man. Der Schaffner am Bahnsteig trägt eine polnische Bahnuniform, die ihm eine Nummer zu groß ist, seine Mütze scheint ihm jeden Moment ins Gesicht zu rutschen, der Rest schlottert um ihn herum. Er will mein Ticket sehen, steckt es ein und geht weiter. Das irritiert mich, vielleicht ein verkleideter Trickbetrüger? Man hört ja so allerhand über gewisse Vorgänge in polnischen Nachtzügen. Diebesbanden, die mit Schaffnern gemeinsame Sache machen, sollen von Abteil zu Abteil ziehen und die Reisenden erleichtern. Das auswärtige Amt empfiehlt, nur bei Tageslicht zu fahren. Ich steige trotzdem ein.
Der Liegewagen ist klein und randvoll mit sechs Menschen und deren Gepäck: Große, weiße Plastiksäcke voll von Irgendwas, braune Flüchtlingskoffer aus Pappe, Rucksäcke mit Alugestell, Tüten von Aldi - fehlen nur noch die Hühner.
Der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Michael steht auf dem Bahnsteig. Er hat mir vorher noch ein weißes Taschentuch zugesteckt, ein anderes hat er jetzt in der Hand und winkt. Ich winke der immer kleiner werdenden Gestalt zurück. Wir werden uns bald wieder sehen, rufe ich, lebend.
Mein Taschentuch flattert davon, wie eine weiße Taube in einem John Woo Film. Das heißt eigentlich flattere ja ich davon. Das Taschentuch bleibt in der Luft stehen, dort, wo ich es losgelassen habe, dort, wo jetzt der letzte Wagen des Zuges vorbei rattert.

Czarna Gorna, 2. Tag, Bushaltestelle, Endstation

Ich bin Mitten im Nirgendwo. Die Straße ist zu Ende. Erst in die falsche Richtung und dann noch falsch abgebogen.
Ein kleiner Laden aus Wellblech, drei Kinder, zwei Mütter, eine Welpe und ein Trinker, pardon, zwei, wenn ich mich mitrechne.  Es gibt keinen falschen Weg, keine falsche Richtung. Es ist gut, dass ich hier sitze, unter einem Wellblechdach am Ende der Straße. Der Tag ist noch jung und ich habe viel Zeit. Von hier aus geht es nur noch seitwärts in die Büsche. Ich bin Richtung Westen gelaufen, also muss ich nach Osten, aber vorher nach Norden, das kriege ich hin. Das Kleinste der Kleinen scheint mich zu mögen. Es stromert um mich herum und lächelt mich an mit seinen Mangaaugen. Mir wird ganz warm um ’s Herz. Die Mutter zieht es weg, sie hält mich für eine Päderasten, möglicherweise. Die Welpe wird mit trockenem Brot gefüttert, ich gebe ihr ein Stück Kiebasa. So was Gutes hat sie noch nie gegessen und sie weicht mir nicht mehr von der Seite. Das Frauchen muss es wegtragen, insgesamt drei Mal, weil es immer wieder ausbüxt, vom Haus gegenüber, und hofft, dass es noch ein Stück Wurst kriegt. Wahrscheinlich rührt es nie wieder Brot an. So sind sie, die Mädchen.

Postkartengruß 1

Lieber Michael,
wie Du es vorausgesehen hattest, verlaufe ich mich nahezu täglich, komme nie dort an, wo ich hin will, aber immer dort, wo ich hin soll. Dir würde es hier gut gefallen. Der Wodka (50 Gramm) kostet weniger als einen Euro, das Bier kaum mehr. Auch die Zigaretten (25 Stück-Packung für 1,50 Euro) sind billig.  Also insgesamt ein Trinkerparadies. Es grüßt Dich
Dein Robert
 
Czarna Gorna, 3. Tag

So besoffen wie den Alten zwei Tische weiter habe ich noch nie jemand gesehen, ich meine wirklich noch nie. Unter ihm eine Pfütze. Es stinkt zu mir rüber. Er wird wohl die Nacht im T-Shirt hier auf der Bank verbringen, im Freien. Morgen kann ich mir meine erste Leiche ansehen. Ich möchte auch mal so besoffen sein, würde aber vorher sterben, das ist sicher. Er versucht sich aufzurichten, hält sich am glücklicherweise festgeschraubten Tisch fest, klappt aber immer wieder zusammen, fällt um, bleibt erst mal liegen. Schließlich schafft er es in die Senkrechte. Er torkelt ein, schiebt sich Zentimeter weise an der Brüstung entlang - warum packt ihn der fette Typ in Tarnklamotten, der ihn offenbar kennt, den sie führen so etwas wie eine kurze Unterhaltung, sofern so etwas möglich ist mit so einem in so einem Zustand, warum packt er ihn nicht in den Kofferraum und fährt in nach Hause? Früher hätte er das gemacht. Scheiß-, pardon, Kack-EU.
So ist es gut, Alter, immer an der Brüstung entlang, nur nicht zu schnell, immer nur einen Schritt weit und dann erst mal ausruhen. Dann noch die drei Stufen aber da sehe ich schwarz. Nichts mehr zum festklammern. Alle wenden sich ab. In einem 100 Einwohner Dorf, in dem ihn jeder kennen muss. Ich auch. Er wird es nicht schaffen. Er wird heute sterben, auf der Straße und alle werden hinterher sagen, sie hätten gewusst, dass es so mit ihm Enden würde. Scheiße, pardon, Kacke, ich brauche 50 Gramm Wodka. Jetzt ist er auf der Straße, hast es hingekriegt, Alter, torkelst haltlos die Weg hinunter, links ist die Rettung, ein Maschendrahtzaun, grifffreundlich, an diesem hangelt er sich langsam weiter und verschwindet schließlich in der Dämmerung.
Nein, doch nicht. Der Alte schält sich wieder aus der hereingebrochenen Dunkelheit hervor, kommt wieder näher, entlang am Zaun.
Er hat einen Kumpel getroffen, mit dem er unbedingt noch was trinken muss. Unbedingt!  Nur hat er den ukrainischen Spiritus vergessen. Er schafft es zu seinem voll gepissten Platz. Am Boden steht die Steingutflasche, kein Etikett. Alles wiederholt sich. Dann ist er wirklich weg. Die Hoteliere wischt die Pisse auf. Es stinkt nach Sagrotahn. Alles wieder sauber. Keimfrei. Gut so.

Postkartengruß 2

Hallo Ahne, hallo Katja,
ich sitze irgendwo im Nirgendwo, trinke Wodka und Bier, und vermisse die ganze Saubande keinen Deut. Ist Dein Arsch immer noch so dick, Katja? Es grüß Euch
Euer Robert

Ustrzyki Dolne

Heißt der Ort, den ich inzwischen zwar aussprechen aber nicht behalten kann. Wenn auf irgendetwas der Arsch der Welt zutrifft, dann auf das hier. Ich beschließe, sofort weiterzureisen. Hier liegt der Hund begraben, hier möchte man nicht tot über dem Zaun hängen, hierher wünscht man sich nicht den schlimmsten Feind. Eine Hauptstraße, auf der Lastwagen durch die Stadt rumpeln, der Marktplatz eine lärmende Baustelle, zu Essen gibt es nur Pizza. Ein Dreckloch. Warum dieser Ort auf meinen Wanderkarten als besonders sehenswert bezeichnet wird – ich weiß es nicht. Mein Reiseführer hat ausnahmsweise mal Recht, dass er Ustrzyki Dolne nicht mal der Erwähnung wert findet. Kahl geschorene Jugendliche in gefälschten Lonsdale-Klamotten stehen am Busbahnhof oder säumen die Straße, in der Hand eine Bierflasche, mit stumpfen, hasserfüllten Gesichtern in denen tausend Jahre lang der Inzest gewütet hat. Natürliche Auslese, natürlich Ausnahmen. Vielleicht bin ich zur falschen Zeit angekommen, vielleicht mit dem falschen Fuß aufgestanden, vielleicht reichen drei Stunden Wartezeit, eine Pizza und vier Bier einfach nicht, um den Charme dieses Kackhaufens vollständig zu erfassen. Ich weiß es nicht und will es auch nicht wissen.
Good bye Ustrzyki Dolne, good bye.

Postkartengruß 3

Hallo Anna,
ich finde Dich nach wie vor Scheiße.
Robert

Przemysl, 1. Tag
 
Ein alter, sehr alter Mann quält sich den Platz herunter. Hangelt sich von Baum zu Baum, von Stütze zu Stütze. Ich habe den Impuls, hin zu springen, ihm meinen Arm anzubieten, doch ich lasse es. Ich weiß ohnehin nicht, wo er lang will und meinen Job als Sozialarbeiter habe ich schon vor Jahren an den Nagel gehängt. Sollen sich die Polen um ihre Alten kümmern, aber es kümmert sich keiner. Scheiß Sozialdemokratie. Ich will 50 Gramm Wodka trinken. Das sei hier so üblich, nach dem Essen, heißt es in meinem Reiseführer, der manches verschweigt. Wodka hab ich hier noch keinen trinken sehen, nur mich. Die Polen trinken dafür Bier mit Ingwersirup durch den Strohalm, so wie wir damals, als Jugendliche, wenn wir besonders schnell besonders besoffen sein wollten. Hatte nie einen Unterschied bemerkt. Warum auch? Soll mal jemand eine Doktorarbeit drüber schreiben.
Überhaupt, Verfall der Sitten. Scheiß EU, nein, Kack-EU. Ich sollte bei der Wortwahl bleiben, so was nennt man Stil in meinen Kreisen. Scheiß auf den Stil, kack drauf. Ich schreibe ohnehin immer so, wie der Autor, dessen Buch ich gerade gelesen habe. Na und? Auf Schreibstil gibt es kein Patent. Ohnehin sind schon alle Stile ausgeschöpft, genau wie Geschichten. Da kann ich mich auch frei bedienen. Literaturinstitut z. B., da gehen alle mit unterschiedlichem Stil rein und mit demselben wieder raus. Genau wie bei der EU. Vorher alles anders, nachher alles gleich: Währung, Sprache, Regierung, Preise, Lebensmittel. Einheitskultur, Einheitsmode, Einheitsfressen. Willkommen daheim, Dobranosz, gute Nacht, Marie. Wenn Polen mal den Euro, dann kann ich auch zuhause.
Polen sei teuerer geworden, so sagt man, aber noch kostet der halbe Liter einen Euro und ein Essen gibt’s für fünf. Ihr werdet euch noch umsehen, liebe Nachbarn. Eure Preise werden sich verdreifachen und dann könnt ihr
einpacken. Dann geht es nur noch ums Geld, wie überall. Dann bleibt uns allen nur noch Russland, Rumänien, die Ukraine, weil alles billig sein muss.

Postkartengruß 4

Liebe Linda,
im Gegensatz zu Dir, die Du Dich im Schoß der Kirche befindest, befinde ich mich im Land der Geister und Dämonen. Graf Dracula ist mir zwar noch nicht begegnet, aber dafür jede Menge andere, zwielichte Gestalten, die sich bei näherem Anschein jedoch alle als harmlos entpuppt haben. Ich hoffe, Dir geht es gut und Du hast Deinen Entschluss, ins Kloster zu gehen, nicht bereut. Viele Grüße.
Dein Robert

Sanok, 2. Tag

Es regnet Bindfäden, schüttet aus Kübeln, ich fahre nach Sanok. Von dort komme ich überall hin. Nette, verkackte Kleinstadt. Noch ein Drei Sterne Hotel, noch ein kack Zimmer im Erdgeschoss zur Hauptstraße raus, aber Kabelfernsehen. Im Keller versöhnen mich ein gutes Restaurant und eine sehr nette, sehr hübsche Bedienung. Sie hängt als Akt an der Wand und verrät mir ihren Vornamen. Jana. Ich werde Tage später ganz woanders noch mal von ihr hören. Die andere heißt Miriam, auch sie ziert die Wand, lasziv auf einem Diwan, so bild ich mir ein. Sie arbeitet erst seit drei Tagen hier und entschuldigt sich, weil das Bier so lang braucht.
I have time, Miriam, nothing else matter. Sie freut sich. Ich vertrinke noch 20 Zloty und mache ein Nickerchen.
Übermorgen soll sich das Wetter wieder einkriegen, dann fahre ich zurück in die Wälder. Oder auch nicht. Eigentlich egal.

Heue ist polnischer Herrentag, aber das weiß ich noch nicht, das erfahre ich erst später, als ich in einer Bar sitze. Ich und drei Polen. Ein Zimmermann, ein Lehrer und der Barkeeper. Wir spendieren uns gegenseitig einen Wodka nach dem anderen. Der Barkeeper lächelt, der Lehrer schweigt, der Zimmermann telefoniert mit einem Freund in Zakophane, der spricht deutsch und soll übersetzen. Ich bin zwar betrunken aber diese rührende Geste ist trotzdem Quatsch. Das sag ich seinem Freund in Zakophane und sein Freund in Zakophane sagt, dass er mir nur sagen soll, dass sein Freund, der Zimmermann, Zimmermann ist.  Der Zimmermann ist eigentlich Schreiner und zeigt mir seine Werkstatt, die nicht weit von der Bar entfernt liegt. Er stellt Büromöbel her, modernes, funktionales Design, das mich an die Decefix Zeit erinnert. Very nice, sage ich und er nickt zufrieden. Wir gehen zurück und trinken weiter. Wie ich in mein Hotel gekommen bin, weiß ich nicht mehr.

Postkartengruß 5

Liebe Marion, liebe Feli,
macht Euch keine Sorgen, ich werde bald sterben. Danach mach ich wieder was Lustiges. Grüße
Euer Robert

Sanok, 3. Tag

Es hat aufgehört zu regnen. Ich bin völlig desorientiert. Wodka ist ein Teufelszeug und den Teufel soll man mit dem Beelzebub austreiben. Also erst mal ein Bier.
Ich geh noch mal in die Kneipe, in der ich gestern mit den drei Polen gefeiert habe. Einen davon treffe ich davor auf der Straße. Weil er mir ansieht, dass es nicht gut geht, fragt er mich, wie’s geht.
Es geht, sage ich und wie’s ihm ginge?
Er deutet auf ein Arztschild und meint, dass es ihm jetzt wieder besser gehe. Handschlag, tschüss.
Beim ersten Bier zittern noch die Hände, beim zweiten ist es weg. Neben mir ein Verkehrsopfer, invalid seit 15 Jahren. Er geht auf Krücken bis zum Tod. Er deutet immer wieder auf seine Schädeldecke und dann auf sein verkrüppeltes Bein. Er lädt mich auf ein Bier ein. Ich bestelle zwei Wodka. Wir trinken und werfen uns mit Hilfe meines Sprachführers ein paar Brocken zu. Er hat vor dem Unfall in einer Glasfabrik gearbeitet, Biergläser, Schnapsgläser, Wein-, Saft- und Wassergläser. Er deutet auf die jeweiligen Gläser hinter dem Tresen und dann auf seinen Kopf und sein Bein. Schließlich sagt er, ich solle ihn zum Essen einladen, weil er nur 600 Zloty an Rente bekomme. Er deutet auf das teuerste Gericht in der Speisekarte, dann auf seinen Kopf und sein Bein, ich schüttle den Kopf, er nimmt ein billigeres, ich schüttle den Kopf, er nimmt das billigste, ich schüttle den Kopf, ich bin traurig und gehe. Nachts träume ich von Angela Merkel.

Postkartengruß 6

Liebe Leute,
lasst Euch von der Schulmedizin nichts einreden. Es stimmt wirklich, dass, wenn man sich von einem Berg hinunterstürzt, alle Krankheiten von einem abfallen. In diesem Sinne, macht’s gut.