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Annette Freudling: Mittsommer 

Der schwedische Sommer fließt mir durchs Gesicht, fließt über Augen, Lippen und Kinn, fließt in den steifen Jackenkragen, den Hals hinunter, fließt in mein albernes maritimes Streifenshirt. Blauweißnasse Ringel ziehen mir die Brust zusammen, meine Zehen treten Wasser in blauweißnassen Schuhen, und unter ihnen bockt das blauweißnasse Deck der Wasserratte. Sie will sie mich abwerfen, mich in einem günstigen Moment in der Ostsee versenken, oder zwischen fünf Tonnen Segelboot und einer Kaimauer zermalmen. Aber ich lasse sie nicht. Ich bin ein Scheidungskind, ich habe gelernt, zu klammern und zu überleben.

Die Züge des Mannes auf dem Anleger sind verwässert, ein gelbgerahmter Mienenklecks, gelb wegen des Südwesters, den er trägt. Belegen, ruft er. Ich erkenne ihn kaum mit diesem kalttropfenden Gesicht, das immer kleiner und unfreundlicher wird, als wasche der Regen eine Maske ab. Die Wasserratte bockt. Belegen, Linda! Was soll das nun wieder, sieht er nicht, dass ich mich festhalte? Ganz fremd macht ihn mir dieses Getropfe, und das Geschaukel ist noch schlimmer, kein Mensch kann sich in der Welt zurechtfinden, wenn alle Gehirnflüssigkeit beständig herumgeschwappt wird wie in einem Cognacglas. Ich will ein heißes Bad, und trockene Klamotten, und bei Melitta auf dem Sofa sitzen und Rotwein trinken. Die Wasserratte hüpft, die Kaimauer entfernt sich, das Seil, das man mir in die Hand gedrückt hat, will mich von Bord ziehen. Ich verankere mich verbissen in irgendetwas Straffgespanntem, Vertikalen. Verdammt, Linda, brüllt der fremde Mann, mit dem ich einmal Sex im Garten hatte, warum machst du die Leine nicht fest, ich hab’s dir doch gezeigt. Mit einem langen Schritt über die Reling ist er da, nimmt mir das Tau aus der Hand, zieht kräftig an und wickelt es in dicken Achten um die Stahlhaken auf dem Deck. Einen Moment lang blicken wir uns an, mit verkniffenen Augen, als drehten wir unser Gesicht in den Wind. Zwischen uns fließt der Regen, und jetzt bin ich sicher, dass auch er mich nicht mehr erkennt.

Blauweißnasse Schilder begrüßen die Besucher an Fyruddens Kajkanten, wie dieses Ende von Schweden heißt. Hamnkontor, Toaletter, Duschar, Pfeil nach links. Ich trotte verbissen die 100 Meter zu den sanitären Einrichtungen. 100 Meter zum Pinkeln ist Minimum, seit ich in Schweden bin, auch zum Plumpsklo.

Heute ist Mittsommer, verkündet Siegfried, unser Skipper. Marten, mein verfremdeter Freund, schweigt, rührt in seinem Cappuccino aus der Dose. Zu Hause würden wir das Zeug nicht anrühren, hier trinken wir es literweise. Achja, sage ich zu Siegfried, Mittsommer. Marten und ich sitzen schief in der Sitzecke, die ein genialer Konstrukteur für sieben Hintern, fünf Rücken und zwei Paar Knie entworfen hat. Jede Taurolle auf diesem Schiff hat mehr Platz als die Menschen, die dieses klaustrophobische Möbel benutzen müssen. Siegfried steht lieber. Er lehnt mit der Tasse an der Spüle, tut so, als bemerke er nicht, wie angestrengt die Knie in der Sitzecke sich aus dem Weg gehen. Marten hakt eine Hand hinter den Verschluss seiner Gummi-Latzhose, die er nie mehr auszuziehen scheint, erstarrt wie ein Keramik-Fischer aus der Souvenir-Kitschecke. Sein Rollkragen verfängt sich im zersplitterten Holz seines Kinns. Blankgescheuerte Wangen, die Augen zwei Sturmtiefs, kardanisch aufgehängt, die Haare windtrunken wie eben geborgene Segel. Mittsommer, denke ich, deswegen sind wir hergekommen. Von den lichten Nächten hatte Marten mir vorgeschwärmt, während des Nachtdienstes, als wir Kaffee tranken – vielmehr als ich Kaffee trank und er seinen kalt werden ließ, denn er musste ja erzählen: wie Siegfried und er schon im Studium gesegelt, wie sie semesterferienlang über den Globus gekreuzt waren, an Bord bei Leuten, denen gute Segler in der Crew fehlten, Hand gegen Koje, oder Yachten überführt hatten für reiche Schnösel auf Mallorca. Erinnerungsbrisen wehten durch den Aufenthaltsraum, und jetzt hatte Siegfried ein Boot gechartert, Südschweden, Schärengarten, das ist Astrid-Lindgren-Land, hatte Marten gesagt, bevor sein Piper ging und er hinauswehte mit geblähtem Kittel. Ich holte mir einen neuen Kaffee, obwohl ich keinen mehr mochte, aber so war ich noch da als er wieder erschien, als er mit den Augen rollte, das Mäuschen auf Station 1 brauche eine Genehmigung für jedes Aspirin, dass sie verteile. Schärengarten, das klinge hübsch, als ob ein Landschaftsarchitekt das angelegt habe, meinte ich. Marten lachte sein etwas antiseptisches Dienstlachen, das nach Kopf-hoch-wird-schon-wieder klingt, aber ich lächelte mein Privatlächeln zurück, bei dem die Lücke zwischen Eck- und Schneidezahn links mitlächeln darf, und zwei Nachtschichten später fragte Marten mich, ob ich Lust hätte, ihn und Siegfried zu begleiten, der Skipper habe nichts dagegen. Hand gegen Koje, fragte ich, und als ich ihn bald darauf mit dem Stethoskop abhörte, und ihn dabei an den Zehen kitzelte, war das Wird-schon-wieder ziemlich sicher aus seinen Luftwegen verschwunden. Ich diagnostizierte eine gemeinsame Zukunft.

Die Wasserpumpe springt an und tackert mein Bewusstsein an die Kojenwände, denen es gerade zu entkommen versucht hat. Im Salon ist noch Leben. Ich schiebe das Buch zur Seite, über dem ich eingeschlafen bin, lösche das Licht und rolle mich auf die Seite.
Morgen Västervik? Das ist Siegfrieds laute Stimme, gefiltert durch die hölzerne Kajütentür. Ich stelle mir vor, wie er hinter dem Kartentisch klemmt und auf den blaugelben Schnittmusterbögen herumzirkelt, nach denen er navigiert. Und dann zurück nach Stockholm, fragt Siegfried, oder hast du die Nase jetzt schon voll?
Lass ihn ja sagen, bete ich. Doch ich höre nichts, nur meinen Puls, und dann Schritte auf den Salondielen, das steife Rascheln einer Gummihose, und dann das dünne Knatschen der Türklinke. Die Augen, mit denen ich eben noch groß ins Dunkel gestarrt habe, klappen zu, ich bin mir sicher, dass Marten dort im Spalt steht und mich ansieht, ich atme tief, meine erste bewusste Lüge in unserer Beziehung, besiegelt durch das metallene Seufzen bei Martens Rückzug.
Wegen Linda, beginnt Marten. Er spricht gedämpft. Ich setzte mich auf, beuge mich vor, richte meinen Kopf auf den besten Empfang aus.
Es war eine blöde Idee, sie mitzubringen, sagt Marten, was meinst du, ist es die alte Geschichte mit Frauen und Booten und dem Unglück? Oder weiß man einfach erst in Schweden im Dauerregen, woran man miteinander ist?
Hör mal, sagt Siegfried, es geht mich nichts an, aber... 
Pause. Nein, andersherum, sagt Siegfried. Ich wollte Dir eigentlich einen Vorschlag machen.
Ich höre, sagt Marten.
Es geht um das Boot, sagt Siegfried. Weißt Du noch, wie wir gesponnen haben, als wir die Bavaria nach La Coruña überführt haben. Niemandes Handlanger sein, den Kurs selbst bestimmen…
Lange her, sagt Marten.
Unser Traum, sagt Siegfried. Ein großer Traum. Zu groß für einen alleine. Aber jetzt ist die Gelegenheit. Die Wasserratte steht zum Verkauf. Ein tolles Boot. Ein Schnäppchen.
Junggeselle Siegfried legt die ganze Melancholie einer nicht abbezahlten Zahnarztpraxis in seine Stimme. Ich beginne ihn herzlich zu hassen.
Eignergemeinschaft, bohrt Siegfried. Du und ich. Die Hälfte von allem.
Der Nerv liegt frei, und ich stöhne vor Schmerz auf.

Marten schläft in seinem Winkel der trapezförmigen Matratze. Nur unsere Füße am schmalen Ende sind sich nahe, der Rest von uns strebt auseinander. Ich möchte schreien in meinem Schlafsack-Separee. Ich weiß, ich habe ihn verloren. Als ich mich zwei Stunden nach Verlassen des Stockholmer Hafens wimmernd übergab. Als ich bei der ersten Dünung halb tot vor Angst und Kälte das Sprechen einstellte. Als ich Marten die unerträgliche Enge der Wasserratte vorhielt. Er wird mir diesen Urlaub nie verzeihen.
Marten schläft.
Melitta schiebt meine destruktive Ader auf die Trennung meiner Eltern. Auf mein „verzweifeltes Ringen um die Liebe meines Vaters“ wie sie sich ausdrückt, weil sie über ein abgebrochenes Psychologiestudium verfügt. Papa zog bei uns aus, als ich elf war. Vielmehr, er trat die Tür auf und brach aus, ein Befreiungsakt, für den ich vollstes Verständnis gehabt hätte, wenn er mich dabei nicht zurückgelassen hätte. Er verliebte sich neu und versuchte mir einzureden, dass ich bei seiner überbehütenden Exfrau gut aufgehoben sei, bis ich ihm den Sahneeisbecher an den Kopf schmiss, den er mir kurz zuvor gekauft hatte. Eine Woche lang lag ich abends im Bett wach und bereute meine Tat – im Wesentlichen, weil der Becher nur aus Pappe gewesen war.
Marten schläft.
Vorsichtig krieche ich aus meinem Schlafsack, eine sich häutende Schlange, stehe barfuß im schmalen Fußraum vor der Koje, öffne die Tür.
Ich hab’s vermasselt. Wenn wir zurückkehren, wird Marten seinen Nachtdienstkaffee mit dem Mäuschen von Station 1 trinken. Sie wird einen Segelkurs belegen und wissen, wie man sich mit einer halben Wasserratte in der Familie arrangiert.
Meine Füße steuern auf die Spüle zu, in der gebrauchte Löffel und Tassen liegen, Relikte von Siegfrieds und Martens letztem Cappuccino. Ich greife nach oben, taste mit dem Finger nach dem Loch im Schapp und drücke den Schnickel zur Seite, der die Klappe öffnet. Meine Finger gleiten über das Besteck, bis das Küchenmesser mir den Zeigefinger ritzt.

Fyruddens Kajkanten entfernt sich unter Motor. Im Traum steht Marten am Steuer, Siegfried hockt im Niedergang, den Körper unter und den Kopf über Deck, und balanciert seine Schnittmuster auf den Knien. Irgendwer hat die Crew ausgewechselt, sage ich zu Marten. Wo ist denn die Besatzung mit den Wassertropfen im Gesicht geblieben? Skipper, wann setzten wir Segel?
Ich summe vor mich hin. Ob ich uns einen Cappuccino machen solle? Langsam käme ich auf den Geschmack.
Ich sehe, wie die beiden Männer Blicke tauschen.
Alles in Ordnung mit dir, will Marten säuerlich wissen, müssen wir uns Sorgen machen?
Alles in Ordnung, flöte ich. Herrlich geschlafen, wie in Abrahams Schoß. Ich stehe auf, scheuche Siegfried aus dem Niedergang und verschwinde in der Küche.
Im Traum ziehen Steine vorbei. Manche klein, manche groß, manche bebaut, wenn auch augenscheinlich nicht bewohnt. Bräunlich-rote Hütten mit weißen Fenstern klammern sich an die Rücken der Felsen, jede ein Zwilling der anderen, als sei dies die einzig denkbare Form von Zivilisation, als habe der Wind alle Unterschiede fortgeweht und die Menschen gleich mit. Astrid-Lindgren-Land ist wie ein fremder, verlassener Planet.
Im Traum habe ich meine Angst in einer Backskiste eingeschlossen, ich sitze in der Plicht, den Rücken an den Decksaufbau gelehnt, die Beine ausgestreckt, und lächle Marten zu. Mir ist spuckeelend, aber ich räkele mich unter dem grauen Himmel und gebe eine sonnige Ferienlinda.
Am gefährlichsten sind die Felsen, die man nicht sieht, erklärt Siegfried, deswegen sind die Seezeichen in diesem Gewässer so wichtig, rote Tonnen, grüne Tonnen, Untiefentonnen, da muss man schon höllisch aufpassen. Ich nicke verständnisvoll und halte mir mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht.
Aber jetzt wollen wir die Fetzen hochreißen, was? Hier, halt mal die Karte. Aber gut festhalten.
Er beginnt, sich an den Leinen zu schaffen zu machen. Der metallene Baum senkt sich. Vorsicht mit dem Kopf jetzt, Linda, ruft Siegfried, als ob das Miststück nicht schon im festgezurrten Zustand sein bestes gibt, mir den Schädel zu spalten.
Keine Minute später schnurrt die Wasserratte und legt sich behaglich auf die Seite. Marten hat den Motor ausgestellt, Ostseestille umplätschert uns, Segelfrieden lullt uns ein, bis Siegfrieds Schrei uns anspringt wie eine Sturmböe. Verdammter Mist, brüllt er. Marten und ich reißen die Augen auf. Im Wasser treiben Cappuccino-Dosen, groß wie Fahrwassertonnen, die gegen den Schiffsrumpf krachen. Die Wasserratte schlingert, ihr selbstgefälliger Leib verformt sich ächzend, es klingt wie Mutters Wagen, als ich ihr auf der Landstraße ins Lenkrad griff und sie in den Seitenraum abrutschte, als der Renault einen Baum touchierte, sich überschlug und auf dem Dach über den Asphalt knirschte.

Ein kräftiger Schlag erschüttert das Schiff, mit der nächsten Welle folgt ein weiterer. Scheiße, sagt Marten, und wühlt sich aus dem Schlafsack. Wir hören Siegfrieds hastige Schritte auf dem Deck, sein Brüllen, verdammte Sauerei. 
Die Wasserratte rammt noch einmal die Pier, dann dreht sie sich benommen in den Wind und treibt rückwärts aus dem Hafenbecken hinaus. Ich stehe im Niedergang und klammere mich fest, niemand erwartet von mir, dass ich etwas Nützliches zur Situation beitrage. Wie hat sie sich losgemacht, wo zum Henker sind die verdammten Festmacherleinen, brüllt Marten, verdammte Scheiße, wie konnte das passieren. Siegfried denkt als Erster daran, die Maschine zu starten. Er drückt die Knöpfe in der Rudersäule, lauscht erleichtert auf das Spucken des Diesels. Marten wühlt in den Backskisten, das gibt’s doch nicht, dass ich hier nicht eine Leine finden kann, was zum Teufel ist hier los?
Das möchte ich allerdings auch gern wissen, knurrt Siegfried. Zur Not müssen wir die Schoten nehmen, wenn wir wieder anlegen. Er legt Ruder.
Wir drehen eine Runde, befiehlt der Skipper, Marten, du fummelst die Schoten aus dem Vorsegel. Wenn die Leinen klar sind, geht’s wieder in den Hafen zurück. Unglaublich, die pennen alle weiter, während ein Schiff sich losreißt und Amok läuft.
Siegfried legt Ruder, blubb, macht der Diesel und erstirbt. Scheiße, brüllt Siegfried. Cappuccino, flüstere ich. Ich bin ein bisschen stolz darauf, wie geschickt ich den Tankverschluss abgedreht und wie gründlich ich das Pulver eingefüllt habe, ohne etwas daneben zu kippen. Wie leise ich alle Leinen aus den Backskisten geholt und über Bord habe gleiten lassen.
Vergiss die Schoten, brüllt Siegfried, roll die Fock aus, wir müssen segeln. Vom Vorschiff hören wir Martens Fluchen, als er versucht, das Segeltuch zu reanimieren, das blass und tot von seiner Rolle hängt. Das war der schwierigste Teil, die nächtliche Mehrfachamputation, der chirurgische Eingriff mit dem Küchenmesser. Verdammt zähes Zeug, diese Strippen, mit denen die Segel in Position gebracht und gehalten werden.
Warum denke ich ausgerechnet jetzt wieder an den Eisbecher am Kopf meines Vaters? Vielleicht, weil es beinahe das letzte Mal gewesen wäre, dass wir einander sahen, denn kurz darauf fuhr Mutter sich ganz und mich beinahe zu Tode.
Die Ärzte im Krankenhaus erzählten meinem Vater, wie tapfer ich die Schmerzen ertrug, und dass ich ihnen die ganze Zeit über Löcher in die weißen Kittel fragte. Er versprach, dass ich Medizin studieren dürfe, und ich versprach, dass ich ihm nie wieder etwas an den Kopf werfen würde, und der Rest meiner Kindheit verlief zu meiner vollen Zufriedenheit.

Vielleicht werden Marten und Siegfried gleich bemerken, dass wir in 20 Sekunden einen Felsen rammen, aber im Moment sind sie zu sehr beschäftigt. Ich warte auf das Krachen, das mir bestätigt, dass die Wasserratte nicht mehr gerettet werden kann, ein Krachen, das klingt wie ein verunglückter Renault. Hübsch sieht er aus, denke ich, dieser pfirsichfarbene Streifen, der am Ende der Mittsommernacht herumliegt, dort, wo der Himmel ins Wasser fällt. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie wir Sex im Garten haben und uns mit dem Stethoskop abhören, Marten und ich.