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Jule D. Körber: Trainspotting 

Deshalb hierzu in aller Deutlichkeit: Radbruch ist kulturell, historisch und industriell gesehen tatsächlich völlig uninteressant.
E. Virch (www.meinekleinedorfseite.de)

Radbruch ist eine Gemeinde im Landkreis Lüneburg in Niedersachsen. Sie hat etwa 1850 Einwohner, eine Größe von 22,54 km² und ist Teil der Samtgemeinde Bardowick.
Ein erster urkundlicher Hinweis auf den Ortsnamen findet sich in der Chronik „Memorabilia Historiae Luneburgicae“ von 1269. Darin auftauchende „Radebrokii“ dürften in der Radbrucher Gegend beheimatet gewesen sein. Der Stammsitz der Familie Radbruch war Anfang des 15. Jahrhunderts möglicherweise befestigt. In den Jahren 1450/51 ist ein zur Vogei Pattensen zählender Meyerhof erwähnt. Im 16. Jahrhundert entstand die Vogtei Radbruch als Sondergut innerhalb der Vogtei Bardowick. Dies war der Verwaltungssitz der welfischen Besitzungen in diesem Bereich.
Das Atlasblatt „Ducatus Luneburgensis. Adiacentiumq.regionum delineatio“ (1645) von Willem Janszoon Blaeu weist in der Region einen Wald namens „Raarbroeck“ aus. Da Broeck bzw. Brook Sumpfland bezeichnet, dürfte es sich um Bruchwald gehandelt haben. Sollte das "Raar" lateinischen Ursprungs sein, wäre dies ein Hinweis auf sehr lockeren, verstreuten Baumbestand. Das verbreitetere Rad- oder Rade- deutet jedoch eher auf eine Rodung hin. Eine dritte Annahme ist, das "Rad" könnte sich auf die Rotfärbung des erzhaltigen Wassers der Gegend beziehen.
1885 wurde Radbruch Mitglied des Landkreises Winsen/Luhe und dadurch 1932 eine eigenständige Gemeinde im Landkreis Harburg. 1974 wurde es durch die Gemeindereform Teil der Samtgemeinde Bardowick und des Landkreis Lüneburg.(http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Radbruch&printable=yes)


Radbruch heißt der Ort, Radbruch heißt der Bahnhof, Finn weiß nicht, warum, weiß nicht, was seine Eltern hier wollen, was er hier soll, Finn sitzt in Radbruch am Bahnhof. Finn weiß nicht, warum er Züge so mag,  warum seine Mutter ihn nicht mit ihnen fahren lässt, warum er nie die Modelleisenbahn gekriegt hat, die er sich jedes Jahr wieder zu Weihnachten und zum Geburtstag und zu Ostern wünscht. Woher sollte Finn das auch wissen, das mit Marco K. aus Hanau, der in Frankfurt am Main vor den Zug sprang, in dem Finns Mutter, hochschwanger, saß. Marco K., der den Zug zum Bremsen und Finns Mutter in die Wehen brachte, Finn so zu einem Hessen machte und seine Mutter das Fürchten von Zügen lehrte. All das hatte man Finn, der in Radbruch auf der einzigen Bank auf dem Bahnhofssteig Eins sitzt, Finn, der Züge so sehr liebt, der so gern mit ihnen fahren würde, der nicht mit ihnen fahren darf, all das, der Selbstmord und Marco K., all das hatte man ihm nicht erzählt.      

Finn sitzt auf dem Bahnhofssteig Eins. In Radbruch hält ein Zug, keiner steigt ein, keiner steigt aus, warum auch, was soll ein Mensch schon in Radbruch? Der Zug schnaubt, dann ein tackerndes Geräusch, dann Stille. Gegenüber der Bank, auf der Finn sitzt, öffnet sich eine der Zugtüren, klappt schwerfällig zur Seite weg, in der Dunkelheit des Ganges steht ein Mädchen, schwarze Kleidung, etwas verwaschen, ungekämmte Haare, fallen ihr auf die Schulter, klemmen hinter den Ohren, wollen dort nicht halten. Das Mädchen heißt Nina und Nina setzt sich auf die unterste der Metallstufen, die aus dem Zug führen, ihre Füße berühren den gräulich-dreckigen Sand auf dem Radbrucher Bahnhofsgleis Eins. Die Hälfte ihres Gesichts ist im Schatten, die andere Hälfte von der Sonne geblendet. Mit zusammengekniffenen Augen starrt sie Finn an, Finn schaut auf seine Füße. Finn will, dass der Zug weiterfährt, Finn will in Radbruch allein sein, Finn will nicht von diesem merkwürdigen Mädchen angestarrt werden. Nina sitzt auf den metallenen Zugtreppen und starrt Finn an und weiß nicht warum sie Finn anstarrt und Finn weiß es auch nicht.
      
Eigentlich kennen sie sich schon, sind sich bereits begegnet. Daran erinnert sich Nina nicht mehr, daran erinnert sich Finn nicht mehr. Sie haben den Lautsprecher vergessen, durch den es schallte: Der kleine Finn und die kleine Nina wollen aus dem Smaland abgeholt werden. Haben vergessen, dass sie aneinander stießen, gegeneinander, mit den Köpfen zusammenstießen im knallroten Kriechtunnel Speja. Haben ihre Schreie und Tränen vergessen. Haben es vergessen, schon nachdem ihre Eltern sie abgeholt und aus den Ikea-Schiebetüren gezerrt haben. So schnell kann das gehen, das Aufeinandertreffen und das Vergessen.  
  
Finn schaut hoch. Nina ist immer noch da, starrt ihn noch immer an. Sie hat sich eine Zigarette, Lucky Strike, angezündet, doch das sieht Finn nicht, Finn schaut nicht so lang hin, Finn schaut nicht so genau hin, Nina pustet Rauch in seine Richtung, Finn muss husten, Finn hat Asthma, das Husten wird immer schlimmer, Tränen schießen ihm in die Augen, Husten führt zu neuem Husten führt zu neuem Husten führt zu neuem Husten führt zu neuem Husten führt zu neuem Husten. Ninas spöttische Mundwinkel. Was machst du hier? Fragt sie.
Warten, sagt er.  
Worauf?
Auf das Einfahren des Zuges.
Der Zug ist da. Warum steigst du nicht ein?     
Ich fahre nicht mit Zügen, das ist gefährlich.     
Warum sitzt Du dann auf einem Bahnhofsgleis?   
Ich mag Züge.
Das versteht Nina nicht, wie auch, wenn Finn nicht weiß, warum, weiß nicht auch nicht warum, doch auch Nina mag Züge. Nur lieber als Züge mag sie das Meer.
Sie schweigen.
Ich fahre ans Meer, sagt sie. Finn antwortet nicht, nicht, weil er sich nicht traut, vielleicht würde er sich trauen, nur er weiß, was sie jetzt fragen wird und er weiß auch, was er antworten wird.
Du kannst mitfahren. Sagt Nina.    
Nein. Finn schüttelt den Kopf, Finn schüttelt den Kopf, aber nicht so energisch, wie er gern wollen würde.
Meine Mutter sagt, Zugfahren ist zu gefährlich.   
Warst du schon mal am Meer?   
Nein.    
Dann musst du mitfahren, unbedingt.  Das Meer ist schön. Schöner als alles andere.     
Nein. Ich will lieber kein  Risiko eingehen.     
Ach was. Alles Schöne verlangt Opfer!
Finn schaut sie an, jetzt etwas länger, Finn schaut skeptisch, das sieht sie, Nina sieht, dass dieser Junge auch gucken kann, das wundert Nina,  Nina hätte nicht gedacht, dass er das kann. Und dann auch so lange.
Guck nicht so, der ist nicht von mir, sagt Nina, zieht die Beine an, sie trägt einen weiten Rock, knielang, alte, ausgetretene Adidas-Turnschuhe, an der Seite löst sich die Sohle, aber nur ein wenig, in den Turnschuhen verschwinden Füße ohne Socken, die Knöchel, leicht braun eingestaubt, die Schienenbeine, verkratzt und verheilte Kratzer, an der linken Wade hinten eine Schürfwunde, nicht mehr ganz frisch, aber auch nicht verheilt, als Nina die Beine anzieht, verrutscht der Rock, über die Knie, auf dem rechten Knie eine bleiche kreisrunde Narbe, über dem linken eine leuchtend rote. All das sieht Finn, Finn sieht so etwas, er weiß nicht, warum ihm das auffällt, er weiß nicht, was für Geschichten die Beine von Nina erzählen, Finn weiß noch nicht einmal, dass Nina Nina heißt und Nina weiß nicht, dass Finn Finn heißt. Finn merkt, dass er die Geschichten zu den Beinen wissen will, weiß aber nicht warum.
Nina sieht, das Finn all das sieht und Nina ahnt etwas, aber weiß nicht, was.
Die roten Türen des Zuges klappen zu, langsam setzt der Zug sich in Bewegung, die kleinen Fenster in den Türen spiegeln Finns Gesicht, durch die Spiegelung sieht er ein wenig von Ninas Gesicht in seinem.    

Finn sitzt in Radbruch am Bahnhof, wieder oder noch immer. Radbruch ist weit weg von allem, weit weg von Moorfleet, weit weg vom Smalland im Ikea Moorfleet, wo sich Nina und Finn das erste Mal trafen. Kurz und schmerzvoll zusammen- und aufeinander trafen und es gleich wieder vergaßen, so wie alle es vergaßen. Radbruch zählt seit 2004 zu den Haltestellen des Hamburger Verkehrbetriebs, Radbruch, wo niemand sein mag, mitten im niedersächsischen Nirgendwo-Irgendwo. Wer vom Ikea-Moorfleet nach Radbruch fahren will, braucht eine Stunde und achtundzwanzig Minuten, muss zwei mal umsteigen, hat eine Stunde und sechzehn Minuten Fahrzeit, muss sich zwölf Minuten auf zwei Bahnhöfen beeilen, um den Anschlusszug zu kriegen. S 21 Richtung Elbgaustraße, S 31 Richtung Neugraben, R 30 Richtung Lüneburg.  Doch keiner fährt eineinhalb Stunden von Ikea Moorfleet nach Radbruch mit der Bahn, wenn man von Ikea Moorfleet nach Radbruch will, fährt man Auto.
 
Finn sitzt auf Bahnhofssteig eins in Radbruch. Und so fährt ein Zug in Radbruch ein, keiner steigt ein, keiner steigt aus, denn was soll ein Mensch auch in hier? Die Tür gegenüber der Bank, auf der Finn sitzt, geht auf, Nina setzt sich auf die unterste Stufe, grinst, zündet sich eine Zigarette an, starrt Finn an.
Hast du nichts Besseres zu tun, als hier rumzusitzen?
Hast du nichts Besseres zu tun, als Zug zu fahren?, antwortet er, leise, ohne aufzuschauen.
Nein, es gibt ja nicht viel, das besser ist als ans Meer zu fahren. Aber das kannst du ja nicht wissen.
Was soll ich denn da, so toll kann das gar nicht sein, das Meer.
Schwimmen gehen. Es gibt kaum etwas, das toller ist, als im Meer gegen die Wellen anzuschwimmen.    
Ich kann nicht schwimmen.   
 Aber das kann doch gar nicht sein, das lernt man doch in der Schule!   
Ich hab eine Chlorallergie.   
Was passiert denn, wenn du Chlor abkriegst?  
Ich krieg keine Luft mehr, sagt Finn und hustet von ihrem Zigarettenrauch.  
Schwillt dir dann so richtig der Hals zu und du siehst dein Leben an dir vorbeiziehen?     
Na ja, so ungefähr.    
Cool. Ich bin gegen nichts allergisch. Aber wenn mich jemand fragt, behaupte ich immer, ich würde an PKU  leiden, weil das so einen tollen Namen hat.     
Phenylketonurie, eine Stoffwechselkrankheit.
Woher weißt du das?   
Er schaut sie schweigend an.    
Nein, sag´ nicht, du hast das wirklich.  Wie lange hast du das denn schon?  
 Die Krankheit ist genetisch bedingt, das hatte ich schon immer.   
Cool.   
Du hast doch überhaupt keine Ahnung. Ich muss immer aufpassen, was ich esse und Tabletten schlucken, obwohl ich darin so schlecht bin.  
Das schadet dem Hirn, wenn man mit Phenylkefonurie Eiweiß isst, ne?
Phenylketonurie heißt das und nein, nicht jedes Eiweiß, aber das ist doch egal. Auf jeden Fall nervt es, immer aufpassen zu müssen.    
Ich weiß gar nicht, was du hast, mit Phenylkelonurie, äh Phenylkemonurie, na ja, mit PKU halt, damit bist du was ganz Besonderes. Ich hatte immer nur so langweilige Krankheiten wie Masern oder Windpocken, die alle irgendwann haben.   
 Finn schaut auf seine Schuhe, fasst sich in den Nacken und nuschelt leise: Aber dafür weißt du, wie das Meer aussieht. Und das Meer ist schön, ich habe Fotos davon gesehen.   
Der Zug pfeift, Nina zieht die Füße ein, fragt, während sich die Türen schließen: Bist Du immer hier? doch Finn hört sie nicht mehr.  
  
In Radbruch gibt es nicht viel, eine Telefonzelle, einen Edeka, eine Grundschule, einen Kindergarten, eine Schautafel und den Bahnhof. Finn sitzt in Radbruch auf einer Bank auf dem Bahnhofsteig eins. Die Sonne scheint, Finn hat eine Mütze auf dem Kopf. Ein Zug fährt ein, keiner steigt ein, keiner steigt aus, in Radbruch gibt es nicht viel, was sollte ein Mensch also in Radbruch wollen? Gegenüber der Bank, auf der Finn sitzt, geht eine Tür auf, Nina setzt sich auf die unterste Stufe, Finn lächelt seine Füße an, das sieht sie nicht, Nina grinst.
Du hast auch kein Zuhause, ’ne? 
 Ich mag den Bahnhof halt, lass´ mich doch.    
Kein Stress, hab ich doch gar nichts gegen gesagt. Sie zündet sich eine Zigarette an, legt den Kopf etwas schräg, schaut ihn an. 
Du weißt, dass jede Zigarette dein Leben um einen Tag verkürzt? Sie grinst, Früher Tod spart Rente, und zieht etwas länger als nötig an ihrer Zigarette. Warum hast du eigentlich diese hässliche Mütze auf?   
Sie schützt mich vor Sonnenbrand auf der Kopfhaut.   
Du siehst aber ganz schön scheiße damit aus.  
Meine Mutter sagt, dass ich eine empfindliche Haut und eine Sonnenallergie habe.   
Deine Mutter sagt dir ganz schön viel, oder? 
Er guckt sie an, Furchen auf seiner Stirn.
Kriegst du diesen roten, pickeligen Ausschlag, wenn du Sonnenbrand hast?  
Ja.  
Cool.  
Als kleiner Junge war ich mal ohne eingecremt zu sein in der Sonne und am Abend hatte ich dann so rote Blasen überall.    
Sind die irgendwann aufgeplatzt und es kam so eine eklige Flüssigkeit raus?  
Ja.    
Ich hab noch nie gehört, dass jemand so sonnenempfindlich ist.  
Kann ich ja nichts für.   
Der Zug pfeift. Nina geht in den Wagon, die Türen schließen sich, der Zug fährt los, Finn sieht sie durch das kleine Fenster in der Tür eine Grimasse ziehen. Und winken.    

Ein Zug fährt ein in den Radbrucher Bahnhof. Finn sitzt auf dem Radbrucher Bahnhof auf Bahnhofssteig eins und sieht den Zug einfahren. Keiner steigt aus, keiner steigt ein, was soll man denn auch in Radbruch? Finn sitzt auf seiner Bank auf dem Radbrucher Bahnhof und wartet, dass eine Tür aufgeht. Es geht keine Tür auf. Finn geht den Bahnsteig auf und ab, schaut in jede Tür, hinter keinem der Fenster sieht er jemanden, nur sein eigenes Spiegelbild.
Suchst du mich? Auf dem Bahnhofsparplatz parkt ein alter Ford, Nina, rauchend bei halb offener Autotür.
Was machst du denn hier?   
Warten, sagt sie und grinst. Steig ein.    
Wieso? Wo willst du denn hin?   
Ans Meer natürlich. Und wenn du nicht Bahn fahren willst, dann fahren wir eben mit dem Auto. Finn schaut sie an, schaut auf den Beifahrersitz. Dort sitzt ein Plüsch-Elch. Er zögert.   
Komm schon, steig ein, sagt Nina und macht die Beifahrertür auf. Älgkalv besetzt den Sitz, sagt er skeptisch. Ach, setz ihn einfach zu Isbjörn auf die Rückbank, sagt sie und zeigt auf den Eisbären, der hinter ihr sitzt. Woher kennst du seinen Namen? fragt sie, während Finn den Elch nimmt und auf der Rückbank anschnallt. Ich liebe Ikea, sagt Finn, setzt sich und schnallt sich an. Nina lächelt, startet den Motor, sagt Ich auch und fährt los.