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Neda Kostic: Und so begeben... 

Meine Angst trage ich wie einen Rucksack auf den Schultern durch mein Leben.
Das Leben ist eine Reise, in der jeder von uns seinen Weg gehen muss, sagt meine Oma.
Manche gehen ihn ein Stück weit, kommen an ihr Ziel und verharren dort. Wir sind anders. Unser Weg führt nirgendwo hin, es gibt kein Ziel. Unser Weg führt uns immer weiter.
Es ist noch dunkel, als Oma mich weckt. Schnell ziehe ich mich an, während sie die Decke zu meinen Sachen in die kleine Tasche stopft. Sie ist nervös. Ich sehe es an ihrem Augenlid. Wenn sie nervös ist, zwinkert Oma mit nur einem Auge, das andere bleibt starr geöffnet. Es hat mich viel Zeit gekostet, das herauszufinden, aber jetzt erkenne ich an diesem ersten Anzeichen sofort, dass es nicht klug ist, sie in solchen Momenten unnötig zu reizen. Also stelle ich keine Fragen, nehme meine Tasche und das Akkordeon und verlasse unser Zelt.
Draußen nieselt es leicht. Die morgendliche Kälte zieht durch die dünnen Sachen direkt in meine Knochen. Davon bekommt man Rheuma, sagt Oma. Dagegen hat sie einen warmen Umhang aus Katzenfell, den sie sich hin und wieder auf die schmerzenden Stellen legt. Zur Sicherheit binde auch ich ihn mir manchmal nachts um meinen Bauch. Gegen das Rheuma.
Wir Kinder sammeln uns an der Feuerstelle. Sie ist schon kalt, Michel hat heute früh Wasser darüber gegossen. Er achtet sonst immer darauf, dass das Feuer nicht ausgeht, so dass selbst morgens noch ein wenig Glut durch das Dunkel der Asche glimmt. Doch heute ist es anders. Das Feuer ist gelöscht, und wir wissen, was das bedeutet.
Ich lege die Tasche ab und das Akkordeon, das mir Vater kurz vor seinem Tod geschenkt hat. Es ist schwer, und Oma wollte nicht, dass ich es mitnehme, aber mir fällt das Tragen  nicht zur Last. Ich glaube, das Akkordeon ist mit meinem Herzen verbunden, und wenn ich darauf spiele, stärkt sich diese Bindung. Ich spiele oft sogar unterwegs. Dann wird die Straße bunter, die Menschen schauen freundlicher. Am Wegrand begegne ich dann auch meinem Vater. Er winkt mir zu und lächelt. Aber nie sagt er ein Wort. Nie schließt er sich uns an, auch wenn ich ihn darum bitte. Es ist, als sei mein Vater uns immer auf dem Weg voraus. Als wüsste er, wohin wir gehen.
Um uns herum liegen verstreut einige Wellbleche, Planen und Hölzer. Die Alten reißen das ab, was in den letzten Tagen unser Zuhause gewesen ist. In einer Ecke türmen sich die Sachen, die wir zurücklassen werden. Oma sagt, dass man immer etwas zurücklassen muss, wenn man weggeht, damit man eines Tages wieder kommt. Als wir aus unserem Dorf fliehen mussten, ließen wir fast alles zurück, was wir hatten. Seitdem warte ich darauf, dass wir eines Tages wieder nach Hause kommen. Ich gebe nicht auf, jeden Tag der Reise Ausschau zu halten nach dem kleinen Waldstück, hinter dem versteckt unser Dorf liegt, durch das sogar ein Linienbus direkt in die große Stadt fährt. Manchmal fürchte ich fast, ich habe vergessen, wie es aussieht. Dann schließe ich die Augen und versuche, mir all die Kleinigkeiten wieder ins Gedächtnis zu rufen, die unser Dorf von den vielen anderen  dieser Welt unterscheidet. Den Schuppen von Sanjin, mit dem schrägen Dach, das nur deshalb nicht zusammenbricht, weil Sanjin es so beschlossen hat. Die kleine, weiß gestrichene Laterne vor Bodis Schlafzimmer, deren Licht ihn so oft nicht schlafen ließ. Unser Haus mit der himmelblauen Eingangstür und der kleinen Holzbank im Vorgarten, auf der Oma und Opa den ganzen Tag lang saßen, um in die Welt zu sehen. Den Duft der blühenden Linden im Sommer, der sich mit dem Gestank aus dem Fluss mischt, den Geruch von verbranntem Kaminholz und Schnee im Winter. Meine Nase würde nicht irren, sie könnte mein Zuhause immer wieder erkennen. 
Ich weiß, unser Dorf ist nicht mehr, wie ich es in Erinnerung habe. Aber ich will den Gedanken nicht aufgeben, es eines Tages vielleicht doch noch so vorzufinden. Als könnte  meine Hoffnung das Dorf wieder zu dem machen, was es war, bevor die Welt das Leben zwang, unsere Schritte zu lenken.
Hund trottet schwerfällig auf mich zu. Ich habe ihn gefunden, als wir hier ankamen, und ihn behalten. Er frisst die Hälfte meines Essens jeden Tag. Nachts schläft er auf meinen Beinen und hält mich warm. Ich habe ihm den Namen „Hund“ gegeben, denn das ist es doch, was er ist. Es ist niemals gut, sich an etwas zu binden, sagt Oma.
Michel sieht Hund missbilligend zu, wie er sich an meinem Hosenbein reibt.
Du kannst ihn nicht behalten, sagt er.
Ich weiß. Ich werde ihn fortjagen, wenn wir auf der Straße sind. Ich will gar keinen Hund mehr. Meine Angst, zu verlieren, ist stärker als mein Wunsch, zu besitzen.
Das letzte Mal, dass ich einen Hund hatte, war, als wir noch im Dorf wohnten. Oma schenkte ihn mir aus einem Wurf, den Opa im Fluss ertränkte. Nur Kalo durfte ich behalten, weil er der Stärkste war. Wir hatten ein gutes Leben. Dann kam der Krieg. Ich habe bis heute nicht verstanden, warum der Krieg uns aus unserem Dorf getrieben hat. Aber ich habe gelernt, dass niemand den Krieg verstanden hat. Selbst die nicht, die ihn führen.
Wir hatten nicht viel Zeit, unsere Sachen zu packen. An dem Abend, als wir in die Wälder flohen, weil am Horizont das Feuer der brennenden großen Stadt unser eigenes Schicksal ankündigte, nahm Opa Kalo und steckte ihn in einen Schuhkarton. Ich versuchte, ihn daran zu hindern, doch Opa sagte, der Hund wird uns verraten, und schickte mich ins Haus. Dann grub er ein Loch im Vorgarten. Noch während er eilig Erde auf den Karton schippte, hörte ich Kalo darin jaulen. Ich ließ meinen Hund zurück und lief hinter den Anderen her in den Wald. Von dort aus beobachteten wir, wie sie in unser Dorf einfielen. Fremde Menschen und bewaffnete Soldaten mit brennenden Fackeln in den Händen. Wie sie Türen eintraten und Fenster zerschlugen. Von Haus zu Haus liefen, als würden sie nach etwas suchen und erst wieder gehen, wenn sie es gefunden hatten. Wie sie sich gegenseitig etwas zuriefen. Durch den Lärm hindurch glaubte ich, das Wimmern von Kalo zu hören. Oma nahm meinen Arm und zog mich fort. Ich schaute nicht mehr zurück, sah nicht, was die fremden Menschen in unserem Dorf machten und ob sie Kalo entdeckt hatten.
Wir liefen durch das kleine Waldstück hinaus auf die Straße, dann weiter, um die große brennende Stadt herum, die Straße hinauf zum kleinen Hügel, auf der anderen Seite wieder hinunter, und irgendwann waren wir weiter, als ich selbst jemals gegangen war. Ich  erkannte den Weg nicht mehr, wir waren in der Fremde.
Seitdem sind wir unterwegs. Wir ziehen von Tag zu Tag, auf der Suche nach einem Platz, der richtig für uns ist. Anfangs besprachen die Alten unseren Weg abends am Feuer. Sie versuchten, eine Richtung für uns zu finden.  Doch seit einiger Zeit spricht niemand mehr darüber. Wir gehen, wohin die Straße uns führt. Macht sie eine Biegung, folgen wir ihr.
Oft fürchtete ich, wir könnten nur im Kreis laufen, anstatt voran zu kommen, anstatt wieder nach Hause zu finden. Als ich Oma einmal danach fragte, antwortete sie, es sei immer besser, sich im Kreis zu drehen, als auf der Stelle zu treten. Seitdem mache ich mir weniger Sorgen darum.
Heute Morgen herrscht Stille. Selbst wir Kinder sind noch zu müde zum Sprechen. Von den Alten braucht niemand ein Wort, sie alle kennen ihre Handgriffe. Sie haben es immer so gemacht. Wir stammen von Wanderern ab, sagt Oma, uns liegt das Reisen im Blut. Und sie zieht mit uns von Ort zu Ort, trotz ihrer Schmerzen. Oma ist sicherlich schon über einhundert Jahre alt. Ihr Haar ist vom Staub der Straße ganz grau geworden, und auch bei Michel färbt er sich langsam in Haar und Bart. Jeden Tag versuche ich, den pelzigen Geschmack der Reise von meiner Zunge zu kratzen, den Staub aus den Haaren zu schütteln und aus meiner Kleidung zu klopfen. Aber die Straße hat sich mit meinem Körper vermischt und mich zu einem Teil von ihr gemacht. Mein Blut fließt auf Bahnen aus Stein und Asphalt, festgetretener Erde und schmutzig weißem Kies. Nachts träume ich von Dörfern und Städten, in denen ich schon war, und von Orten, durch die ich erst noch kommen werde. Meine Füße haben sich an den Weg längst gewöhnt, sie laufen weiter, auch wenn ich stehe.
Abends, wenn der Mond für kurze Zeit den Platz der Sonne einnimmt, und wir unseren Schlafplatz gefunden haben, wenn Michel das Feuer angezündet und wir uns darum versammelt haben, essen wir. Wenn wir essen, tun wir es immer gemeinsam. Es gehört sich nicht, alleine zu essen, sagt Oma. Weil man nichts essen kann, während der Andere hungert. Meistens gibt es Fisch,  den die Alten aus dem Fluss gezogen haben, und Gemüse, das wir Kinder in den Müllcontainern hinter dem Markt gefunden haben.
Feuer reinigt, sagt Oma. Es reinigt den Fisch aus dem schmutzigen Fluss. Deswegen reinigt das Essen unsere Seelen. Eine reine Seele kann nicht anders, sie muss singen. Weil sie so leicht wird, dass sie es auf der Erde kaum aushalten kann. Sie will aufsteigen in den Himmel und sich dort unter die anderen Seelen mischen.
Die Musik ist der Weg ins Paradies. Eines Tages werden auch unsere Körper dort ankommen. Bis es soweit ist, schicken wir unsere Seelen voraus. Deshalb singen wir. Von den Orten, durch die wir kommen, und den Menschen, denen wir auf unserem Weg begegnen. Und wir singen von der Liebe. Weil die Liebe das Einzige ist, worauf man sich immer verlassen kann, sagt Oma. Davon verstehe ich nicht viel, aber ich glaube Oma. Weil sie die Einzige ist, auf die ich mich immer verlassen kann.
Manchmal können wir einige Tage am gleichen Ort bleiben. Dann ist es fast so wie zu Hause. Sanjin baut einen Schuppen, der nur hält, weil Sanjin es will, Bodi sucht seinen Schlafplatz unter einer Laterne, weil er es von zu Hause so gewohnt ist, und Oma sitzt den ganzen Tag draußen und schaut in die Welt. Wir Kinder erkunden, ob der Platz richtig für uns ist, und die Alten sitzen am Fluss und fischen. Aber dann kommen fremde Menschen, die uns sagen, dass der Platz doch nicht der Richtige für uns ist. Deshalb müssen wir weiterziehen und einen neuen Ort suchen. Wir packen unsere Sachen zusammen, reißen ab, was wir aufgebaut haben und laden alles, was wir noch gebrauchen können, auf den Karren. Wir hatten auch einmal ein Pferd, das den Karren zog. Es hieß Beauty und war weiß mit braunen Flecken. Beauty war eines Morgens nicht mehr da, vielleicht hat es sich losgerissen und ist davongelaufen, vielleicht ist es auch über Nacht fortgeflogen, wir wissen es nicht. Jedenfalls ziehen seitdem Michel und Bodi den Karren,  bis wir ein neues Pferd haben. Dann wird es leichter. Vor allem für Michel und Bodi.
Auf dem Grund meines Herzens hasse ich das Reisen. Aber Oma sagt, der Weg sei unser Ziel. Kaum ein Kind in meinem Alter, sagt sie, habe so viel von der Welt gesehen. Ich sollte glücklich sein, sagt Oma. Und ich versuche, mich glücklich zu fühlen. Aber viel zu oft wünsche ich mir die alten, bekannten Wege zurück, das Dorf mit dem unverwechselbaren Duft, und mein eigenes Bett, statt des Nachtlagers, das Oma mir aus ihren Anziehsachen macht. Ich schäme mich dafür. Oma sagt, dass viele Kriegskinder selbst das nicht mehr haben.
Das Leben fordert von jedem sein Opfer. Wir müssen alle früher oder später dafür zahlen. Ich bezahle mein Leben mit schmerzenden Füßen. Mit dem Verlust meiner Heimat und der Angst, die mir unbarmherzig folgt, wohin ich auch gehe. Mit Sehnsucht, die meine Seele fest in ihrem eisernen Griff hält.
Auch Oma hat bezahlt. Mit dem, was ihr am teuersten war.
Opa ist an einem schönen Tag im März gestorben. Eines Abends fiel er kopfüber in die Feuerstelle. Sein Haar fing sofort an zu brennen. Erst nachdem sie ihn mit Wasser übergossen hatten, merkten sie, dass er nicht nur eingeschlafen war.
Sie legten Opa in einen notdürftig zusammengezimmerten Sarg und dort blieb er dann vier Tage liegen. Seine Augen waren mit Goldstücken bedeckt. Ich habe einen davon weggenommen, und Opa schlug das Auge auf.
Jeden Tag kamen viele Mitglieder unserer Familie, um nach Opa zu sehen. Auch Unbekannte kamen und redeten mit ihm in einer Sprache, die ich nicht verstand. Doch niemand konnte Opa dazu überreden, wieder zu uns auf die Erde zurückzukommen. Oma sagte mir, dass er nun endlich am Ziel seiner Reise angekommen sei.
Ich habe ihn sehr darum beneidet.
Am Vormittag des vierten Tages verschloss man den Sarg mit einem Deckel, lud ihn auf den Karren und brachte ihn auf den Friedhof. Wir liefen hinter dem Karren her, wie wir es immer tun, nur dass diesmal keine Sachen von uns darauf lagen, sondern Opa im Sarg. Die kalte  Einsamkeit, die aus dem Grab kam, erschreckte mich und als die Erde auf den Sarg fiel, dachte ich an Kalo und musste so weinen, dass Oma mich an die Brust nahm.
Es regnete in Strömen, doch das schien niemandem aufzufallen. Stumm beobachteten wir, wie sie Opa begruben. Oma sagte mir später, Opa habe es bedauert, gestorben zu sein, deshalb regnete es am Tag seiner Beerdigung.
Das ist lange her, wie lange, kann ich nicht sagen, weil die Stunden wie Tage vergehen und die Tage sind wie Monate, aber ich weiß, dass Oma Opa immer noch nicht vergessen hat. Abends, wenn wir uns um das Feuer versammeln, weint sie immer ein bisschen um ihn. Manchmal weine ich mit ihr, denn auch ich weiß, wie es ist zu verlieren.
Langsam schickt die Sonne ihre ersten Strahlen zur Erde. Sie steht noch tief. Blutrot steigt  sie den Horizont hinauf und verspricht uns einen weiteren Tag. Michel bleibt einen Augenblick lang stehen und schaut in den Sonnenaufgang.
Und auch ich schicke ein Gebet zum Himmel.
Für die Reise.