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Daniel Bachmann: Im Wilden Westen 

Ich betrat das Motelzimmer und stand im Regen. Ich weiß, es gibt Menschen, die haben einen Faible für Horrorfilme. Zu denen gehöre ich nicht, aber einmal schleppte mich eine Freundin zum japanischen Horrorfilmfestival mit. Dort sahen wir uns einen Film an, in dem ein Monsterhaus die Hauptrolle spielte. Darin regnete es, was eine feuchte Angelegenheit war, zumal neben Wasser auch Blut aus Wänden und Decke drang. Das fand meine Freundin toll, und als sie mich fragte, ob wir nicht zusammenziehen sollten, sie hätte da ein einsames Häuschen im finsteren Walde gefunden, ging ich auf eine lange Reise, die heute noch nicht zu Ende ist. Doch in Elko holte mich die Vergangenheit ein. Ich schaute den Motelmanager an, ich schaute zur Decke, wo die Sprinkler lustig rieselten, ich schaute wieder den Motelmanager an.
„Hier regnet´s“, sagte ich.
Das Gute an Motels ist ja, dass der Wagen bereits vor der Tür parkt. Man steigt ein und fährt weiter. Das wollte ich tun.
„Es gibt nirgends Zimmer“, rief mir der Manager hinterher. „Wegen dem Youth Rodeo Festival.“
Ich zählte meine Optionen zusammen: Im Regenhaus bleiben. Oder in einer der Ghosttowns der Umgebung wie Jarbidge, Jiggs oder Metropolis das Quartier mit den Gespenstern umgekommener Goldschürfer zu teilen. Der Manager grinste, als ich meine Kreditkarte zückte. Dafür erklärte er sich bereit, nach diesem verdammten Dingens zu schauen, das irgendwie kaputt gegangen wäre, obwohl das eigentlich nie vorkomme. Und wer sagte es denn, zehn Minuten später war der Zimmermonsun vorbei. Ich öffnete Tür und Fenster, denn draußen hatte es noch immer 40° Grad, und daher hoffte ich auf baldige Trockenheit.
Also könnte ich ja schlafen gehen. Aber war da nicht von Rodeo die Rede gewesen? Ich selber kann ja Pferde nicht von Esel unterscheiden, deshalb stand es außer Frage: Da musste ich hin.

Weshalb Rodeo im Westen so populär ist, und in Wyoming sogar als offizieller Sport des Staates die Nummernschilder der Autos ziert, ist nicht schwer zu erraten: Rodeo ist eine Cowboy-Sache, und dieser Beruf ist hier fast noch so weit verbreitet wie vor 100 Jahren. Wenn ein Cowboy nach getaner Arbeit genug von Rindern und Pferden hat, geht er zum Rodeo und beschäftigt sich mit Rindern und Pferden. Da gibt es verschiedene Disziplinen wie Bullenreiten oder das möglichst schnelle Einfangen eines Rindes mit dem Lasso. Obwohl die Nacht nicht mehr jung war, ging es bei den Wettkämpfen noch voll zur Sache. Ich kam zu einem Gehege, in helles Flutlicht getaucht. Dort lehnte ich mich lässig ans Gatter, weil das alle taten, und wünschte mir einen Cowboyhut, den ich in den Nacken schieben könnte, weil das auch alle taten. Jemand feuerte einen Schuss ab, ein Gatter schwang auf und ein Kalb stürmte heraus. Hintendrein galoppierten zwei lassoschwingende Cowboys, die Schlingen flogen durch die Luft, die Pferde stoben auseinander, und dazwischen baumelte das Kalb, wie durch ein Wunder an Vorder- und Hinterläufen gefesselt.
„8,6 Sekunden für Vater und Sohn Carroll, das kann sich sehen lassen!“, rief eine aufgetakelte Blondine ins Mikrofon, und die Leute klatschten Beifall. Dann knallte es wieder, das Gatter öffnete sich, ein Kalb stürmte heraus, dahinter zwei Cowboys… ich sah mir die Sache eine Stunde lang an, bis klar wurde, größere Ereignisse waren hier nicht mehr zu erwarten. Weil der Cowboyhutbesitzer neben mir vom Bullenreiten schwärmte, ging ich mit ihm hinüber zu den Ställen.
Das Wort Bullenhitze ist ganz sicher beim Rodeo erfunden worden. Im Stall, der sinnigerweise aus Wellblech bestand, herrschten thermometersprengende Temperaturen. Was ein Grund war, warum jede Menge Leute jede Menge Bier trinken mussten. Nun kann man amerikanisches Gebräu hinsichtlich Inhaltstoffe und Alkoholgehalt ja nicht mit unserem vergleichen, trotzdem war schon genügend die Kehlen hinabgeflossen, denn eine Wand aus Gebrüll schlug mir entgegen. Ich kämpfte mich nach vorne, und  sah meinen ersten Bullenritt des Lebens, live und ungeschminkt. Ich bin ja auch kein Kostverächter, aber wer sich auf ein Tier wagt, welches aus einer Tonne Muskeln und Sehnen besteht und in der Lage ist, in alle vier Himmelsrichtungen zu springen, und zwar gleichzeitig, der verdient den Titel „Großmeister des Wahnsinns.“ In einem engen Gatter hiefte sich der nächste Titelanwärter auf den Bullen, das Tor zum Ring flog auf, das Tier rannte hinaus, sprang in die Höhe, drehte sich wie ein Derwisch im Kreis, krümmte sich, bockte, und im selben Moment haute es den Reiter in den Dreck. Er rappelte sich auf und rannte um sein Leben. Das also war Bullenreiten. Ich dachte, härter kann´s nicht kommen, aber ich sollte mich täuschen.
Wir sahen eine Weile zu, und ich muss schon sagen, irgendwie war ich fasziniert. Zum größten Teil waren die Reiter junge Burschen, und als sich einer neben mich stellte, fragte ich, ob er Lust auf ein Bier hätte.
„Später“, sagte er.
Also wartete ich auf später. Nach seinem letzten Ritt verzogen wir uns an die Bar, und ich gab einen aus. Hatch´s Antworten erzählte, er sei kein Mitglied der American Junior Rodeo Association. Das war von Bedeutung, weil er deshalb nicht an lukrativen Rodeos teilnehmen durfte, sondern mit seinen Kumpels von einem obskuren Wettbewerb zu anderen ziehen musste. Er nannte das Wanderdasein seine Bestimmung, während er Nevada, Arizona und Wyoming durchstreifte. Mal bekam er hier ein kleines Preisgeld, mal dort.
„5000 Dollar im Jahr. Das geht drauf für Sprit, Saufen und Weiber.“
Ich wollte wissen, was ihn am Rodeo reizte.
„Der Kick“, war die Antwort.
Der Lohn für den Kick – neben dem bisschen Geld – waren zweimal die Schulter gebrochen, ein Oberschenkelhalsbruch, x-mal die Hand entzwei, beide Knie kaputt, und heute hatte es wohl eine Rippe erwischt.
„Wie alt bist du?“, fragte ich.
„23“, sagte Hatch.
Ich gab noch einen aus, und Hatch sagte: „Wenn du Lust hast, wir gehen auf ´ne Party.“
Ich sagte, „klar hab´ ich“, und das stimmte auch. Ich war gespannt, wie Rodeoreiter feiern.

„The Cage“ war die Kleinausgabe des Bullenrings. Zwei Kämpfer umkreisten sich, doch gab es kein langes Abtasten. Mit einem Mal prügelten sie mit bloßen Fäusten aufeinander ein wie bei einer zünftigen Festzeltschlägerei. Einer ging zu Boden, der andere sprang auf ihn drauf, während die Zuschauer wie Affen am Gitter des Käfigs hingen und aus Leibeskräften brüllten. Jemand stieß mir einen Ellbogen in die Seite, und ich sah mich einem Fotographen gegenüber, der versuchte, ein Objektiv durchs Gitter des Käfigs zu zwängen.
„Sorry buddy“, sagte er. „Bin von der Lokalzeitung.“
„Das da“, fragte ich ungläubig, „kommt in der Zeitung?“
„Aber hallo“, sagte er. „ In The Elko Daily Free Press.”
“Da will ich der Arbeit nicht im Wege stehen”, sagte ich. Der Kampf war zu Ende, beide Fighter blutüberströmt. Ein Cowboy riss die Hand des Siegers hoch und reichte ihm einen Scheck.
„100 Dollar kriegen die“, sagte Hatch ehrfürchtig. „Davon träumen wir nur.“
Der Cowboy im Ring kündigte die nächste Runde an. Ich hatte auf einmal das Gefühl, dass ich den Rest der Nacht lieber in einem nassen Zimmer in einem nassen Bett verbringen wollte. Also gab ich Hatch die Hand und verabschiedete mich.
„Jetzt schon?“, fragte er. „Wir gehen noch ins Puff.“
„Anders Mal“, antwortete ich, obwohl ich wusste, dass es kein anders Mal geben würde.
Dann fragte ich, wann sein nächster Rodeo sei.
„Morgen“, antwortete er. „In Round Mountain.“
Das war ein Kaff 500 Kilometer südlich von Elko. Den größten Teil der Strecke würde Hatch über Dirt Roads, also ungeteerte Straßen, zurücklegen müssen. Und das mit einer angeknacksten Rippe und nach einer Nacht, die noch nicht zu Ende war.
Apfelsaft gibt Jugend Kraft, heißt es ja, und vielleicht floß auch ab und zu davon durch Hatchs Kehle. Ich wünschte ihm Hals und Beinbruch, aber bitte nicht wörtlich nehmen, und kehrte zurück in mein Feuchtbiotop.

„This is the place“, verkündete Brigham Young der Legende nach im Jahr 1847, und rammte seinen Wanderstock in den Salzsee, der ihn und seine Jünger auf einer gleißenden Fläche von ein paar Tausend Quadratkilometern umgab. „Hier bauen wir unsere Stadt!“
„Hurra!“, riefen die Jünger, und damit ihre Motivation auch weiter anhielt in den schweren Zeiten, die da kommen sollten, erlaubte ihnen der offizielle Zweite Prophet der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, gleich mehrere Frauen zu ehelichen. Was nicht einfach war in diesen kargen Zeiten, denn unter Youngs 148-köpfiger Schar befanden sich 143 Männer, aber nur drei Frauen. Vielleicht wär´s andersrum klüger gewesen.
Das ist eine stark gekürzte Wiedergabe der Geschichte der Mormonen, des Mormonenstaates Utah, und der Mormonenhauptstadt Salt Lake City. Die Langversion der Geschichte ist nicht viel anders, nur länger.
Seit Elko fuhr ich durch eine Gegend, von der ich unter Eid schwören möchte, dass menschliches Leben unmöglich ist. Der Große Salzsee weist einen Natriumchloridgehalt von bis zu 25 Prozent auf. Links und rechts des Highways, der auf einem Damm schnurstracks über den See führte, blinkte es blutigrot. Das waren keine Cage-Fights umgeben von fünf Millionen Tonnen Kochsalz, sondern Bakterien. Ausgerechnet hier also hatten die Mormonen auf ihrer Flucht vor den Glaubenshäschern gesagt, jetzt ist Schluss. Bis hier und nicht weiter. Sie waren auf ihrem Weg in dieses noch zu Mexiko gehörende Gebiet durch Fort Bridger gekommen, und Brigham Young war sofort mit Jim Bridger zusammengerasselt. Da trafen zwei Alphatiere aufeinander, was einem nicht wundern muss, denn wer männlich war und „hinter der Grenze“ überleben wollte, musste auch eines sein.
Die Oberalphatiere waren die Mountain Men. Sie gehörten zu den ersten Weißen, die in den Jagdgründen der Indianer in den heutigen Staaten Wyoming, Montana, South Dakota und Idaho lebten. Old Shatterhand und Old Surehand waren zwar nicht darunter, aber Karl May hat sich von den Geschichten um Kit Carson, White Head Tom Fitzpatrick, Joe Meek und Jim Bridger inspirieren lassen. Bridger war der Berühmteste unter ihnen. 45 Jahre seines Lebens lebte er „hinter der Grenze“. Schon im jugendlichen Alter von 24 erforschte er Wyoming, und stieß als erster weißer Mann auf die versteinerten Bäume rund um Tower Junction im Yellowstone National Park.
„In versteinerten Bäumen sitzen versteinerte Vögel und singen versteinerte Lieder“, erzählte er später Reportern aus Boston und New York.
Einmal im Jahr trafen sich die Mountain Men zum Rendezvous, einem Jahrmarkt in der Wildnis. Ein paar Hundert von ihnen und mehrere Tausend Indianer campten drei Wochen lang am Ufer des Green River. Dort handelten und feierten sie, dass sich die Balken bogen. Beim Rendezvous wurden Biberfelle gegen Waren getauscht, es wurde gesoffen, gepokert und gekämpft, Reiterspiele und Schießwettbewerbe veranstaltet, gehurt und der allgegenwärtige Tripper mit Whiskyduschen behandelt. Aber man konnte auch galant sein: Während des Rendezvous von 1836 kreuzten zwei Damen auf, Narcissa Whitman und Eliza Spalding. Es waren die ersten weißen Frauen, die den Kontinent durchquerten. Indianer wie Mountain Men tanzten für sie, und Narcissa notierte in ihr Tagebuch: „Außer Farbe am Körper haben die meisten nichts getragen.“ Als ihr Ehemann Jim Bridger einen abgebrochenen Indianerpfeil aus dem Rücken operierte, kannte die Herzlichkeit keine Grenzen mehr. Ganz anders empfanden zwei Jahre später vier Missionarin die Gastfreundschaft. Myra Eels schrieb: „Zwölf weiße Männer, angemalt wie Indianer, tanzten. Ich finde keine Worte für die schreckliche Szene. Wie können zivilisierte Weiße nur so auftreten? Sie müssen dem Teufel verfallen sein.“
Wie gerne hätte ich dieses Spektakel miterlebt. Zumindest entdeckte ich zu meiner großen Freude, dass das Dorf an der Mündung des Horse Creeks in den Green River Daniel hieß.

Es war später Nachmittag, als ich Salt Lake City erreichte. Wie ein fein geknüpfter Teppich lag die Stadt vor mir, während dahinter die jäh aufragende Kulisse der Rocky Mountains in die Höhe ragte. Brigham musste tatsächlich ein Visionär gewesen sein, denn this is wirklich und tatsächlich the place. Ich verspürte Lust, einige Zeit hier zu bleiben, auch wenn ich wusste, dass ich nirgends ein gepflegtes Pils bekommen würde, um Staub und Salz die Kehle runter zu spülen. Einen Harem zu haben, darüber kann man sich mit den Mormonen verständigen, aber einen Kasten Bier im Keller ist Tabu. Was auch Vorteile hat. Eine Großstadt mit Alkoholverbot ist sicher, und Salt Lake City eine der wenigen amerikanischen Städte ohne No-Go-Areas. Ich gönnte mir ein schickes Hotel im Zentrum, und orderte selbstbewußt, „mit Kingsize-Bed.“
Bettengröße ist im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ja so ´ne Sache. Selbst in die schmalste Kammer wird ein Bett gewuchtet, welches einer Durchschnittsfamilie mit Hund Platz bietet. Nach oben – besser gesagt, in die Breite - stehen alle Möglichkeiten offen. Ein Twin-Bed ist nicht für zwei Leute gedacht, sondern für vier. So eines hat vermutlich den englische Limerick-König William Cosmo Monkhouse inspiriert, als er über Trigamy dichtete:
There was an old fellow of Lyme
Who lived with tree wives at one time.
When asked, “Why the third?”
He replied “One´s absurd,
And bigamy, Sir, is a crime.”
Queensize bezeichnet ein Bett für die Deutsche Fußballnationalmannschaft mitsamt Betreuern, und Kingsize wurde für Rulon T. Jeffs erfunden, der bis 2002 Oberhäuptling der Fundamentalistischen Kirche Jesus Christus der Heiligen der Letzten Tage war. Von ihm wird berichtet, zum Zeitpunkt seines Todes im biblischen Alter von 92 Jahren Ehemann von 75 Frauen gewesen zu sein, mit denen er 65 Kinder hatte. Als er starb, bestimmte sich sein Sohn Warren flugs zum neuen Chef, und heiratete die Frauen seines Vaters.
Was ich in einem Kingsize-Bett zu suchen hatte, wird ein ewiges Rätsel bleiben, aber eines sei verraten, rausfallen kann man nicht. Nach dieser Entdeckung machte ich mich auf in die Stadt, schaute mir die übriggebliebenen Blockhäuser der Mormonen aus den Gründerzeiten an – da ging es eng zu, für Kingsize-Betten wäre kein Platz gewesen – und natürlich machte ich dem Wahrzeichen des Staates am Temple Square meine Aufwartung: Fleißig wie sie sind, verliehen sich die Mormonen Bienenkörbe als Staatssymbol, und ich, deutscher Verwandter von Puh, dem Bären, kann dieser Entscheidung nur billigen.
Drei Tage schlenderte ich durch Salt Lake City, dann zog ich ein Fazit: Hier konnte man es aushalten, auch wenn man in Treue zur einzigen Ehefrau stand. Als ich am vierten Morgen aus der Hoteltür trat, blinkten die Schneefelder der nahen Rocky Mountains so verführerisch zu mir herab, dass ich auf dem Absatz kehrt machte. Ich kündigte Zimmer samt Kingsize Bett, stieg ins Auto, und hätte keine 10 Minuten später in den zweiten Gang zurückschalten müssen, wäre der Wagen nicht mit Automatik ausgestattet gewesen. Die Straße wurde steiler und steiler, der Motor röhrte, und ich konnte an nichts anderes denken, als wie es die Siedler geschafft hatten, diese Mauer aus Fels mit ihren Ochsenkarren zu überwinden.