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Ohrenschmaus

Kulinarisches und Literarisches ergänzen sich beim Kurzgeschichten-Wettbewerb in der Trafohalle

Fast bleibt Thomas Mustermann an diesem Abend ein Phantom. Der Autor der Kurzgeschichte "Heut`Nacht oder nie" gibt sich am Ende des Abends nicht zu erkennen. Dabei soll er als Sieger eines Geschichtenwettbewerbs-dessen Titel ebenfalls: "Heut`Nacht oder nie" auf die Bühne treten. Optisch ist er schwer zu ermitteln; im Text beschreibt er sich als "durchschnittlichen Typen".
Die Schauspieler Gian Rupf und Nicole Marischka verlesen an diesem Abend in der Trafohalle am Giesinger Berg vier Texte-die besten aus 130 Einsendungen. Mehr als hundert Gäste sitzen vor spanischem wein an weiß betuchten Banketttischen, unter fabrikhallenhohen Decken bei diesem Lesungsmenü der Veranstaltungsagentur "H+S". Die Zweimannkombo "unsere Lieblinge", in spektakulär bedruckten Anzügen, interpretiert die Geschichten auf Kontrabass und Minimalschlagzeug. "wenn Frauen fragen: Was denkst Du", singen Stefen Noelle und Alex Haas, "sprich nicht von Traveller`s Cheques." Auch auf dem Teller spiegeln sich die Kurzgeschichten. Sternekoch Holger Stromberg tischt zum Text "Zandernballade" von Ralph Kratzert so auf, wie es sich für einen Ex-Vorsitzenden der "Jungen Wilden" gehört: Der Zander, der in der Geschichte an einem Angelhaken mit dem Tode ringt, findet sich auf dem Teller als Karrée inmitten einer Spirale aus Gemüse- und Blutwurstschaum. Klingt bizarr, schmeckt wunderbar. Mit einer kreolischen Wasserspinatsuppe und Krustentierklößchen hat Stromberg zuvor die Kurzgeschichte "37 Grad im Paradies" von Silke Andrea Schuemmer interpretiert. Im Text verliebt sich eine Kletterpflanze hoffnungslos in den Mann, der sie aus dem Pflanzencenter nach Hause trägt. Seine gärtnerischen Bemühungen "an meiner rauen, leicht moosigen Haut" lösen bei ihr "Gefühle ähnlich der Photosynthese" aus. Entsprechend eifersüchtig ist die stetig wachsende Grünpflanze, als ihr vermeintlicher Liebhaber menschliche Gefährtinnen mit nach Hause bringt.
Wein, Viergangmenü und Geschichten verfehlen ihre Wirkung nicht: Während der Lesung starren die Gäste gedankenversunken auf die Herbstlaubdeko, lehnen sich aneinander oder träumen sich in eine Gute-Nacht-Geschichte. Auch während "Küss mich in der Werbepause" von Andreas Kurz. Darin wagt sich der in Liebesdingen resignierte Ich-Erzähler an eine Kollegin heran. Dass sie zum Date überhaupt eintrifft, überfordert ihn. "Wie der Glöckner von Notre Dame schlurfte ich ihr ins Wohnzimmer hinterher." Leider knipst Laura schon bald den Fernseher an, um "Außer Atem" zu gucken. Passend zu "Küss mich in der Werbepause" gibt es zum Nachtisch "Kitkat-Mousse".
Am Ende wählt das Publikum: "Heut`Nacht oder nie" von Thomas Mustermann. In seiner Geschichte spielt er ironisch mit der Lesungssituation und prophezeit sich selbst den Sieg. Sein Text ist später im Internet unter www.hs-veranstaltungen.de nachzulesen. Schließlich begibt sich Mustermann doch auf die Bühne: Hinter dem Pseudonym verbirgt sich der Münchner Peter Reinhardt. "Ich seh ja auch besser aus als Durchschnitt" sagt er noch.

(Süddeutsche Zeitung 17. 10.2005/ Anja Burkel)