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Lydia Dimitrow: 17 

Mit 17 möchte man am liebsten das Herz in den Kopf verlegen. Denn man hat zu oft das Gefühl, dass es an der falschen Stelle schlägt. Mit 17 denkt man viel zu selten nach. Da möchte man am liebsten das Herz in den Kopf verlegen.
Als ich 17 war, habe ich das erste Mal einen Jungen geküsst, in den ich nicht verliebt war. Ich dachte immer, das ginge nicht, doch das war ein Irrtum. Es geht. Es passiert. Und danach steht man vorm Spiegel und betrachtet das eigene Gesicht. Sucht, ob es sich verändert hat. Ob man es sieht. Ob man irgendetwas sieht.
Mit 17 denkt man viel zu selten nach. Vielleicht ändert sich das später, denkt man. Vielleicht auch nicht. Ich habe immer mein Bestes gegeben, mit 17, wollte die richtigen Entscheidungen treffen. Aber es gibt Momente, in denen man sein Bestes gibt, und es geht trotzdem schief. Da kann man sich anstrengen, so sehr man will. Manchmal geht eben alles schief. Oder einiges. Da möchte man dann sein Herz in den Kopf verlegen. Vielleicht wäre dann alles leichter.
Es war eine warme Sommernacht.
Ich kannte kaum jemanden auf der Party, meine Freundin hatte mich mitgenommen. Hingeschleppt. Wie auch immer. Wir feierten in einem großen, ungepflegten Obstgarten. Es war warm, der Himmel war klar und ich habe sogar eine Sternschnuppe gesehen. Nur habe ich mir nichts gewünscht. Der Rasen war etwas vertrocknet, er kratzte unter den Füßen. Den nackten Füßen. Es gab harte Drinks und kleine Partylampions, manche tanzten, ich nicht, ich tanze fürchterlich.
Es war eine dieser Nächte, in denen man die Sterne sieht und Wodka trinkt. In denen man die Zeit vergisst und vielleicht auch sich selbst. In der das Herz schreit. Und tanzt. Schlägt. Und klopft.
Ich stand etwas abseits von den anderen und starrte in die Dunkelheit. Ich hielt mir das kühle Glas an die Stirn.
„Hey“, sagte er.
Ich drehte mich um. Er war groß und dünn, hatte dunkle Haare und ein Grübchen im Kinn. Ich drehte mich wieder von ihm weg.
„Hey“, sagte ich, ohne ihn anzusehen.
Er stellte sich neben mich.
„Warum bist du nicht bei den anderen?“
„Was geht dich das an?“
Er sagte nichts und blieb stehen und wir schwiegen. Ich sah hinauf in den Himmel und hoffte, dass ein Stern vom Himmel fallen würde. Ein Stern, der vom Himmel fällt. Eine Sternschnuppe. Ich hätte mir so viel gewünscht.
„Ich heiße Sven“, sagte er.
„Hannah.“
Ich gab ihm mein Glas.
„Wodka“, sagte ich und lachte. Er nahm einen Schluck.
„Du bist sehr hübsch“, sagte er und ich glaubte ihm nicht. Er gab mir mein Glas wieder und ich trank.
Ich hatte in jener Nacht dieses leichte, weiße Kleid an. Es hat dünne Träger und geht mir bis zu den Knien. Meine Freundin sagt immer, ich sähe fürchterlich dünn in diesem Kleid aus. Dürr.
„Warum sagst du so etwas?“
„Was?“
„Dass ich hübsch aussehe.“
„Ich weiß nicht. Weil es stimmt.“
„Lass es.“ Und ich trank das Glas aus.
Mir war warm und leicht zumute, ich hatte fast Lust zu tanzen. Mit nackten Füßen auf dem harten, vertrockneten Rasen. Unter einem Himmel voller Sterne. Und wenn ein Stern vom Himmel fiele, wer weiß, vielleicht würde er mich treffen und vielleicht würde dann etwas Wunderbares passieren.
Ich stellte mein Glas neben mich ins Gras und drehte mich einmal um mich selbst. Ich musste lachen. Das weiß ich noch.
„Weißt du, wie lange eine Ewigkeit ist?“, fragte ich ihn.
„Nein, ich glaube nicht.“
Ich stellte mich vor ihn und legte ihm meine Hände auf die Augen.
„Siehst du, so lang ist eine Ewigkeit.“
Dann lachte ich noch einmal und stellte mich wieder neben ihn.
Er sah mich an.
„Ich sehe hübsch aus“, sagte ich. „Aber du darfst mir das nicht sagen. Ich kenne dich doch gar nicht.“
Er sagte nichts, holte eine Zigarette aus seiner Hosentasche und zündete sie an.
„Nein“, sagte er, „ich kenne dich nicht.“
„Ich bin Hannah.“ Ich stellte mich auf Zehenspitzen und drehte mich. Drehte mich. Drehte mich. Drehte mich.
„Hey“, sagte er und er nahm mich bei den Armen und hielt mich fest. Ich ließ mich einfach fallen.
„Jetzt weißt du, wie lang eine Ewigkeit ist, nicht wahr, jetzt weißt du es? Eine Ewigkeit ist lange, verdammt lange, das kann ich dir sagen!“
Er warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus.
Es war eine dieser Nächte, in denen man die Sterne sieht und Wodka trinkt. In denen man die Zeit vergisst und vielleicht auch sich selbst. In der das Herz schreit. Und tanzt. Schlägt. Und klopft.
„Ich glaube, ich muss kotzen.“
„Setz dich hin.“
„Weißt du, normalerweise bin ich nie betrunken.“ Ich setzte mich.
Ich streckte die Arme hinter mich und stützte mich auf sie und starrte in den Himmel. „Warum bist du es dann heute?“
„Ich hab mit meinem Freund Schluss gemacht.“
Er sah mich an. Er saß neben mir in diesen harten Stoppeln und sah mich an.
„Ich hab einfach mit ihm Schluss gemacht. Verstehst du? Schluss!“ Ich lachte. „Er war mein erster Freund. Ich hatte mein erstes Mal mit ihm. Mein erstes Mal. Ich habe gerne mit ihm geschlafen, wirklich.“
Ich ließ mich nach hinten fallen.
„Wart ihr lange zusammen?“
„Lange? Lange? Verdammt lange. Eine Ewigkeit. Weißt du, wie lange eine Ewigkeit ist, weißt du das? Ja, du weißt es, nicht wahr? Wenn man die Augen schließt, kann ein Augenblick eine ganze Ewigkeit dauern. Wir waren eine Ewigkeit zusammen.“ Ich lachte noch einmal und hielt mir den Bauch, um mich nicht zu übergeben.
„Ich habe ihn geliebt, weißt du? Ich liebe ihn immer noch! Weißt du, wie das ist, jemanden zu lieben, weißt du das?“
Er sah mich an und sagte nichts. Ich hörte die Grillen zirpen. Und ein bisschen von der Musik. Pink Floyd. Glaube ich.
„Ich wünsche mir, dass ein Stern vom Himmel fällt und dass etwas Wunderbares passiert. Das wünsche ich mir.“
Meine Tränen waren warm. Ich spürte, wie sie meine Haut hinab rannen. Spürte, wie meine Augen anschwollen. Spürte, wie sich in mir alles zusammenzog, zusammenzog, als könnte es sich nie wieder lösen, als könnte es niemals aufhören, niemals, dieses Klopfen, dieses Wehtun, niemals, niemals.
„Warum hast du mit ihm Schluss gemacht, wenn du ihn liebst?“
Ich stand auf, zu schnell, das merkte ich gleich.
„Weil es nun mal nicht immer ausreicht, zu lieben! Verstehst du? Manchmal, da reicht es eben nicht!“
Ich zitterte, mir war so schrecklich warm und ich war froh, dass ich es noch zu einem Baum schaffte. Meine Freundin kam zu mir und hielt mir die Haare. Ich stammelte etwas von Wodka und sie besorgte mir kaltes Wasser. Sie schüttete es mir über die Haare und ins Gesicht.
„Scheiße“, sagte ich. „Scheiße.“
Mit 17 muss einem so etwas wohl mal passieren. Dass man Wodka trinkt. Und dann hinter einem Baum steht. Dass einem die Haare gehalten werden. Dass man eine Sternschnuppe sieht und sich nichts wünscht und dann auf eine zweite wartet und nichts passiert, einfach nichts passiert, und man trotzdem Wünsche hat. Mit 17 trifft man falsche Entscheidungen und man wundert sich darüber. Die Dinge laufen anders als geplant und man wundert sich. Dinge gehen kaputt und man wundert sich. Man steht da und kann es nicht fassen, kann es einfach nicht fassen.
Man sagt immer, die Zeit heile alle Wunden. Aber wie lange muss man warten? Wie lange muss man stillhalten? Kann man das überhaupt? Stillhalten? Man steht da und kann es nicht fassen. Kann auch nicht warten. Schließlich schlägt das Herz doch weiter.
Ja, eine Ewigkeit ist eine lange Zeit. Aber auch eine Ewigkeit geht vorbei. Das habe ich erfahren, als ich 17 war. Auch eine Ewigkeit geht vorbei.
„Normalerweise bin ich nie betrunken“, war das erste, das ich zu ihm sagte.
Er lächelte. „Ich habe eine Sternschnuppe gesehen. Du hast sie dir doch so sehr gewünscht.“
„Ja, und dass etwas Wunderbares passiert, nicht wahr? Das lag nur daran, dass ich so betrunken war.“
„Oder daran, dass du Wünsche hast.“
„Jeder hat Wünsche.“
Er war wirklich groß und dünn. Aber nicht zu dünn. Und sein Grübchen gefiel mir. Er roch nach Sommer und auch ein bisschen nach Erdbeeren. Nach Rauch. Aber auch nach Sonne.
Ich sah ihm in die Augen. Grüne Augen. So wie ich.
„Es tut mir Leid“, sagte ich.
Er sagte nichts und ich war froh darüber.
„Möchtest du tanzen?“, fragte er.
„Nein. Ehrlich gesagt, nein.“
„Warum?“
Und weil mir nichts einfiel, tanzte ich mit ihm.
Ich legte meine dünnen, weißen Arme um seinen braungebrannten Hals und tanzte mit ihm. Unter einem Himmel voller Sterne. Er roch nach Sommer und nach Erdbeeren. Nach Rauch und nach Sonne. Und ich lehnte meine Stirn gegen seine Brust und ich roch ihn noch mehr. Ich bewegte meine Füße ganz langsam, ganz vorsichtig, als könnte der Boden unter mir brechen, wie Eis.
„Fängst du mich?“, fragte ich.
„Was?“
„Fängst du mich, wenn der Boden bricht?“
„Ja“, sagte er und ich glaubte ihm.
Immer noch Pink Floyd. Dabei mochte ich die nicht einmal besonders. Wish you were here. Ausgerechnet das.
„Hey“, sagte er, „sieh mich an.“
Und ich hob meinen Kopf.
Dann nahm er mein Gesicht in seine Hände und küsste mich. Küsste mir dir Tränen von den Augen, von den Wangen. Dann meinen Mund, ich spürte seine Zunge, spürte meine Zunge, küsste, küsste, als wäre es richtig, als würde ich es wollen, tat so, als hätte ich die ganze Zeit nichts anderes gewollt. Vielleicht, weil ich dachte, dass es leichter wäre, mir selbst zu glauben, wenn mir die anderen glaubten. Vielleicht war es Betäubung. Vielleicht, um nicht zu fallen. Ich weiß es nicht. Ich dachte nicht nach, nein, kein bisschen.
Mit 17 denkt man viel zu selten nach. Man möchte das Herz in den Kopf verlegen. Weil es oft an der falschen Stelle schlägt.
Er nahm meine Hände und zog mich mit sich hinter diesen Schuppen, diesen alten Schuppen, und wir legten uns in das harte Gras, lagen da, küssten, küssten.
„Du bist wirklich hübsch“, sagte er.
„Nein.“
Er streichelte meine Brüste durch mein Kleid und ich fühlte, ich fühlte – nichts. Ich küsste ihn und klammerte mich an ihn. Ließ ihn machen. Ließ ihn mir unters Kleid fassen. Und fühlte nichts. Nichts.
Ich dachte immer, ich könne keinen Jungen küssen, in den ich nicht verliebt bin. Aber es geht. Es passiert einfach.
Wir lagen hinter einem alten Holzschuppen, auf dem Rücken, und starrten in den Himmel. Ich liege gern auf dem Rücken. Lieber als auf dem Bauch. Da sieht man so wenig.
Seine Hand hielt meine, unsere Lippen waren vom Küssen wund und mein Kleid schien kürzer als normalerweise.
„Wenn man darauf wartet, sieht man sowieso keine Sternschnuppe“, sagte er.
„Kann schon sein.“
„Sie fallen einfach so vom Himmel, wenn man ganz zufällig in den Himmel sieht. Und der Wunsch kommt von allein.“
„Kann schon sein.“
Er sah mich an.
„Wenn du jetzt eine sehen würdest, was würdest du dir wünschen?“
Ich hätte lügen müssen, deswegen sagte ich nichts.
Wir sahen keine Sternschnuppe mehr. Wahrscheinlich hatte Sven Recht. Sie kommen, wenn man sie nicht erwartet, sie kommen, wenn man sie nicht dringend braucht, und überhaupt, wer sagt eigentlich, dass diese ganze Sache mit dem Wünschen überhaupt stimmt?
Ich stand auf und wollte gehen. Zu den anderen. Zu der Musik. Zu den letzten Resten des Büffets.
„Hannah?“
„Hm?“
„Denkst du, dass… Ich meine…“
Ich gab ihm meine Hand und er stand auf. Er stand ganz dicht vor mir und ich roch wieder diesen Duft nach Sommer und Erdbeeren.
„Warte“, sagte ich und hielt mein Ohr an seine Brust. „Ich kann dein Herz schlagen hören.“
Ich lachte.
„Hannah…“
„Was?“
„Meinst du, dass das was werden kann? Ich meine, mit uns beiden?“
Ich sah ihm in die Augen. In seine grünen Augen. Grüne Augen, so wie ich.
„Wie meinst du das?“, fragte ich, fragte ich, obwohl ich es wusste.
„Na ja, wann sehen wir uns wieder?“
Ich sah ihn an, roch ihn, dachte an seine Küsse, an seine Hand unter meinem Kleid, an den Himmel voller Sterne, an Pink Floyd.
„Aber“, sagte ich, „aber, ich liebe ihn doch.“
Ich sagte es. Einfach so. Als wäre es das Natürlichste der Welt. Und er ging. Er ging.
Er drehte sich um und ging zurück zu den anderen, steckte sich eine Zigarette an, ließ sich ein Glas geben, trank, ich weiß nicht was, und sah mich nicht mehr an.
Am nächsten Morgen stand ich im Badezimmer vorm Spiegel und betrachtete mein Gesicht. Suchte, ob es sich verändert hatte. Ob man es sehen konnte. Ob man irgendetwas sehen konnte.
Doch es hatte sich nichts verändert. Man konnte nichts sehen.
Meine grünen Augen. Seine grünen Augen. Das Herz ist ein einsamer Jäger. Da wird auch mal einer angeschossen. Man kann das Bluten nicht stillen. Nicht mal das eigene. Man sagt immer, die Zeit heile alle Wunden. Aber wie lange kann man darauf warten? Und wie lange kann man jemand anderen darauf warten lassen?
Mit 17 möchte man das Herz in den Kopf verlegen. Vielleicht wäre dann vieles leichter.
Ich war nicht besonders lange 17, ein Jahr lang, um genau zu sein, das ist nicht mal ganz eine halbe Ewigkeit. Danach war ich nicht mehr 17. Aber eigentlich hat sich nichts geändert. Nein, es hat sich nichts geändert. Das Herz ist immer noch genauso ungeduldig und man denkt viel zu selten nach. Dinge passieren einfach. Man liebt. Man ist einsam. Das Herz schweigt nie und man kann es auch nicht in den Kopf verlegen. Es bleibt, wo es ist, schlägt mal hier, mal dort und nichts ist leichter.
Es wird wieder Nächte geben, in denen man die Sterne sieht und Wodka trinkt. In denen man die Zeit vergisst und vielleicht auch sich selbst. In der das Herz schreit. Und tanzt. Schlägt. Und klopft.
Vielleicht wird es kein Wodka sein und vielleicht auch kein alter Schuppen mehr, aber was macht das schon. Der Rest wird bleiben. Man kann nicht anders.