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Simone Mylonas: Ganz sachlich bis ans Ende aller Tage 

Seltsam, diese Stille. Nicht nur um mich herum, auch in mir. Aber auch irgendwie wohltuend. Wie ein Ganzkörperverband. Nein, eigentlich eher wie ein Ganz-Seelen-Verband. Es tut fast gar nicht mehr weh. Nur noch ein ganz leichtes Ziehen in der Herzgegend. Genauso fühlte es sich an, als ich mir letztens den Handrücken an diesem vorspringenden Nagel aufgerissen habe. Erst war da dieser gemeine brennende Schmerz, der mir die Tränen in die Augen trieb, dann setzte irgendwann dieses pulsierende Klopfen ein. Und schließlich, als sich eine Kruste gebildet hatte und sich die Wunde langsam schloss, war da nur noch dieses gelegentliche Ziehen. Und am Ende gar nichts mehr.
  Heißt das, mein Herz beginnt zu heilen? Hätte nicht gedacht, dass das so schnell geht. Aber ich hätte ja früher auch nie geglaubt, dass ein Herz überhaupt brechen kann. Abgegriffene Worthülsen für sentimentale Beziehungsklammeraffen. Der Mensch an sich ist eben nicht monogam. Männer schon gar nicht. Und sie liebten sich und lebten glücklich bis ans Ende aller Tage. Lächerlich. Wenn es vorbei war, war es eben vorbei. Unter erwachsenen Leuten musste es doch möglich sein, sachlich zu bleiben, einen sauberen Schnitt zu machen und dann irgendwann neu anzufangen. Geschrei, hysterisches Heulen, lautstarke Vorwürfe und zerbrochenes Geschirr – all das hatte doch eher was von Kirchenkreislaienspielgruppe. Aufgesetzte Dramatik ungelenk zur Schau gestellt. Um eines Effekts willen, der nicht erzielt wird. Das gewünschte Ergebnis wird kaum je erreicht, und was ist am Ende der Lohn? Mitleidsvoller Beifall oder peinliches Schweigen. Wie unwürdig.
  Auf einen bühnenreifen Abschluss haben wir dann ja auch verzichtet. Nach sieben Jahren verbinden einen viel tiefere Gefühle als künstlich erzeugte, theatralische Leidenschaft. Tränen gab es schon, aber keine Ausbrüche wie aus einem zerfledderten Dreigroschenroman.
  Ganz sachlich hat er mir erklärt, dass er in einer tiefen Krise stecke. Dass er absolut hilflos sei und einfach nicht wisse, wie es weitergehen solle. Ob wir nicht Freunde bleiben könnten, weil ich ihm nach wie vor sehr wichtig sei und es kaum jemanden gebe, dem er so vertraut wie mir. Und dass da noch Gefühle seien. Er brauche einfach ein bisschen Zeit, hatte er gesagt. Abgeklärt, unumstößlich. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Und war in eine eigene Wohnung gezogen.
  Mein Herz war dann auch nicht gebrochen. Nein. Eigentlich war es eher so was wie explodiert. Zerschellt. In unzählige winzige Fitzelchen pulverisiert. Trauerkonfetti. Beziehungen sind schon aus evolutionstechnischen Gründen nicht für die Ewigkeit gedacht. Im Grunde sind wir doch alle Einzelkämpfer. Auf wen kannst du dich im Zweifelsfall am ehesten verlassen? Nur auf dich selbst. Eben. Was gab es da noch zu sagen? Aber nach sieben gemeinsamen und - bis auf die üblichen Meinungsverschiedenheiten dann und wann - vor allem glücklichen Jahren keimt unmerklich irgendwo ganz tief drinnen fast verschüchtert die Hoffnung auf, es könnte doch bis ans Ende aller Tage halten. Bei nüchterner Betrachtung natürlich ein absolut irrwitziger Gedanke.
  Umso stärker war dann auch der Schmerz. Glühend heiß und aus heiterem Himmel. Einer, der wie ein schwerer Felsbrocken auf Brust und Schultern liegt, dich nicht mehr aufrecht gehen lässt und deinen Atem in ein asthmatisches Keuchen verwandelt. Einer, der dich nicht mehr leben, sondern nur noch funktionieren lässt. Aber jetzt – nur noch ein bisschen wund, nur noch dieses leichte Ziehen. Heilschmerz.
  Angenehm, diese Stille. Ein schützender Kokon. Gut, dass ich die Lampen ausgeschaltet habe. Die Dunkelheit ist eine warme Decke. Was einem alles auffällt, wenn man mal eine Weile nur so da sitzt und gar nichts tut. Reglos. Plötzlich sind die Sinne geschärft. Wie bei einem Jäger, der mit seinen Augen das Unterholz nach Beute absucht, beobachtend, horchend, witternd. Mit angehaltenem Atem. Mein Herz klopft piano-piano. In der Küche brummt leise der Kühlschrank. Der Wind hat nachgelassen und flüstert nur noch ganz sacht. Der Sturm ist vorbei, das Gewitter ist weitergezogen. Pechschwarz ist es hinter den von Regentropfen übersäten Fensterscheiben. Tränenblind. Auch der Himmel hat genug geweint.
  Das hier war schon immer mein Lieblingsplatz. Seit er mir den weißen Korbsessel vom Trödelmarkt mitgebracht und vor dem Fenster platziert hat, durch das man auf die grünen Hügel des nahen Stadtwaldes blickt. Mit ein bisschen Phantasie kann man sich leicht vorstellen, dass man ganz allein auf der Welt ist. Rapunzel, die hoch oben in ihrem Turm auf den Prinzen wartet. Ihren Befreier, der sie mit sich in ein neues Leben nimmt und sie liebt bis ans Ende aller Tage. Das Märchen mochte ich als Kind schon immer am liebsten. Absolut kitschig, aber trotzdem schön. Vor allem weil mich mein Prinz schon gefunden hatte. Dein ganz persönliches Zimmer mit Aussicht, hatte er gescherzt. Am Ende bekomme ich Dich gar nicht mehr aus dem Schlafzimmer heraus, hatte er gesagt. Obwohl – das soll mir nur recht sein.
  Wie lange ist das schon her. Hätte nie gedacht, dass ich in meinem Alter mal sagen würde: Damals war alles besser. Du bist glücklich und denkst, das ganze Leben ist einer dieser sonnigen Frühlingstage, an denen sich die Vögel die Seele aus dem Leib zwitschern, alles um dich herum blendend bunt strahlt und eine leichte Brise weht, die ein Brausepulverprickeln in deiner Magengrube verursacht.  Eine Mischung aus Sehnsucht und Alles-ist-möglich, ein Gefühl wie Sonntagmorgen. Du gewöhnst dich so sehr daran, dass du es für den Normalzustand hältst und einfach vergisst, dass es jemals anders sein könnte. Bis du eines Tages aufwachst und noch halb verschlafen erkennst, dass die Laken neben dir nicht zerwühlt sind.
  In der Ferne ist das einschläfernd gleichmäßige Rauschen der Schnellstraße zu hören. Unbeeindruckt, ungerührt. Endlosschleife. Immer weiter und weiter, als wäre nichts geschehen. Das Leben nimmt keine Rücksicht auf Einzelschicksale.
  Wie spät es wohl ist? Ich könnte einen Blick auf den Wecker am Nachttisch werfen. Sein mechanisches Ticken scheint das einzig Lebendige hier zu sein. Ich muss nur den Kopf drehen. Ich könnte auch aufstehen, das Fenster öffnen und mich dem Leben in die Arme werfen. Was sind schon vier Stockwerke. Aber beides kostet mich zuviel Kraft. Im Moment könnte ich nicht einmal den kleinen Finger heben, wenn mein Leben davon abhinge. Vielleicht später.
  Die Wolkendecke reißt endlich auf. Der Mond spielt Salome und lüftet einen seiner Schleier.
  Aber was ist denn das? Ein Fleck? Das darf nicht wahr sein! Auf der neuen weißen Bluse! Das musste ja passieren! So ein Glück habe immer nur ich. Ganz exklusiv. In dem fahlen Licht sieht er fast schwarz aus. Fabelhaft. Dabei habe ich mich so in Acht genommen, schließlich hatte ich sie extra für heute Abend gekauft. Reine Seide. Um besonders schön zu sein. Für ihn.
  In der Luft hängt noch eine Spur seines Aftershaves. Da seien noch Gefühle, hatte er gesagt.  Sein Lieblingsessen habe ich ihm gekocht. Eine Aussprache beim Essen. Sachlich, vernünftig. Man kann doch über alles reden. Wir sind schließlich erwachsen. Merkwürdig. Wir haben nie viel miteinander gesprochen. Sicher, es gab einiges, das jeder deshalb mit sich selbst ausgemacht hat. Aber meistens haben wir uns ohne ein Wort verstanden. Seelenverwandt. Und uns verbindet soviel. All die schönen Zeiten, die wir hatten.
  Dabei wollte ich mich damals erst gar nicht auf ihn einlassen. Ich hatte gerade eine unglückliche Liebe hinter mir. Verliebt, verlobt - betrogen und sitzen gelassen. Mitten in dem Frühling, in dem wir in den viel zitierten Hafen der Ehe einlaufen wollten. Vielleicht hätte ich gleich auf meinen Vater hören sollen. Im Mai halten nur die Esel Hochzeit, pflegte er immer zu sagen. Stattdessen landete ich auf dem Trockendock. Ausgemustert. Wegen einer Meisterin der chinesischen Liebesschaukel mit zwei Körbchengrößen mehr. Ich brauchte nicht noch eine Runde Gefühlskarussell. Nicht so kurz nach der Dauerfahrt in der Geisterbahn.
  Aber dann war er plötzlich da gewesen. So rücksichtsvoll, so liebevoll, so geduldig. Und auch Franziska hatte mir zugeraten. Gleich nachdem sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte. Wenn Du ihn nicht nimmst, schnappe ich ihn mir, hatte sie gescherzt. Du darfst Dir diesen Traummann nicht durch die Lappen gehen lassen. Und natürlich hatte ich auf meine beste Freundin gehört. Sie hatte ja auch Recht gehabt. Der Beginn der glücklichsten Zeit meines Lebens. Und ich hatte sie gehütet wie die Flamme einer Kerze, die man mit den Händen vor einem Luftzug abschirmt. Soviel Zuwendung, soviel Zärtlichkeit, soviel Spaß. Das Gefühl, sich absolut auf den anderen verlassen zu können. Blindes Vertrauen. Selbst beim Essen derselbe Geschmack.
  Kann ich noch etwas Brot haben? Ich möchte die Soße auftunken, hatte er gesagt. Von dieser herrlichen Soße etwas übrig zu lassen, wäre eine Sünde. Wie auf Wolken schwebend, hatte ich mich lächelnd erhoben, um noch etwas von dem Baguette aufzuschneiden, das ich eigens bei unserem Lieblingsbäcker besorgt hatte. Es sollte ein perfekter Abend sein. Es ist so schön bei Dir. Da werden die alten Erinnerungen wach, hatte er gesagt. Es tut so gut zu wissen, dass wir trotz allem so freundschaftlich miteinander umgehen können.
  Nach all diesen Tagen und Wochen aufreibenden Wartens auf ein Zeichen, das nicht kommt. Jedes Läuten des Telefons, jedes Klingeln an der Haustür und wider alle Vernunft immer wieder die verzweifelte Hoffnung, er könnte es sein. Die vielen demütigenden Versuche, ihn zu erreichen. Mit dem Freizeichen auf Du und Du. Alles vergebliche Liebesmüh. Er brauchte noch etwas Zeit. Durchweinte Nächte. Schmerzhaft sehnsüchtiges Warten. Erneute Versuche. Und dann schließlich die Zusage. Freudig, irgendwie erleichtert. Erlösend. Rapunzels Prinz würde zurückkehren. Mit einem Mal war es da wieder gewesen, das Prickeln in der Magengrube, das Gefühl wie Sonntagmorgen. Alles ist möglich. Nach so langer Zeit. Vielleicht der Beginn eines neuen Anfangs. Vielleicht doch bis ans Ende aller Tage...
  Diese Fettucine schmecken einfach göttlich, hatte er gesagt, während ich drei Scheiben Brot abschnitt. Mit dem teuren Keramikmesser vom Spezialversand, das er mir mal zum Geburtstag geschenkt hatte.   Du kochst doch so gern, da brauchst Du auch das richtige Handwerkszeug. Es glitt mit einem krossen Knistern durch die knusprige Kruste. Fast so leicht wie durch Butter.
  So gut bekommt sie Franziska nie hin, Du musst ihr mal Dein Spezialrezept verraten, hatte er gesagt. Du bist schließlich unsere Freundin, hatte er gesagt.
  Unsere Freundin... Franziska...
  Er braucht ein bisschen Zeit? Höchstens, um Dich abzuschütteln! Und es ist ja wohl eindeutig eine Trennung, sonst wäre er doch nicht ausgezogen. Am besten, Du vergisst ihn gleich! Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich Dir damals noch zugeraten habe!
  Er hatte ehrlich verdutzt geschaut. Seine Gabel landete mit einem leisen Klirren im Soßenrest.  Ja, weißt Du es denn noch nicht? Wir haben uns lange dagegen gewehrt, aber dann konnten wir nicht mehr gegen unsere Gefühle an. Deswegen war ich doch in dieser tiefen Krise. Und deshalb brauchte ich doch ein bisschen Zeit. Um mir über alles klar zu werden, eine Entscheidung zu treffen. Ich wollte es Dir schon lange sagen, aber sie meinte, das sei ihre Aufgabe. Als Deine beste Freundin. Und ich dachte, sie hätte längst mit Dir gesprochen. Er hatte sich den Mund mit der Serviette abgewischt und den Kopf geschüttelt.
  Das tut mir jetzt leid. Wir sind doch Freunde und da sollte man keine Geheimnisse haben. Weißt Du was? Ich spreche nachher mit Franziska, hatte er mitfühlend gesagt - und noch verdutzter als zuvor geschaut. Auf sein Geschenk. Das Keramikmesser. Es steckte ihm bis zum Ebenholzgriff in der Brust. Fast so leicht wie durch Butter.
  Bis ans Ende aller Tage.
  Wenn sie nicht gestorben sind.
  Wirklich seltsam. Alles, was geblieben ist, ist das gelegentliche Ziehen in der Herzgegend. Nichts weiter. Bald wird die Vernarbung abgeschlossen sein, auch wenn mich in stillen Stunden ein paar Tränen übermannen. Aber die sieht man im Dunkeln ja nicht. Ich spüre es. Nicht mehr lange, und es wird vorbei sein. Ganz sachlich betrachtet, ist der Mensch an sich im Grunde seines Herzens eben doch ein Einzelkämpfer.
  Der Wind frischt wieder etwas auf. Der Mond lüftet noch ein paar Schleier. Salomes Totentanz ist fast vollbracht. Jetzt ist es beinahe taghell hier drin.
  Ich sollte wirklich aufstehen.  Mein Lieblingsplatz läuft mir ja nicht weg. Erst wenn alles erledigt ist, kann ich die Aussicht wieder richtig genießen. Ich muss aufräumen, es ist immerhin alles einfach so liegen geblieben, und ich mag keine Unordnung. Und dann muss ich auch noch unbedingt meine Bluse auswaschen und aufbügeln. Ein wirklich hässlicher Fleck. Blut geht so schlecht raus. Und ich will doch gut aussehen, schließlich gehe ich nachher zum Brunch.
  Franziska hat mich eingeladen. Gestern war das ja erst... Damit ich nach der Trennung endlich einmal wieder raus und auf andere Gedanken komme. Männer! Wer braucht die schon? Wozu hat man schließlich eine beste Freundin? Durch dick und dünn bis ans Ende aller Tage, nicht wahr?
  Ich denke, es ist am besten, wenn wir das alles wie erwachsene Menschen regeln. Ruhig und vernünftig. Eine Aussprache beim Essen. Ganz sachlich.
  Es ist Zeit, einen sauberen Schnitt zu machen.