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Simone Schmon: Beyazit

Die Sehnsucht nach dieser Stadt verfolgt dich ein Leben lang, du wirst sie nicht mehr los. Bis du nachgibst, dann kommst du zurück. Dann bist du ein Alemancý. Alemancýlar nennt man die Leute, die zurückkehren aus Deutschland. Sie haben keine Heimat. Nicht hier und nicht in Deutschland. Ich bin ein Alemancý, denn ich bin zurückgekehrt.
Ich stehe am Fenster des Hotels, der Bosporus liegt unter mir. Er leuchtet so hell, sein Blau ist so intensiv, dass ich für einen Moment die Augen schließen muss. Dort wo ich war ist alles grau, die Farben sind gedämpft. Ich habe das Gefühl, aus einer langen Dunkelheit zu kommen. Es ist das Licht, das alles verändert, das diese Stadt für mich so einzigartig macht. Das Licht und das Meer. Istanbul. Asien und Europa, dazwischen das sich ständig verändernde Blau. Die Schiffe sind weiße Punkte in diesem Blau, ihre Bewegungen verlöschen darin und ziehen ein unsichtbares Netz über die Stadt.
Ich habe keine Heimat. Hatte keine Heimat, werde keine haben. Und weil das so ist, zerstöre ich die Heimat der anderen. Ich kaufe Häuser, saniere sie, verkaufe sie wieder. Das nennt man Gentrifizierung. Ich gentrifiziere Galata. Galata soll wieder glänzen. Das ist mein Ziel. Ich mache dieses Viertel wieder zu dem, das es war, früher, als es noch nicht bewohnt war von Bauern, die aus dem Inland kommen auf der Suche nach einem besseren Leben. Früher, als hier die griechischen Händler wohnten, als die Häuser noch glänzten und noch keine Bäume in den Ritzen ihrer Mauern wuchsen. Ich lehne mich mit dem ganzen Körper gegen die Glasscheibe, die bis zum Boden reicht. Die Berührung ist klar und hart. Ich fühle, wie die Kälte des Glases in mich eindringt und in kurzer Zeit ist mein Körper so kalt und hart wie das Glas. Mein nackter Körper mit den Zeichen des Alters. Mein Körper, der schon lange nicht mehr liebt. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, das Glas würde brechen, würde zersplittern unter dem Gewicht meines Körpers. Ich stelle mir vor, ich würde fallen und eintauchen in das Blau. Es gäbe keinen Schmerz mehr und keine Zeit.
Ich könnte mir eine Frau kaufen, wenn ich wollte. Eine Frau, die teuer ist, die schlank ist, groß. Eine junge Frau. Für ein paar Stunden würde sie meinen alternden Körper ertragen müssen und sich dabei nichts anmerken lassen. Ich öffne die Augen und trete von der Scheibe zurück. Aus meinem noch unausgepackten Koffer nehme ich ein frisches Hemd heraus und ziehe es an. Dann verlasse ich mein Zimmer im Marmara-Hotel und überquere den Taksim-Platz.
Auf der Istiklal Caddesi kommt mir die Straßenbahn entgegen. Es ist immer noch dieselbe wie damals. Sie besteht nur aus einem einzigen Wagen, der aus dunklem Holz ist und beim Fahren knarzt. Die Fenster sind im unteren Drittel aus blauem Glas, so dass man die Gesichter der Mitfahrenden von Außen nicht sehen kann. Wie gerne wäre ich nur einmal, ein einziges Mal mit der Straßenbahn die Istiklal entlanggefahren, bis nach Tünel, damals als Junge. Ich hätte mir vom uniformierten Schaffner die Fahrkarte geben lassen, er hätte mir das genau abgezählte Geld aus der Hand genommen, und schließlich hätte ich mich auf eine der Holzbänke gesetzt, und wenn neben mir ein Mädchen gesessen hätte, hätte ich nicht gewagt ihr zuzulächeln. Die Straßenbahn hält, ich überlege einen Augenblick lang, ob ich einsteigen soll. Dann schließt der Schaffner die Tür, der Moment ist vorüber. Die Straßenbahn fährt an mir vorbei.

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Ich gehe ziellos durch Beyoðlu. Vieles hat sich verändert. Ich erkenne vieles nicht wieder. In meinem Kopf ist ein völlig anderes Viertel. Das Viertel meiner Kindheit. Ich erreiche Tünel und gehe mehrere Rampen nach unten, bis ich an der Galata-Brücke bin. Auch sie ist in meiner Erinnerung anders verzeichnet. Männer stehen mit ihrem Angelgerät an den Geländern, warten, rauchen. Ich nehme den Fußgängerweg, der unterhalb der Fahrbahn der Brücke verläuft. Von dort sieht man nur einen Ausschnitt vom Blau und die scheinbar aus dem Nichts kommenden Angelschnüre. Ich habe das Gefühl in einem Netz zu sein. Ich gehe ein Stück die Brücke entlang, dann kehre ich um. Ich muss an Inge denken. An das Ende unserer Beziehung. Ich habe damals nichts bemerkt. Bis zum Schluss nicht. Irgendwann war sie einfach weg. Nicht einmal ihre CDs hat sie mitgenommen. Zwei Tage später eine SMS, dass sie jetzt bei Richard wohnt. Bis dahin hatte ich gedacht, Richard wäre mein Freund. In dieser Nacht habe ich dreimal hintereinander den Bajazet gehört. Dann bin ich wieder in die Kanzlei gegangen und dann 48 Stunden nicht mehr nach Hause. Ich gehe zurück, Richtung Galata, und stoße auf die Müzik-Caddesi, die Straße der Musikaliengeschäfte. Läden voller Instrumente, Platten, Partituren, einer neben dem anderen. Wie oft war ich dort mit Herrn Vassilis. Ich betrete einen der Läden und krame in den Plattenkisten, die es dort gibt. Wie lange habe ich das nicht mehr getan? Die Platten einer Plattenkiste durchgesehen? Ich nehme eine Box mit einer alten Aufnahme von Parisottis Arie Antiche aus der Kiste. Eine Einspielung sämtlicher Arien der ursprünglichen Sammlung, nicht nur der 24 heute üblichen. Eine Seltenheit. Den Namen der Sängerin habe ich noch nie gehört. Ich bin aufgeregt. Ich vergesse die Box zu öffnen, gehe gleich zur Kasse. Der Verkäufer ist ein junger Mann. Ich bin mir sicher, dass er Musiker ist. Ich lege die Box auf den Tresen und zwanzig 100-TL-Scheine daneben. Ich sage, "wäre es möglich..." Ich unterbreche mich, räuspere mich, meine Stimme scheint mir brüchig. Ich fühle mich nicht sicher, meiner Muttersprache kaum mächtig, er wird merken, dass ich Alemancý bin. Ich schließe kurz die Augen, öffne sie wieder, fahre mit der Hand über die Lider, sage, "wäre es möglich, mir einen Verstärker, Boxen und einen Plattenspieler zu besorgen? Ginge das? Möglichst Marantz oder Dual. Bis heute Abend. Können Sie mir das besorgen?" Er sieht mich an, dann das Geld auf dem Tresen. Dann wieder mich. Ich fühle, wie mir das Blut in den Kopf steigt. Ich sage, dass ich die Anlage abholen lassen würde. Frage noch einmal, ob es möglich sei. Er überlegt. Schaut auf das Geld. Dann wieder auf mich. Nickt. Nickt noch einmal und steckt das Geld in die Hosentasche. Ich grüße, verlasse den Laden und nehme ein Taxi zurück zum Hotel.

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Gegen Abend nehme ich ein Taxi zum Objekt und beginne einen Rundgang. Es ist, als wäre dort die Zeit stehengeblieben. Die Treppe zur höher gelegenen Straße ist noch immer voller Ölflecken und im Torbogen, der eher ein Gang ist, gibt es noch immer kein Licht. Es stinkt nach Schimmel, Motoröl und Pisse wie damals. Der blätternde Putz, die Risse in den Mauern, alles ist wie früher, als ich hier Kind war. Der Hof ist immer noch ungeteert, nur der Ahorn, der in der Mitte steht, ist groß geworden. Er gibt jetzt Schatten. Das Haus erscheint mir noch ein wenig schäbiger als damals, dafür weniger groß und nicht mehr bedrohlich. Es gehört jetzt mir. Die Nachbarhäuser ebenfalls. Auf dem Hof, der früher so unerträglich laut war, in dem sich die Stimmen verfingen, herrscht eine nahezu vollkommene Stille. Die Häuser sind geräumt. Kein Hundegebell mehr, keine Hähne, die auf den Dächern krähen, kein Kindergeschrei und kein Hall mehr von aufprallenden Bällen. Auch keine Alten mehr, die im Hof sitzen, auf Bänken und Plastikstühlen, um den Ahorn herum, die rauchen, husten und Backgammon spielen. Keine Frauen mit nach hinten gebundenem Kopftuch, die Körbe an Schnüren nach unten lassen, so ihren Einkauf machen, das Geld schon abgezählt im Korb für den Händler. Ich gehe in den sechsten Stock und schließe eine der Wohnungen auf. Unsere alte Wohnung. Die Wohnung unter dem Dach, die die Mutter und ich mit der Familie der Tante teilten. Es wird wieder meine Wohnung sein. Maisonette, mit Dachterrasse, zwei Bädern. Ich öffne die Fenster. Warme Luft kommt herein, man hört die Sirenen der Tanker. Ich mache Licht, obwohl es noch nicht dunkel ist. Verstärker, Plattenspieler und Boxen stehen im größten Zimmer auf dem Boden. Der Plattenspieler ist von Dual und etwa 25, 30 Jahre alt. Die Plattenbox liegt auf dem Plattenspieler. Wieder bin ich aufgeregt.

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Ich nehme die Schallplattenbox in die Hand. Ich drehe sie hin-und her, zögere, dann klappe ich sie auf. Musik hören ... Analog. Mit dem Plattenspieler. Nach zwanzig Minuten aufstehen und die Platte wenden. Das Knistern, wenn der Tonabnehmer aufgesetzt wird, dann die Musik, die das Knistern nie ganz übertönen kann. Ich nehme die oberste der drei Platten heraus. Die Papierhülle ist nahezu unberührt, nur an der linken oberen Ecke hat sie einen kaum sichtbaren Riss. Ich muss an Herrn Vassilis denken. Mit den Schallplatten musst du vorsichtiger sein als mit den Mädchen, sagte er immer. Was wusste ich damals von Mädchen. Ich muss lächeln. Wie oft habe ich seine Platten aus den Hüllen genommen und sie auf den Plattenteller des Marantz gelegt, dann den Tonabnehmer aufgesetzt, ganz sanft, dann kam das Rauschen und dann die Musik. Ich stelle mir vor, es wäre eine seiner Platten, die ich jetzt mit den Fingerspitzen beider Hände halte und von oben auf den Plattenteller lege. Möglich wäre es doch. Irgendein Haushaltsauflöser wird die Sammlung verscherbelt haben. Im Auftrag der Erben. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir. Wie lange ist er wohl schon tot? Ich schließe die Augen.
Alles ist sofort wieder da. Seine Wohnung, in die ich mich rettete, wenn mir der Lärm im Hof unseres Hauses unerträglich wurde, wenn die Mutter und die Tante unerträglich wurden, das Geschrei der anderen Kinder. Wie anders seine Wohnung war, anders als alles, was ich kannte. Die Zimmer voller Bücher, Partituren, Gemälde. Das Dämmerlicht, das dort herrschte. Vorhänge, die bis zum Boden reichten. Der Salon mit dem Flügel. Wenn Herr Vassilis Bachs Englische Suiten spielte, die Partiten, die Klaviersonaten von Beethoven und Mozart, legte ich mich neben dem Flügel auf den Boden und schloss die Augen. Er wurde ein junger Mann wenn er spielte. Herr Vassilis mit seinen von Altersflecken übersähten Händen, mit dem schmalen Gesicht, den lockigen Haaren. Ohne ihn wäre ich ein anderer Mensch. Ohne ihn wäre ich nie Beyazýt geworden. Ich wäre Beyaz geblieben. Ich nehme die Box noch einmal in die Hand und sehe sie durch, nehme auch die anderen Platten heraus. Was suche ich? Hoffe ich eine Spur zu finden, ein Foto vielleicht? Würde ich ihn auf einem Foto denn überhaupt erkennen? Es ist alles so lange her. Ich lege die Box neben den Plattenspieler auf den Boden und setze von Hand den Tonabnehmer auf. Während die Musik beginnt, gehe ich ans offene Fenster und zünde eine Zigarette an. Das Rauschen der Nadel wird von den Akkorden des Klaviers fast übertönt, jedoch nicht ganz. Dann setzt die Stimme ein, eine Sopranstimme, die nur wenig Vibrato hat. Unter mir liegt das Goldene Horn im Abendlicht. Die Stadt an den Ufern ist zum Meer geworden. Sie leuchtet weiß um diese Zeit, und wird in der Dämmerung immer weißer, wie das Weiß auf den Kämmen der Wellen. Beyaz heißt Weiß, Blanco, Blanc. Die Stimme singt "sposa son disprezzata". Irenes Arie aus dem Bajazet, Vivaldis verschollener, schließlich wiederentdeckter Oper. In meinem Fall müsste es heißen: sposo son disprezzato. Ich schließe die Augen und wieder kommt die Erinnerung. Herr Vassilis sagt: Beyaz, kennst du die Geschichte vom Sultan Beyazýt? Ich schüttle den Kopf, sehe ihn an. Der Sultan Beyazýt war ein mächtiger Mann, sagt Herr Vassilis und lächelt. Du bist nach ihm benannt, Beyaz. Beyaz ist die Kurzform von Beyazýt. Eigentlich heißt du Beyazýt, auch wenn deine Mutter dich nicht so nennt. Beyazýt war Herrscher über das Osmanische Reich. Aber er verlor gegen Tamerlan den Krieg. Tamerlan nahm ihn gefangen und ließ ihn nie wieder frei. Beyazýt musste in Gefangenschaft sterben. Ist das nicht traurig? Ich bin nicht gefangen, sage ich. Ich bin kein Sultan. Wir sind in der Türkei, nicht im Osmanischen Reich. Mein Vater ist in Deutschland. Er wird uns bald holen. Ja, sagt Herr Vassilis und lächelt. Die Wiederentdeckung des Bajazet hätte ihn gefreut. Ich bin mir sicher, es ist seine Platte, die ich höre.
Draußen ist es dunkel geworden. Das Meer glänzt im Widerschein der Lichter und des Mondes. Um den von Gaslaternen angestrahlten Galata-Turm kreisen Möwen. Sie leuchten weiß im orangefarbenen Licht und wirbeln um den Turm wie verglimmende Glut, die von der Hitze des Feuers nach oben getrieben wird. Sie kreisen und kreisen. Es werden immer mehr. Ich sehe ihnen zu und merke nicht, wie der Gesang verebbt. Die Platte dreht sich weiter, es bleibt das Knistern. Warum habe ich damals nichts bemerkt? Warum habe ich nicht wahrhaben wollen, dass sie mich nicht mehr liebt? Dass sie mich vielleicht nie geliebt hat? Ich hätte Richard verprügeln sollen, ihm ins Gesicht spucken. Oder ihr. Nicht einmal Kinder wollte sie von mir. Ich stehe auf und schließe die Fenster, lösche das Licht. Im Dunkeln stehe ich noch eine Weile neben dem Plattenspieler und höre das Rauschen der Nadel. Ich bilde mir ein, es noch zu hören, als ich schon im Treppenhaus bin. Ich überquere den Hof mit dem Ahorn und den leeren Bänken und verlasse das Objekt durch den unbeleuchteten Torbogen. Da ich nicht sofort ein Taxi finde, gehe ich zu Fuß zurück zum Hotel. Auf der Istiklal-Caddesi fährt ein weiteres Mal die Straßenbahn an mir vorbei.

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An der Bar im Hotel trinke ich zwei Whiskey Soda. Es sind kaum Gäste da, keine Frauen, ich gehe bald. Im Zimmer mache ich kein Licht. Ich lehne mich wieder gegen das Fenster, schaue auf das Meer. Morgen werden sie mit den Arbeiten beginnen. Das Viertel, mein Haus, meine Häuser, alles wird wieder glänzen, wie damals, als hier noch die griechischen Händler wohnten. Von meiner Dachterrasse aus werde ich jeden Tag den Bosporus sehen können, Asien und das Goldene Horn.
Dennoch bin ich nicht Tamerlan. Ich bin Beyazýt, der Alemancý und werde es immer bleiben.