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 Christina Leicht: Living Landscape (Publikumspreis und carpe-diem-Preis)

Als ich hereinkomme, sitzt Mona auf dem Sofa. Das ist nichts Besonderes, sie sitzt meist auf dem Sofa, das genaugenommen eine Wohnlandschaft ist, eine Wohnlandschaft von Minotti, und sie trägt den Namen Living Landscape. In der ersten Zeit hat Mona immer nur auf der äußersten Kante von Living Landscape gesessen, so als wage sie es nicht, den dargebotenen Platz einzunehmen. Dabei ist Platz reichlich vorhanden, in geschmackvollem Grau-Beige verteilt er sich über mehrere Quadratmeter, während er durch einzeln verschiebbare Sofamodule den Raum optisch immer wieder neu öffnet. Mona hat sich aber überhaupt nicht für Sitz- und Blickachsen interessiert, auch nicht für Module in Grau-Beige, ein Farbton, den Kenner als Greige bezeichnen. Mona hat ausgesehen, als ginge sie das alles nichts an, irgendwie teilnahmslos hing sie über der Sofakante, wie eine, die dankbar ist, überhaupt sitzen zu können. Falls sich der Grad ihrer Dankbarkeit im Sitzverhalten widerspiegelt, muss ich allerdings sagen, dass diese mit der Zeit abgenommen hat. Inzwischen dreht sie sich an langen Nachmittagen die Liege immer öfter in Richtung Fernseher. Krümelige Zwischenmahlzeiten nimmt sie im Ecksegment lümmelnd ein, während sie in einem der Lifestylemagazine blättert, mit denen ich den Wohnbereich unseres Hauses dekoriere. Neuerdings überrasche ich sie beim Heimkommen sogar manchmal dabei, wie sie in der Wohnlandschaft liegt und eingeschlafen ist. Dann sieht man nur einen Wust dunkel zerzauster Haare aus meiner schönen Marimekkodecke hervorlugen, die sie sich über ihre schmalen Schultern gezogen hat. Mona kommt mir dann sehr zerbrechlich vor und jung, wie einer dieser Singvögel, die immer gegen unsere zu den Rheinauen weisende Glasfront schmettern, nichts was übrig bleibt von ihnen als Federn und Knöchelchen. Dass sie meine Marimekkodecke nimmt, ist mir trotzdem nicht recht. Im Grunde ist es mir auch nicht recht, dass sie in meiner Living Landscape sitzt. Am liebsten wäre mir, sie wäre gar nicht da, aber so einfach geht das nicht. Sagt auch Theo. Liebling, sagt er. Er sagt immer Liebling, das ist so eine Angewohnheit von ihm. Manche kauen Fingernägel, andere bohren in der Nase. Theo sagt Liebling. Das steht dir nicht, Liebling, sagt er, dass du so kleinlich bist. Sofort bin ich still, wer will schon kleinlich sein, ich jedenfalls nicht. Wäre ich nämlich kleinlich, wäre ich kein Deut besser als meine Nachbarinnen, als Julia und Heike, die beiden Spielverderberinnen, die die Hand über das Glas ihres Mannes legen, wenn er betrunken wird und anzüglich, die sehr genau darauf achten, wann bei wem die Lichter ausgehen und die immer alle Fenster schließen, bevor sie ihren Lieben den Kopf waschen, mit Heulen und Zähneknirschen und sehr viel Gekreisch, das selbst durch die gut isolierten Außenmauern unserer im Bauhausstil errichteten Villen noch zu hören ist. Julia und Heike sind Spaßbremsen, sagt Theo, denen kann man noch so viele Minis vor die Tür stellen und noch so viele Wellnesswochenenden spendieren, ihre Mundwinkel hängen und ihre Bäuche bald auch und dass man sich mit ihnen überhaupt noch sehen lassen kann, verdanken sie nur der regen Lektüre von Modezeitschriften und der dazu passenden Shoppingapp auf ihrem iPhone. Sagen Ole und Heiner, sagt Theo. Woran man also sieht, was passiert, wenn man sich die Kleinlichkeit nicht gleich beim ersten Anzeichen verbietet.
Ich sage also nichts, auch nicht dazu, dass Mona nun schon seit fünf Wochen auf meinem Sofa sitzt und frage nicht einmal, was werden soll, wenn die Kinder nächste Woche aus dem Feriencamp nach Hause kommen.
Ich störe doch nicht oder, sagt Mona manchmal mit diesem getretener-Hund-Blick, für den ich sie würgen könnte. Was ich natürlich nicht tue, ich halte die Luft an, damit ich nicht ihr Aldi-Deo riechen muss und schon würgt es mich selbst. Du musst es mir sagen, sagt sie und legt ihre magere Hand auf meinen Arm. Ich mag es nicht, wenn man mich am Arm packt, meine Arme sind weich und untrainiert, sie fühlen sich an wie Kuchenteig und sind es nicht gewohnt, dass man ihnen zu nahe kommt. Ich schüttele Monas Hand ab. Nur ein Wort, sagt sie, dann pack ich gleich meine Sachen und bin weg. Wenn du den Keller brauchst oder so.
Ich brauche den Keller nicht. Einen Keller habe ich noch nie gebraucht. In meinem stapelt sich ausrangiertes Spielzeug, Skisachen, Wein. Es leben Tausendfüßler darin und handtellergroße Spinnen. Und Mona. Du hättest ihr eines der Kinderzimmer anbieten sollen, sagt Theo. Dass Frauen so gemein sein können und das zu ihrer besten Freundin.
Sie ist nicht meine beste Freundin, nur meine älteste. Das ist doch dasselbe, sagt Theo und legt sein Bärchengesicht in bekümmerte Falten. Würde man ihn nicht kennen, könnte man meinen, so etwas wie ein mitfühlender Gedanke stoße von innen gegen seine enge Stirn. Ich aber kenne Theo. Außerdem stört es sie nicht, sage ich deshalb nur, was stimmt. Sie räumt sogar auf da unten und will, dass ich ihr Werk begutachte. Weil ich nicht in den Keller gehe, muss Theo es tun. Er tut es gern und ausgiebig. Derweil ich oben auf Living Landscape zur Ruhe komme, umhüllt von meiner Marimekkodecke.
Mona ist abgestürzt vor einiger Zeit. Job weg, Wohnung weg, Mann weg. Sie hat eine Weile im Auto gelebt, an einer Autobahntankstelle, bis man ihr auch das noch geklaut hat. Unterm Hintern weggeklaut, sagt sie. Und lässt den Kopf hängen, dass ihr die dunklen Strähnen über die Augen fallen. Mona und dunkle Strähnen. Für mich wird sie immer rothaarig bleiben. Ansonsten hat sie sich kaum verändert, ich habe sie gleich erkannt, als sie vor der Tür stand, mit schräg gelegtem Kopf, das hättest du nicht erwartet, was. Sie war dürr wie eh und je, außerdem durchnässt und hungrig. Das, was ich an Kohlenhydraten und gesättigten Fetten in einer Woche zu mir nehme, hat sie gegen die Küchentheke gelehnt in einer halben Stunde hinuntergeschlungen. Dazu Limo ohne Ende und danach ab in die Badewanne. Stundenlang lag sie im Kinderbad unterm Schaumberg und irgendwann konnte ich hören, wie sie leise anfing vor sich hinzusummen. Da war es aber schon zu spät. Ich hätte sie nicht hineinlassen müssen, aber ich bin nicht die, die anderen die Tür vor der Nase zuschlägt. All die Jahre haben wir uns nicht gesehen und Theo kannte sie gar nicht. Jetzt war es an ihm, begeistert zu sein. Von meinem großen Herz, sagte er. Und fasste mich an nachts, nach so langer Zeit. Ganz in der Nähe von meinem Herz.
Dass Mona abgestürzt ist, tut mir leid, aber nicht sehr. Julia würde sagen, sie hat es verdient. Andere in unserem Alter können sich ein solches Leben gar nicht leisten, würde sie sagen, reisen, rumflippen, abheben. Irgendwann muss man wissen, wo sein Platz ist, da sind wir uns einig. Farbe bekennen, darum geht es. Unsere Farben sind Greige und Nude, wir tragen weiße Blusen zu beigen Hosen und keine von uns käme auf die Idee, sich mit monarotem Lippenstift auf einem Fest einzuschleichen, für das wir zu alt sind. Wir hatten unsere Party, würde Heike sagen und wir würden unseren Aperol mit frischem Prosecco aufgießen und versuchen uns zu freuen, dass wir beides haben, früher Party, heute Luxus.
Wie die Dinge liegen, trinken wir zwar gerne und oft Prosecco miteinander, manchmal schon morgens, doch über Mona reden wir nicht. Natürlich kennen sie Mona, sie sehen sie, wie sie den Müll herausträgt und den Rasen mäht in einer sehr kurzen Jeans und in einem Top ohne BH, dafür haben Julia und Heike einen Blick und ich habe gesagt, sie ist unsere neue Hilfe aus Moldawien, ein Aupair, das wir testen, bis die Kinder zurück sind. Ein derart fideles Aupair käme ihr nicht unters Dach, hat Julia erklärt und Heike hat gleich verstanden, was sie meint. Sie wohnt im Keller, habe ich gesagt und überhaupt. Sie haben einander in die Augen gesehen und gelacht. Sie sind wirklich Spaßbremsen und ich habe überlegt, wie ich es anstelle, dass ich Mona einmal bei Ole oder Heiner vorbeischicke. Aber dann ist mir eingefallen, dass es sich ja in Wahrheit um kein Aupair, sondern um Mona handelt und ich habe mein Glas in einem Zug geleert und bin gegangen.
Dass ich dich habe, sagt Mona einmal, als Theo im Büro ist und der Mittagsprosecco mich in milchig-weiche Stimmung versetzt. Du lebst wie in einem Traum, sagt sie, alles ist da. Haus, Mann, Kinder. Ich nicke. Ich habe nicht einmal ein Kleid, wenn ich heute Abend weggehen will, sagt sie. Bitte, sage ich, bediene dich. Ich glaube zumindest, dass ich es sage, manchmal ist mir in den Mittagsstunden so wattig, dass ich selbst nicht weiß, ob ich träume. Mein Leben, ein Traum. Nichts, von dem, was um mich herum geschieht, ist wahr. Nichts außer Mona, die sich angewöhnt hat, stundenlang in meinem Schrank zu stöbern. Warum kaufst du dir nicht mal so ein Kleid, sagt Theo, nachdem sie abends in meinem engen roten Samtkleid davongestöckelt ist, die Szene aufmischen, wie sie Theo, der für sie angeblich so etwas ist wie der große Bruder, den sie nie hatte, zuraunt.
Mir wäre lieber, sie würde gehen. Wäre gar nicht erst gekommen. Aber dann denke ich an früher. Es ist mir, als gäbe es kein Früher mehr, wenn ich sie rausschmeiße und wer bitte bin ich dann noch. In mir ist so viel mehr gestern als heute und an morgen wage ich nicht zu denken.
Mona und mich gibt es seit jeher. Ab der zweiten Klasse haben wir am selben Pult gesessen, haben zusammen im Schulchor gesungen und alle für verrückt erklärt, deren Lieblingsfarbe nicht ebenfalls Türkis war. Später haben wir eine Wohnung geteilt, unser Geld und unsere Klamotten und einmal auch einen Mann. Das verbindet. Findet auch Theo. Mona kann bleiben, solange sie will, sagt er. Das ist mein Haus, sage ich. Und meins, sagt er. Und überhaupt: Freunde in der Not.
Eine Not, die man ihr nicht länger ansieht. Ich sage Julia und Marie nicht Monas wahres Alter, sie würden sich nicht einkriegen und am Ende mit ihr reden wollen, auf dass sie ihnen ihr Geheimnis verrät oder ähnlichen Quatsch, also lasse ich sie im Glauben, sie wäre achtundzwanzig und nicht etwa auch neununddreißig wie wir alle. Was soll ich auch sagen, was weiß denn ich, wie sie es anstellt, dass ihr die Jahre nichts antun. Ihre Haut ist zart, ihre Augen leuchten auch ohne Prosecco. Meine eingefallenen Wangen und ihr roter Mund singen schon lange nicht mehr im selben Chor. Auch deshalb versteht sie mich genau so wenig wie ich sie. Begreift nicht, warum ich nach dem Aufstehen durch die Auen jogge und nur Yogitee frühstücke. Kapiert nicht, dass ich meine Bulthaupküche mit dem Lappen streichele als sei sie die Haut eines Liebhabers. Hat keine Ahnung davon, dass man eines Tages nicht mehr wütend genug ist, einer anderen das rote Samtkleid von den Schultern zu fetzen. Mona und ich haben einmal geglaubt, wir hätten denselben Traum. Zumindest eine von uns hat ihn verraten. Ihr Traum ist an der Autobahn gescheitert, meiner im Bauhausstil. Übrig bleiben ihre Suche nach echtem Leben und meine weichen Konturen, die mehr und mehr verblassen.
Blass wie der Mann, der sich auf diese Konturen verlässt, Theo, der auf Gemütsmensch macht, ein Familienvater, der gerne daheim ist und täglich dicker wird von Barbecue und Cocktailtrinken und im Sesselhängen wie ein als schlechter Scherz getarntes Pupskissen. Theo, der leistet und sich alles leisten kann. Der Rückendeckung erwartet und eine freie Hand zugleich. Dem es bei der Vorstellung, Mona und ich könnten einmal einen Mann geteilt haben, immer ganz anders wird, wie er sagt. Ganz anders, wiederholt er und sieht mich aus aufgerissenen Augen an. Ich frage mich oft, was mich geritten hat, dass ich diesen Mann geheiratet habe. Obwohl ich es im Grunde weiß. Jede Living Landscape hat ihren Preis.
Gestern – es war Sonntag und ich kam vom Laufen in den Auen, bin ich an der Schlafzimmertür mit Mona zusammengestoßen. Sie war nackt, sozusagen. Den Strumpfhalter hat sie anbehalten. Das hat nichts zu bedeuten, hat sie gesagt und schützend einen Arm vor ihre kleinen Brüste gelegt, nichts, und dann noch: bitte. Und mich wieder so angesehen, als erwarte sie Schläge. Ich bin unter die Dusche gegangen. Theo hat getan als würde er schlafen.
Ich oder sie. Diese Frage stellt sich nur dem, der noch gewinnen kann. Ich, die ihr Ziel vor langem schon erreicht hat, kämpfe nicht mehr um einen Platz. Der Klassenerhalt muss genügen.
Jetzt also komme ich herein und sie sitzt auf dem Minotti-Sofa. Theo sitzt neben ihr. Sie bemerken mich nicht. Er hat seine Hand an einer Stelle in ihr versenkt, wo ich ihren Unterleib vermute. Sie hat die Augen geschlossen. Eine Weile stehe ich einfach da. Entschuldigung, sage ich dann und trete näher, meine Decke. Ich glaube, ihr sitzt auf meiner Decke. Dann kommt wieder dieses Würgen, das muss das Aldi-Deo sein, ich rase nach oben ins Bad und erst, als unten die Haustür ins Schloss fällt, bekomme ich wieder Luft. Im Runtergehen fällt mir ein, ich habe mich geirrt. Ich habe die Decke schon vorher weggenommen und auf den Sessel gelegt. Theo steht in der Küche vor dem Kochblock. Die Hände hat er nach Bärchenart vor dem Bauch gefaltet, er blickt an mir vorbei durch die Fensterfront. Sie ist fort, sagt er. Mehr nicht. Ich setze mich an den Tisch und klappe den Laptop auf. Das Sofa ist hin, sage ich. Theo schweigt einen Moment. Wie du meinst, Liebling, sagt er dann und stellt die Dunstabzugshaube an. Mit leisem Flüstern saugt sie all das, was sich in diesem Haus verbraucht hat, ein und pustet es nach draußen über die Rheinwiesen in den hellgrauen Himmel. Seufzend fahre ich den Computer hoch. Es wird Wochen dauern, bis Minotti liefert.