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Meta Cehak: Ménage à Trois 

Wenn man, wie ich, gezwungen ist, einen Großteil des Tages in aller Stille liegend zu verbringen, und nur mäßigen Kontakt zur Außenwelt hat, dann geschieht es häufig, dass sich die Sinne sehr stark verfeinern und die Wahrnehmung auch nur geringster Geräusche oder Gerüche höchst lebendig erscheinende Phantasiewelten entstehen lässt. Nicht selten entwickelt man auch Neurosen und zumeist ist das eine vom anderen kaum zu unterscheiden.
Bei mir war es der Geruchssinn, der sich über die Jahre in einem rekordverdächtigen Maße ausprägte und mein Innenleben anregte. Die Alltagsgeräusche aus unserer und den angrenzenden Wohnungen hingegen nahm ich kaum oder zumindest nur gelangweilt zur Kenntnis. Aber ich wusste, dass der ältere Herr in der letzten Wohnung auf unserem Gang zum Frühstück Schwarzbrot mit einer dicken Schicht Leberwurst und irgendetwas Saurem verzehrte. Ihm gegenüber wohnte eine junge Frau, die allmorgendlich ein Ei kochte, und aus der Wohnung daneben roch es häufig nach Brötchen, die frisch aus dem Backofen kamen. Daneben befand sich unsere Wohnung. Trotz all der wohligen, appetitanregenden Gerüche auf unserem Stockwerk, frühstückten Christiane und ich nicht. Bei uns prustete jeden Morgen die Kaffeemaschine und verbreitete diesen leicht ranzigen Kaffeegeruch, den sie so sehr liebte und der mir unmissverständlich signalisierte, dass es Zeit war, aufzustehen, sich zu strecken und in die Küche zu gehen. Denn Christiane wartete nicht gerne und wollte, nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatte, sofort hinaus, um unsere morgendliche Trainingsrunde zu beginnen. Früher haben wir morgens nur einen kleinen Spaziergang gemacht, zum Wachwerden gewissermaßen. Wir waren gemütlich zum Fluss hinunter geschlendert, ein Stück den Uferweg entlang spaziert und über eine schmale Seitenstraße wieder zurückgekehrt. Doch eines Tages hatte Christiane plötzlich gesagt, ich sei zu dick. Seither schwang sie sich jeden Morgen auf ihr Fahrrad und ich lief neben ihr her. Sie fuhr am Fluss entlang zügig bis zur nächsten Ortschaft, wo sie abstieg, um zu wenden und mir eine einzige, kurze und sehr notwendige Pause zu gönnen, bevor sie denselben, langweiligen Weg zurückfuhr. Auf dem Rückweg trabte ich nur noch hinter ihr her, ständig von ihr angefeuert, schneller zu laufen. Ich hatte kaum noch Gelegenheit, die morgenfrische Luft zu genießen und die weichen Düfte, die von Wasser und Gras aufstiegen, in mich aufzunehmen. Ich vermute, dass ich das dem Mann zu verdanken hatte, der abends zu uns kam, über Nacht blieb und morgens sehr früh, noch bevor wir aufstanden, wieder ging. Nur manchmal verbrachte er einen oder zwei ganze Tage mit uns. Christiane nannte ihn kurz und prägnant Wolf. Mich hingegen sprach sie meistens mit Kleiner an, manchmal sagte sie auch Schätzchen. Eigentlich aber heiße ich Donato, der Geschenkte. Christiane hat mir die besondere Bedeutung dieses Namens früher einmal ausführlich erklärt, als wir noch öfter gemeinsam auf der Couch lagen und miteinander kuschelten. Wolf aber brachte die Neuigkeiten mit nach Hause. Er war es auch, der eines Abends erzählte, wir würden demnächst neue Nachbarn bekommen.

Die Wohnung, die der unseren gegenüber lag, hatte lange Zeit leergestanden. Sie war beim Auszug der Vormieter gründlich renoviert worden. Noch Monate danach konnte man beim Vorübergehen auf dem Hausflur den Geruch der synthetischen Farbe wahrnehmen, der meine empfindliche Nase extrem reizte und mich zum Niesen zwang. Im Laufe der Zeit hatte sich daraus ein Ritual entwickelt: Jedes Mal, wenn wir auf dem Weg zum Aufzug an der leerstehenden Wohnung vorbeikamen, begann ich zu niesen. Ich hörte erst wieder auf, als wir, unten angekommen, ins Freie traten. Zu Anfang fand Christiane das lustig, sie griff mir ans Ohr, lachte und rief spielerisch „Hatschihatschihatschi!“ Doch nach einiger Zeit verlor sie offenbar den Spaß an der Sache. Sie meinte, der Geruch sei längst verflogen (was nicht stimmte!) und ich solle mich nicht so anstellen und endlich mit der Nieserei aufhören. Es war ihr peinlich, vor allem, wenn noch andere Menschen mit uns im Aufzug fuhren. Doch der Niesreiz unterliegt nun einmal nicht unserer Kontrolle, ich konnte nichts gegen ihn tun, auch wenn er meine Beziehung zu Christiane belastete.
Mit den Monaten vermischte sich der Farbgeruch mit jenem Geruch der Leere und Abgeschiedenheit, der allen unbewohnten Häusern und Wohnungen zu eigen ist. Obgleich der Hausmeister alle paar Tage kam, um die Fenster in der leerstehenden Wohnung für einige Minuten zu öffnen, breitete sich dieser Geruch über das gesamte Stockwerk aus und schien schließlich auch von seinen Bewohnern Besitz zu ergreifen. Die allgemeine Stimmung sank merklich, die Atmosphäre wurde bedrückend. Seltsamerweise begannen die Menschen leiser zu leben, als sie es zuvor getan hatten. Die früher häufig von einem Lachen und kleinen Anekdoten begleiteten Gespräche im Aufzug verebbten nun bereits nach einem kurzen Gruß. Die Rede von der Dankbarkeit über den Auszug der kinderreichen Familie, deren Nachwuchs unbändig und lebhaft durch Wohnung und Treppenhaus getobt war, hatte sich längst erschöpft, und auch mein Niesen, häufig das einzige Geräusch, das während der Aufzugfahrten zu hören war, bot bald keinen Gesprächsstoff mehr. Christiane zum Trotze hatte ich mein Niesritual beibehalten, und irgendwann gab sie es auf, mich deswegen zu maßregeln.
Als wir eines Tages von unserem allmorgendlichen Training zurückkehrten, hörten wir Stimmen und Klopfen aus der leerstehenden Wohnung. „Na, das sind wohl unsere neuen Nachbarn“, meinte Christiane leichthin, während sie unsere Wohnungstür aufschloss. Im selben Moment setzte ein ohrenbetäubendes Getöse ein, das die Wände des gesamten Hauses erschütterte. Wir zuckten erschrocken zusammen, ich erstarrte, der Boden vibrierte, das Getöse steigerte sich für eine Sekunde zu einem schrillem Pfeifen, bevor es abrupt abbrach. Ich entspannte mich erleichtert, doch das Getöse begann erneut und endete erst nach mehreren qualvollen Minuten mit eben diesem schrillen Pfeifton. „Stahlbeton“, meinte Christiane schulterzuckend. „Die haben keine Chance. Hoffentlich merken Sie’s bald.“ Doch es verging eine aufreibende Woche, bis der Kampf gegen den Stahlbeton aufgegeben wurde. Aus der gegenüberliegenden Wohnung strömten nun die Gerüche von Leim und neuen Möbeln, vermengt mit einem aufdringlich blumigen Geruch, der von den neuen Bewohnern auszugehen schien. Er drang durch ihre Tür hindurch fast bis in unsere Wohnung und bot eine neue Rechtfertigung für meine Niesanfälle auf dem Weg zur Haustüre. Und noch ein weiterer Geruch war dabei, ein Geruch, den ich nicht zuordnen konnte, der höchst beunruhigend und zugleich sehr reizvoll war. Er beschäftigte mich über Wochen. Ich hatte ihn bereits morgens beim Aufstehen in der Nase, er verlor sich nur wenig, wenn ich draußen unterwegs war und kehrte ich nach Hause zurück, erschien er mir umso stärker und eindringlicher. Dabei war ich mir sicher, dass meine Unruhe nicht durch den Geruch gedünsteten Fleisches ausgelöst wurde, der regelmäßig um die Mittagszeit zu uns herüberdrang. Obgleich auch dieser sehr anregend war. Reines Fleisch, offenbar ungewürzt – es musste einen sehr engagierten Koch dort drüben geben, zumal ich allein im Laufe einer einzigen Woche mindestens fünf verschiedene Fleischgerichte identifizieren konnte. Christiane schien es gar nicht aufzufallen, wie armselig sich dagegen unsere Speisenfolge ausnahm. Mal gab es Pfannkuchen (die ich fraglos sehr liebte), mal Nudeln (die Christiane plötzlich Pasta nannte), ab und an ein feines Flockenwurstgericht mit ein bisschen Gemüse darin und Salat (den mochte ich natürlich nicht so). Alles in allem schmackhaft, ausgewogen und durchaus sättigend, doch, seien Sie ehrlich, was ist das schon gegen ungewürztes, frisch gedünstetes Lamm? Nein, diese Kochgerüche konnte ich ganz nebenbei zuordnen, sie erfreuten meine Nase und machten mich allenfalls ein bisschen neidisch. Was mich jedoch irritierte, war dieser andere Geruch, dieser alles einnehmende Duft, mit dem ich nichts Rechtes anzufangen wusste. Er widersetzte sich meiner Analyse und hatte stattdessen meinen gesamten Körper erfasst und in Unruhe versetzt. Es gelang mir kaum noch, meine Gewohnheiten beizubehalten. Von Natur aus eher phlegmatisch, war ich nun von einem ungewöhnlichen Bewegungsdrang erfasst. Beim morgendlichen Training musste Christiane mich nicht mehr antreiben. Ich lief zügig vorneweg, um nur ja schnell wieder nach Hause zu kommen. Doch was ich dort tun sollte, wusste ich nicht. Ich zwang mich, meine vormittägliche Ruhephase einzuhalten. Anschließend legte ich mich wie gewohnt auf die Couch, auf der ich üblicherweise den Rest des Tages sinnierte, unter mir die weiche wollene Decke, die Christiane mehrmals am Tag aufschüttelte und wieder glatt strich. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich fand keine Ruhe. Ich war nicht in der Lage, Herkunft und Bedeutung dieses so anregenden, fremden Geruches zu entschlüsseln. Ich war unkonzentriert, mir fehlte die innere Ausgeglichenheit. Häufiger als sonst stand ich auf und ging in der Wohnung auf und ab. Oder ich stellte mich ans Fenster und sah minutenlang hinaus, obgleich dort nichts als der Himmel zu sehen war. Ich setzte mich, stand wieder auf, legte mich wieder zurück auf die Couch, kurz: ich fühlte mich äußerst unwohl. Das schlug sich auch auf meinen Appetit nieder. Ich mochte kaum noch etwas zu mir nehmen, was Christiane allerdings durchaus begrüßte. Sie verbuchte es als Erfolg unseres gemeinsamen Trainings, behauptete, wenn man sich ausreichend bewege, reguliere sich auch das natürliche Verhältnis von Hunger und Verbrauch und das eigene Wohlbefinden werde gesteigert. Bei derartigen Vorträgen konnte ich sie nur ungläubig anstarren. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass von Wohlbefinden bei mir keine Rede sein konnte. Ich war unruhig, angespannt und mittlerweile völlig erschöpft.

Und dann, eines Tages, traf ich die Quelle dieses reizvoll-beunruhigenden Geruches im Hausgang. Wir waren wie üblich auf dem Weg zu unserem Morgentraining und warteten vor dem Aufzug. Ich hatte schon zweimal geniest und setzte gerade zum dritten Mal an, als sich die Aufzugtür öffnete und ein ernstes „Guten Morgen!“ zu hören war. Christiane und ich traten ein Stück beiseite, um einen Herrn in dunkeln Halbschuhen vorbeizulassen. Ich bin nicht sehr groß und halte daher meinen Blick zumeist gesenkt. Das erste, was ich von den Menschen sehe, woran ich sie nicht selten auch erkenne, sind ihre Schuhe. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass es nicht nur Schuhe gibt, die etwas über den Charakter der Menschen aussagen, sondern auch solche, die völlig nichtssagend sind, die sich gewissermaßen neutral zu ihrem Träger verhalten. Dunkle Halbschuhe gehören dazu.
Diese Halbschuhe hatten nun einen undefinierbaren Braunton, sie gingen unter meinen Augen vorbei und es war sicherlich nur meiner morgendlichen Trägheit und meinem allgemeinen Erschöpfungszustand zu verdanken, dass ich die Wolke des aufwühlenden Geruchs, der ihnen folgte, so spät wahrnahm. Doch als ich sie wahrnahm, wurde ich schlagartig wach. Mit einem Ruck riss ich meinen Kopf hoch und sah sie gerade noch an mir vorbeistolzieren. Zwei wunderbare Wesen. Die eine war sehr groß und langbeinig, das lange blonde Haar hing ihr in die Augen, die sie lässig halb geschlossen hielt. Sie wirkte ein wenig arrogant – doch das konnte sie sich zweifellos leisten. Die andere war ein bisschen kleiner, mit ebenso langem, aber rotem Haar, das weich über ihre Ohren fiel. Beide waren sie auffällig geschmeidig und elegant im Körperbau. Sie hatten kerzengerade Nasen, die sie sehr hoch trugen und sie würdigten mich keines Blickes. Unwillkürlich drängte ich mich näher an Christiane heran, ich wollte schließlich keinen falschen Eindruck erwecken. Doch dann erfasste mich plötzlich die Scham über das ungenügende Erscheinungsbild, das ich selbst hier abgab. Nicht nur, dass ich zu kurz geraten war und nach Meinung von Christiane und Wolf zu dick, auch meine O-Beine drangen mir ins Bewusstsein und meine struppigen Borsten, in die auch die geliebten Bürstenmassagen von Christiane keinen Glanz zu bringen vermochten und die zudem mittlerweile bereits von grauen Strähnchen durchzogen waren. Hatte nicht Christiane vor einiger Zeit noch überlegt, ob sie sie nicht färben solle? Sie habe noch eine Packung Schwarz von früher, hatte sie gesagt, als sie noch häufiger die Haarfarbe gewechselt hatte, aber jetzt wolle sie sich dieses chemische Zeug nicht mehr ins Haar schmieren. Damals war ich empört darüber gewesen, dass sie mich vorbehaltlos damit vergiften würde. Jetzt, hier vor dem Aufzug, als die beiden Schönheiten an mir vorbeiglitten, wünschte ich mir so sehr, sie hätte es einfach getan. Ich bemühte mich, den beiden nicht nachzustarren, befahl mir, den Kopf nicht zu wenden, als wir den Aufzug betraten, und war nach außen hin nur eines: gleichgültig und desinteressiert. Doch natürlich war ich von ihrem Anblick und meiner Scham so überwältigt, dass ich zu niesen vergaß. Das konnte von Christiane nicht unbemerkt bleiben. Sie fragte mich, was mit mir heute los sei, doch ich konnte nicht darauf reagieren. Ich war viel zu beschäftigt damit, meine Haltung zu wahren. Der Herr in den dunkelbraunen Halbschuhen hielt die Aufzugtür noch für einen Moment offen und stellte sich vor. Er sei hier neu eingezogen mit seinen beiden Damen, sagte er, und er hoffe ja sehr, dass das keine Probleme bereite, denn die beiden hätten ja – hier lachte er kurz auf – wie man wisse, so ihre Phasen, und der da sei ja wohl... Hier lachte auch Christiane kurz auf und ich hörte sie freundlich sagen, dass das kein Problem sei, nein, ihrer sei zwar ein Rüde, ja, aber der sei kastriert und bekomme das gar nicht mit. Und dann verabschiedete sie sich von dem Herrn und sagte zu mir, wahrscheinlich um mir den letzten Rest meiner Würde zu rauben: „Komm, Donni, jetzt geh’n wir Gassi.“