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Peter Rheinhard: Nebenan 

Nebenan sitzt die Zukunft in dem alten Sessel, hat sich blöde reingefläzt wie ich selbst früher, rechtes Bein über die Armlehne in der viel zu großen Jeans, Schritt in den Knien.
Die Tür steht einen Spalt offen, nicht weit, keinen halben Meter, sieht mich aber, wenn ich vorbeikomme auf dem Weg zur Küche, schaut genau immer in dem Moment rüber, es ist zum Kotzen, immer seh’ ich diesen abfälligen Blick, der in mein Herz trifft, in die Seele, meine gottverdammte Seele, schlägt durch und will mir zeigen, dass ich ein gottverdammtes Arschloch bin. Auch wenn ich nicht hinschaun will, kann mich voll konzentrieren darauf, dass ich diesmal den Kopf nicht drehe, den Blick starr nach vorne richte.
Ich versuche, mir die Zukunft wegzudenken, balle meine Fäuste, bis es weh tut, und noch weiter, bis die Gelenke ganz weiß sind, dass mich der Schmerz ablenkt, ich nichts mehr denken muss, niemanden mehr wahrnehme, nicht mal mein eigenes Gewissen, das mich quält, meine Angst, dass ich alles kaputt gemacht habe.
Aber es langt nicht, es schmerzt zu wenig, das schaffen doch nur andere, mein Kopf dreht, etwas zerrt an mir, ich muss dich anschauen, suche deine Augen, hoffe, dass ich in deinem Blick was finden kann wie Mitleid oder Verständnis oder was weiß ich, irgendwas, dass nicht mit Ekel zu tun hat, wir sind doch beides Menschen und du hast auch nicht immer das getan, was andere für richtig halten. Dein Kopf ist abgewendet. Selbst das reicht. 
Ich muss beim Kaffeeholen auf dem Weg zur Küche hier vorbei. Der Kaffee ist das Einzige, was man hier trinken kann, sie haben Aldicola statt der Echten, Sodaclub und fettarme Milch, essen tu ich schon lang nicht mehr, aber das ist denen ja egal, mich hasst hier jeder, und sie meinen, sie hätten das Recht dazu, würden am liebsten sehn, dass ich verrecke, verhungre oder was und du, Zukunft, denkst das Gleiche, obwohl wir beide hier sitzen, würdest du mir am liebsten die Fresse zu Brei schlagen.
Es gibt nichts, was das Ganze aus meinem Hirn treibt, raus aus den Hirnwindungen oder wenigstens nur für ein paar Minuten, für Sekunden nur in den Hintergrund drängt, dass ich die Sonne, die hinterm Gitter durch die Wolken bricht schön finde, oder die Milch im Kaffee, wenn ich sie rein gieße und sie wie Wolken im Zeitraffer den Kaffee cremefarbig macht, schwerelos, oder das satte Grün vom Plastiktablett, auf dem sie das Zeug in die Küche gestellt haben, alles Geschirr in Plastik, damit so einer wie ich nicht irgendwas in die Hand bekommt, um sich umzubringen. Ich soll leiden.

Es ist wie eine Gehirnwäsche, dein Blick, eure Blicke, jede Geste gegen mich, dass sie mich allein duschen lassen, allein essen, nur diese Nachmittagsstunden im Sozialraum beim Kaffee, wir zwei Aussätzigen und doch so verschieden. Hab mich selbst verloren und meinen Standpunkt und die Tatsache, dass es schön war und das ich das Recht hatte, mein eigenes. Ich war mal stark gegen eure Regeln, unverletzlich. Weit überlegen. Habe über euch gelacht. Hattet keine Chance gegen mich! Und jetzt? Ich schäm mich. Schäme mich für das Schönste, was mir passiert ist im Leben.

Ihr habt dem Glück doch alle nachgeschaut! Alle habt ihr dem Glück auf den Arsch geglotzt, in den Ausschnitt, die jungen, vollen Brüste, den Bauch unter dem zu knappen Top, habt gehofft, dass ihr Blick euch auswählt, wenn sie den Kopf vom Fenster weggedreht hat!

Das Glück saß immer rum, unten im Gastraum, war schön zurecht gemacht, weiße taillierte Bluse, dunkler Rock, knielange Strümpfe, sauber gekämmt das hellblonde Haar, seidenweich bis zu den Schultern, saß auf dem blau gepolsterten Sessel und hatte einen irre glasigen Blick, wenn es zum Fenster raus träumte.
Dann ist sie plötzlich aufgesprungen und hat getanzt, weil ihr Lied im Radio lief oder jemand kam, den sie mochte oder der lustige Spitz vom Nachbarn in der Tür stand und heiser gekläfft hat. Oder sie hat mit den Fingern die Tropfen vom Schlagregen verfolgt, wie sie die Fenster nach unten rannen und behauptet, dass sie Geschichten schreiben würden, die so schön wären, dass alle glücklich werden könnten.
Oder sie hat Stunden gelesen, stundenlang. Ohne einmal vom Buch aufzuschauen, nicht einmal und ich konnte jeden Pixel ihres Engelsgesichts aufnehmen in mich. Und viel später flüstert sie mir ins Ohr, dass sie mich auch mag.

Das Glück war das Schönste, was ich gehabt habe, es war so schön und so zart und so jung und zerbrechlich und die Verzweiflung hätte das nie zugelassen, hätte mich umgebracht, wenn sie gewusst hätte, wenn sie nur geahnt hätte, aber es hat wenig schöne Dinge gegeben, die die Verzweiflung zugelassen hat. Ich weiß nicht, was ihr überhaupt Spaß gemacht hat, oder wann sie aufgehört hat, Spaß zu haben.
Wie eine alte Katze ist die Verzweiflung durch die Zimmer geschlichen, abweisend und mit sich beschäftigt und den Dingen, die hässlich waren. Alles, was man musste, nicht durfte, was passieren konnte, was die Nachbarn dachten oder die Kollegen gesagt haben. Ich hab die Verzweiflung geheiratet, um immer beim Glück sein zu können.

Dann kamen die anderen. Ich habe das Glück sitzen lassen müssen, drin im Sessel am Fenster mit den verschreckten Augen, durfte gar nichts mitnehmen, außerdem wollten sie nur ein paar Fragen stellen, nur ein paar Fragen haben sie gesagt mit ihren gepressten Stimmen, das war gelogen und ich wusste das schon vorher, wusste das, als sie in die Stube gekommen sind, schon beim Klopfen, dass sich das Leben ändern würde für mich und das Glück und auch für die Verzweiflung, habe die festen Stiefel auf den Dielen im Flur gehört, und das schlurfen der Pantoffel von der Verzweiflung, die grimmig die Tür geöffnet hat.

Wir ham uns nicht mehr getroffen, seit ich hier bin, ich les nur, was sie in der Zeitung sagen über uns, über mich, über das Glück, und das Glück hat mich hier auch nicht besucht, wie kann es auch herkommen, wo ich und was wir getan haben schlecht ist und falsch und alle wissen, dass ich verdreht sein muss und krank.

Die Zukunft und all die anderen, was wissen die schon, meinen, sich ein Urteil bilden zu können, eine Herde Schafe, die ein Dackel jagen kann und jetzt Zukunft, jetzt stehst du ganz vorn mit dran, weil die anderen ein schwarzes Schaf entdeckt haben, mitten unter sich, das haben sie jetzt an die Wand gedrängt, ein schwarzes Schaf und die bist ganz vorn mit dabei und blökst mich an und willst mich verrecken sehn.

Es gibt nichts, was ich bereue seit ich das Glück kenne. Nichts. Nur vorher. Vielleicht hätt ich ohne das Glück mein Leben zu Ende gelebt, wie die anderen auch. Mit einem Mal öffnen sich die Augen. Mit einem Mal musst du merken, dass alles anders ist, als du gedacht hast, dass du es falsch gemacht hast, weil’s alle falsch machen. Das es schöner sein kann. Noch einmal jung müsst ich sein, mit dem, was ich jetzt weiß.
Meine Jugend bräucht ich zurück, um das Glück lieben zu dürfen. Und darum beneid’ ich dich, Zukunft, um diese dreißig Jahre beneide ich dich, diese dreißig Jahre, die du gut hast, wenn ich sie hätte, ich säße nicht hier, ich hätte das Glück und die Liebe und das Leben und alle würden akzeptieren, dass ich liebe.

Ich hab nicht gewusst, wie es ist, weil mir das niemand gesagt hat, ich hab’s einfach nicht gewusst, das es ein Kampf ist, ein Kampf gegen die Zeit, gegen das langsame Sterben, Zukunft, ich hab’s nicht gewusst weil mir nie, niemals, nie jemand was gesagt hat, weil mir niemand nur einmal die Wahrheit gesagt hat, die Wahrheit über das Ende, darüber, das alle zu Ende geht, schneller als einem lieb ist, alles zu Ende und dann kannst du den Anderen nur noch zuschauen, weil du raus bist aus dem Spiel,
weil du nur noch ausläufst, weil deine Beschleunigung negativ ist, du schon längst langsamer wirst, hast du gehört, langsamer, obwohl du denkst, was, meine Pumpe, die läuft doch noch, bin einmal die Woche beim Fußball und nicht mal schlecht, bin einer von  denen mit Kondition und Technik und Taktik, nein, du bist am verlangsamen, schon längst, oder hast du nicht bemerkt, dass die Blicke aufgehört haben, ja, die haben schon aufgehört, haben schon längst aufgehört, niemand interessiert sich mehr für dich und in gleichem Maß hörst du auf, dich für das Leben zu interessieren.
Das geht schleichend und du wirst es nicht merken, wirst nicht merken wie der Spaß langsam aufhört, und die Pflicht und die Angst und der Alltag haben dich im Griff und die Freunde werden zu Menschen, die dir immer das Gleiche erzählen und alle lassen sich fangen und hören auf zu erleben, zu leben, zu atmen. Sterben halt.

Und dann kommt da plötzlich das Glück zu dir, schaut dich an und liebt das Leben und die Sonne und wie die Blätter im Wind tanzen und das ein Hund mit einem Ball spielt und wenn du es beim Namen rufst auch, das Glück. Und es zeigt dir eine Welt, die vergessen ist, von der du vergessen hast, dass es sie gibt, diese Welt, die Spaß macht aber dir auch ungeheuer ist, weil immer alles neu ist und nichts sicher, aber du siehst die Schmetterlinge wieder. Es kennt das erwachsene Leben nicht, das Glück, und deswegen geht es mit soviel Freude auf das Leben zu, ganz aufrichtig und offen und ehrlich.

Zwei Stunden am Tag, die man raus muss, zwei Stunden raus aus dem Acht-Quadratmeter-Rechteck, in das sie dich pferchen, zwei Stunden in denen du raus musst, weil irgendeine Kopfgeburt meint, dass das gut für dich ist, weil du das Soziale bräuchtest und Menschen, mit denen man reden kann, auch wenn dich keiner versteht, weil ich und du, Zukunft, wir sprechen zwei Sprachen, wir sind Feinde, aber das kapieren die Seelenklempner nicht, weil sie nichts kapieren, aber mir ist es egal, dass du dich für was Besseres hältst, das ist mir wirklich egal, und die Anderen sich auch und sie froh sind, dass es noch jemanden gibt, den man treten kann, um das eigene Unglück zu vergessen.

Aber es gibt Kaffee, den man trinken kann und das erinnert mich an das Glück, weil es keinen Kaffee gemocht hat, bevor es mich gekannt hat, nach Milch roch es, das Glück, nach Milch und nach Honig, wirklich, und die stillen Augen haben zwischen grün und braun gewechselt mit der Sonne, mit dem Licht.

Zuerst hat es keinen Kaffee gemocht, das Glück, aber es hat mich geküsst, am Morgen, als es auf meinem Schoss saß, hat mich geküsst nach meinem ersten Schluck, hat sich zurückgelehnt, hat mir in die Augen gelacht. ‚Du schmeckst nach Kaffee’, hat das Glück gesagt, und hat mich wieder geküsst, an meinen Lippen gesaugt hat es, hat sich an mich geschmiegt, hat meinen Schwanz gespürt, wie er voll Blut läuft und hat sich noch mehr an mich geschmiegt, sich an meinen Lippen festgesaugt, dann mein Hose aufgemacht, schneller als jede andere, schneller als ich, das Nachthemd nach oben gezogen und schon war ich in ihr.
Dann sie auf dem Frühstückstisch, die Marmeladen fallen, die Butter, das schöne Geschirr fällt und klappert und klirrt und sie schreit und ich keuche und es gab noch nie Schöneres auf der Welt während die Verzweiflung am Markt nicht das bekommt, was sie für das Mittagessen sucht.

Ich hab das so nicht gekannt, hab es einfach nicht gekannt, das war anders vorher bei mir, nie so, alles zu kompliziert, und jetzt ist es halt passiert, ist immer einfach passiert. Vielleicht war es nur lang her, einfach sehr lang her, vielleicht hab ich’s einfach nur vergessen.
Das Glück ist dann aufgestanden und in die Schule oder zu den Freundinnen und mir hat die Arbeit am Hof wieder Spaß gemacht, weil ich alles schöner machen wollte und besser, damit es zu ihr passt und zu diesem Leben, das so leicht sein kann und unbeschwert und ... glücklich.

Kaputtes Leben, sagen die Anderen, kaputt. Mein Leben ist nicht kaputt. Es ist zu Ende.